2. Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkische Neuordnung
3. Imperiale Politik?
Standbild aus der UFA-Tonwoche Nr. 475, 11.10.1939
Als Hitler am 6. Oktober 1939 seine Rede im Reichstag hielt,1 war der Angriffskrieg gegen Polen bereits zu Ende. Am 27. September hatten die Verteidiger Warschaus kapituliert, nachdem die deutsche Luftwaffe und Artillerie die polnische Hauptstadt nahezu verwüstet hatten. Einen Tag später vollzog der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag die Aufteilung Polens, die bereits im geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August beschlossen worden war. Der 1919 errichtete polnische Staat war zerschlagen worden - zum vierten Mal in der polnischen Geschichte.2
Hitlers Rede, die von der nationalsozialistischen Presse als „große Friedensrede“ aufgemacht wurde und auch in der Forschung lange Zeit unter diesem Aspekt behandelt worden ist,3 markiert einen Einschnitt: In ihr wurde öffentlich erkennbar, dass es dem NS-Regime nicht um die Revision des Versailler Vertrages, sondern um eine völkisch-rassistische Neuordnungspolitik in Europa ging. Im Folgenden soll der politische Kontext der Rede ausgeleuchtet werden (1.), insbesondere ihr Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker (2.). Schließlich ist der grundsätzlicheren Frage nachzugehen, ob diese Politik als imperial charakterisiert werden kann (3.).
Auch wenn in der Rede vom 6. Oktober 1939 noch einmal von einem polnischen Staat die Rede ist, fällt in diese Zeit die Ausformulierung einer nationalsozialistischen Politik, die eine tiefgreifende völkische Neuordnung Europas intendierte. Während die Außenpolitiker der Weimarer Republik von der äußersten Rechten bis hin zur Sozialdemokratie stets offen am Ziel einer Revision der deutsch-polnischen Grenze festgehalten hatten, strebte Hitler nach der Machtübernahme 1933 überraschend eine Annäherung an Polen an, die im Januar 1934 zu einem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt führte. Seine „Lebensraum“-Vorstellungen hatte er damit jedoch keineswegs aufgegeben. „Das erste Recht auf dieser Welt“, so hatte er in seinen unveröffentlichten außenpolitischen Aufzeichnungen von 1928 geschrieben, „ist das Recht auf Leben, sofern man die Kraft hiezu besitzt. Ein kraftvolles Volk aber wird damit aus diesem Recht stets die Wege finden, seinen Boden seiner Volkszahl anzupassen.“4 Gegenüber Polen und Tschechien hatte Hitler eine ganz andere „Germanisierungspolitik“ im Sinn als Preußen. Die nationalsozialistische Bewegung kenne „kein Germanisieren oder Deutschisieren, wie dies beim nationalen Bürgertum der Fall ist, sondern nur eine Ausbreitung des eigenen Volkes. Sie wird im unterworfenen, sogenannten germanisierten Tschechen oder Polen niemals eine nationale oder gar völkische Stärkung erblicken, sondern eine rassische Schwächung unseres Volkes.“ Ein völkischer Staat dürfe daher „unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen“, sondern müsse die Polen „kurzerhand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen“.5
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Für das Ziel einer Eroberung von „Lebensraum“ in Russland sollte Polen in Hitlers Perspektive die Rolle eines willfährigen Gehilfen spielen.6 In dem Moment jedoch, als sich die polnische Regierung 1938 nicht den deutschen Wünschen fügte und in ein Kriegsbündnis gegen die Sowjetunion einbinden ließ, wechselte die deutsche Politik gegen Polen ebenso abrupt, wie sie 1933 umgeschwenkt war. Nachdem die polnische Regierung im März 1939 mehrere Male zu verstehen gegeben hatte, dass sie den deutschen Forderungen nicht nachgeben werde, erteilte Hitler am 11. April die Weisung zur Vorbereitung des Krieges gegen Polen. Zwei Wochen später kündigte Hitler sowohl das deutsch-britische Flottenabkommen als auch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt aus dem Jahr 1934.7
Während Außenminister Ribbentrop in Moskau den Nichtangriffspakt schloss, der den Weg zum Krieg freimachte, erläuterte Hitler den Befehlshabern der Wehrmacht auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 ausführlich seine Vorstellungen zum bevorstehenden Krieg gegen Polen: „Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. [...] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill. Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“8 Seit Beginn des Krieges gegen Polen führten Milizen der volksdeutschen Minderheit, SS-Einsatzgruppen und Polizeiverbände wie auch Einheiten der Wehrmacht einen mörderischen Kampf gegen die polnische Zivilbevölkerung, insbesondere gegen die Angehörigen der polnischen Intelligenz.9
Am 29. September zeichnete Hitler Rosenberg gegenüber ein unmissverständliches rassistisches Bild: „Die Polen: eine dünne germanische Schicht, unten ein furchtbares Material. Die Juden, das Grauenhafteste, was man sich überhaupt vorstellen könne [...]“. Er teilte das besetzte polnische Territorium in drei Gebiete auf: „1. Zwischen Weichsel und Bug: das gesamte Judentum (auch a.d. Reich), sowie alle irgendwie unzuverlässigen Elemente. An der Weichsel einen unbezwingbaren Ostwall - noch stärker als im Westen. 2. An der bisherigen Grenze ein breiter Gürtel der Germanisierung und Kolonisierung. Hier käme eine große Aufgabe für das gesamte deutsche Volk: eine deutsche Kornkammer schaffen, starkes Bauerntum, gute Deutsche aus aller Welt umzusiedeln. 3. Dazwischen eine polnische ‚Staatlichkeit‘. Ob nach Jahrzehnten der Siedlungsgürtel vorgeschoben werden kann, muß die Zukunft erweisen.“10
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2. Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkische Neuordnung
In der Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 brachte Hitler die völkische „Lebensraum“-Politik als Kernstück seiner Kriegsziele zur Sprache. Nach Lobeshymnen auf den deutschen Sieg und den Kampferfolg der Wehrmacht kam er auf den zerschlagenen Staat Polen und die Gründe „dieses geschichtlich einmaligen Zusammenbruchs eines sogenannten Staatswesens“ zu sprechen. Ansatzpunkt der Kritik Hitlers war nicht nur der Versailler Friedensvertrag, sondern auch die Ostpolitik der Obersten Heeresleitung des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. „Was vorher schon in Jahrhunderten seine Lebensunfähigkeit erwiesen hatte, wurde durch eine ebenso lebensunfähige, wirklichkeitsfremde deutsche Staatsführung erst im Jahre 1916 künstlich gezeugt und 1920 nicht weniger künstlich geboren.“ Die polnische Führung habe Gebiete wie zum Beispiel in Ostpreußen beansprucht, in denen die Polen eine Minderheit darstellten. Die nichtpolnischen Völker seien unterdrückt worden, und die einst blühenden ehemaligen preußischen und österreichischen Provinzen, die Polen 1919 übernommen habe, seien im Begriff, „wieder zu versteppen“. Als Schreckensszenario von Mord, Vertreibung und Vergewaltigung schilderte Hitler die angebliche Gewaltpolitik gegen die deutsche Minderheit seit dem März 1939, um den Polen „Grausamkeit und moralische Zügellosigkeit“ als Charaktereigenschaften zu unterstellen und ihnen die Zugehörigkeit zu den „kulturellen Nationen“ überhaupt abzusprechen.
Die Aufgaben, die sich dem Deutschen Reich durch den „Zerfall des polnischen Staates“ stellten, bestünden in der „Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen, ethnographischen und wirtschaftlichen Gegebenheit gerecht wird“, in der „Befriedung des gesamten Gebiets“, der „Gewährleistung der Sicherheit“ und dem Neuaufbau von Wirtschaft und Verkehr. „Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten so, daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennlinien ergeben, als es heute der Fall ist.“ Eine solche Aufgabe greife aber weit über Polen hinaus. Der ganze Osten und Südosten Europas sei „mit nichthaltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt“, die nun rückgesiedelt werden sollten. „Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne.“ Was hier vornehmlich auf die volksdeutschen Minoritäten bezogen zu sein scheint, beinhaltet in Wirklichkeit ein umfassendes völkisch-rassisches Neuordnungskonzept, das mittels Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für „arische“ Deutsche schaffen sollte. In einer kurz darauf folgenden Passage der Rede sprach Hitler dann konsequent nicht mehr nur von der „Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten“, sondern auch von einer „Ordnung und Regelung des jüdischen Problems“.
Hitlers Politik der ethnischen Säuberungen als „Friedensordnung“ wendete ein Konzept ins Destruktive, das nach dem Zusammenbruch der drei Großreiche Rußland, Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reiches als Folge des Ersten Weltkrieges eine hoffnungsträchtige Formel gewesen war: das Selbstbestimmungsrecht der Völker.11 Die Forderung nach nationaler Eigenstaatlichkeit hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr an politischem Gewicht gewonnen, nicht zuletzt bei den unter der Teilung ihres Landes leidenden Polen. 1918 forderte der amerikanische Präsident Wilson, dass in einer künftigen europäischen Friedensordnung alle territorialen Regelungen auf der Grundlage der freien Entscheidung der jeweils betroffenen Völker getroffen werden müssten. Während Wilson darunter in erster Linie das Recht auf demokratische Selbstregierung verstand, verwandelte sich die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker rasch in eine Forderung nach nationalstaatlicher Unabhängigkeit.12 Gerade die Verlierer des Ersten Weltkrieges und insbesondere die Nationalsozialisten nutzten die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht, um eine Revision der Nachkriegsgrenzen zu begründen.13 Dabei kam den Nationalsozialisten der Bezug auf das Volk als Subjekt wie Gegenstand von Selbstbestimmung entgegen, waren sie es doch, die in Abgrenzung vom konservativen Etatismus das Volk in den Mittelpunkt ihrer Politik stellten. „Im allgemeinen“, hatte Hitler programmatisch formuliert, „soll aber nie vergessen werden, daß nicht die Erhaltung eines Staates oder gar die einer Regierung höchster Zweck des Daseins der Menschen ist, sondern die Bewahrung ihrer Art.“14
Damit standen die Nationalsozialisten keineswegs allein; der Paradigmenwechsel vom Staat zum Volk lässt sich in nahezu allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen nachweisen, obgleich die spezifisch rassenbiologisch-völkische Orientierung keineswegs einhellig geteilt wurde. Doch ist unschwer zu erkennen, welche politische Sprengkraft für die europäischen Staatsgrenzen selbst eine historiographische Diskussion um deutschen „Kulturboden“ in Osteuropa besaß, wenn statt Staaten nunmehr Volkstum im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stand. Mit der Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker ließen sich zudem Neuordnungspläne begründen, die auf ethnische Homogenität zielten und damit stets auch Vertreibungen von Minderheiten bedeuteten.
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Hitlers Rede vom 6. Oktober 1939 verließ den zuvor vertretenen außenpolitischen Rahmen, der stets als Revision des Versailler Vertrages begründet worden war; sie ließ auch die klassische europäische Machtpolitik hinter sich, die unter Staaten durch Diplomatie oder durch Krieg betrieben worden ist. „Weder das deutsche Volk noch ich sind auf den Versailler Vertrag vereidigt worden“, so Hitler in seiner Rede, „sondern ich bin vereidigt auf das Wohl meines Volkes, dessen Beauftragter ich bin.“ Die völkischen Neuordnungen der Nationalsozialisten hatten keine Karte von Staaten mehr im Blick, sondern von Völkern und Volksgruppen, die rassenbiologisch bewertet und dementsprechend in ihrer Existenzberechtigung und „Nutzbarmachung“ für das deutsche „Herrenvolk“ hierarchisch eingestuft wurden. Die nationalsozialistische Politik im Osten kennzeichneten flexible, verschiebbare Grenzen, ausdehnbare Siedlungszonen, abgestufte Herrschaftsstrukturen, ein - wie Herfried Münkler als imperiales Kriterium formuliert hat - „vom Zentrum zur Peripherie verlaufendes Integrationsgefälle, dem zumeist eine abnehmende Rechtsbindung und geringer werdende Möglichkeiten korrespondieren, die Politik des Zentrums mitzubestimmen“.15 Östlich der annektierten westpolnischen Gebiete reihten sich im Laufe des Krieges das so genannte Generalgouvernement, ein von Deutschland beherrschtes und terrorisiertes Ausbeutungsgebiet, dann die Reichskommissariate Ostland und Ukraine als Reservoir für Lebensmittel, Rohstoffe und menschliche Arbeitskraft. Geplant waren noch die Reichskommissariate Moskowien und Kaukasus, dahinter eine offene Kampfzone gegen die Reste der sowjetischen Völker.
Europa, so Hitler, sei kein geographischer, sondern ein „blutsmäßig bedingter Begriff“.16 Auf diesem Konzept basierte die Radikalität der völkisch-rassistischen Politik, die die Praxis anderer europäischer Mächte bei weitem übertraf.17 Auf dem Höhepunkt deutscher Siegeszuversicht im Juli 1941 formulierte die NS-Führung ihre Pläne für die besetzten sowjetischen Gebiete ohne jede Zurückhaltung: „Grundsätzlich kommt es also darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerteilen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können.“ Der Partisanenkrieg gebe „die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt. [...] Nie darf erlaubt werden, daß ein Anderer Waffen trägt, als der Deutsche!“ Von der englischen Imperialherrschaft in Indien könne man lernen: „Immer muß der Soldat das Regime sicherstellen!“18
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Wiederholt kam Hitler in seinen Monologen im Hauptquartier auf Indien und die britische Kolonialmacht zu sprechen, die er dafür bewunderte, dass sie - in seiner rassistischen Wahrnehmung - mit nur wenigen Soldaten ein riesiges Gebiet beherrschte, die einheimische Bevölkerung sich selbst überlasse und Indien zu Englands Gunsten rücksichtslos ausbeute.19 Wenn umgekehrt England in Indien scheitere, so liege das ganz allein daran, dass es nicht mehr die Kraft habe, wie ein Eroberervolk zu herrschen.20 „Was für England Indien ist, wird für uns der Ostraum sein.“21 Hundert Millionen „germanische Menschen“ sollten in den kommenden zehn Jahren die eroberten Gebiete besiedeln, der „Reichsbauer“ in „hervorragend schönen Siedlungen hausen. Die deutschen Stellen und Behörden sollen wunderbare Gebäulichkeiten [sic] haben, die Gouverneure Paläste. Um die Dienststellen herum baut sich an, was der Aufrechterhaltung des Lebens dient. Und um die Stadt wird auf 30 bis 40 Kilometer ein Ring gelegt von schönen Dörfern, durch die besten Straßen verbunden. Was dann kommt, ist die andere Welt, in der wir die Russen leben lassen wollen, wie sie es wünschen. Nur, daß wir sie beherrschen.“22
Einen Tag nach seiner Rede vom 6. Oktober 1939 beauftragte Hitler Heinrich Himmler mit der „Festigung deutschen Volkstums“, was nicht nur die „Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung“ meinte, sondern auch „die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solch volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuteten“.23 Im „Generalplan Ost“, den das Reichssicherheitshauptamt in der zweiten Jahreshälfte 1941 erarbeitete, war von 45 Millionen so genannten „Fremdvölkischen“ in den eroberten sowjetischen Gebieten die Rede, von denen 31 Millionen Menschen „ausgesiedelt“, d.h. nach Sibirien deportiert oder ermordet werden sollten!24
Hitlers Rede vom 6. Oktober 1939 zeigte öffentlich die Abkehr von einer nationalstaatlich orientierten Macht- und Revisionspolitik an und verwies auf eine völkische Orientierung, die die Staatenordnung Europas radikal in Frage stellte. Nicht Staaten, sondern Völker sollten die topographische Grundlage des „Neuen Europa“ bilden - Völker, denen keinerlei Selbstbestimmungsrecht zugestanden wurde, die vielmehr in eine rassistisch hierarchisierte und ethnisch homogenisierte Neuordnung gezwungen werden sollten. Die nationalsozialistische Vision von einem agrarischen „Garten Eden“ im Osten, der als Rohstoffreservoir (wobei die dort lebenden Menschen gleichfalls als Rohstoff betrachtet wurden) wie als Absatzgebiet für einfache Dinge des täglichen Bedarfs dienen sollte, besaß keinerlei „Zivilisierungsmission“ (Jürgen Osterhammel) oder rassische Meliorationsabsichten. Es war ein rückständiges malthusianisches Raub- und Ausbeutungsprogramm zum ausschließlichen Nutzen der „Herrenrasse“, das mit äußerster Brutalität durchgesetzt werden sollte.
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Ob das „Großgermanische Reich“ je hätte verwirklicht werden können, lässt sich nicht belegen, weil die Zeit des NS-Regimes glücklicherweise zu kurz bemessen war.25 So muss auch die Frage offen bleiben, ob der Alltag der Besatzungsherrschaft die Nationalsozialisten langfristig gezwungen hätte, ihr radikales Programm aufzugeben. Die rassistische Generallinie nationalsozialistischer Politik in den besetzten Gebieten Osteuropas und der Sowjetunion gab von vornherein eine starre, weil „blutsmäßig“ bedingte Hierarchie vor, deren pragmatische, an imperialen Machtinteressen orientierte Flexibilisierung per definitionem ausgeschlossen war. Anders als beispielsweise britische Rassisten, die es als schwere Last des „weißen Mannes“ ansahen, die Welt zu zivilisieren, besaßen die Nationalsozialisten nur die Perspektive des Kolonisierens und Unterwerfens. Die Ermordung der europäischen Juden, die Genozide an Roma, Sinti und anderen Volksgruppen zeigen, zu welcher Konsequenz diese völkisch-rassistische Konzeption in der Lage war. Obwohl demnach alle Kriterien dagegen sprechen, die kurze Zeit der NS-Herrschaft in Europa als Imperium zu bezeichnen, stellt die Auseinandersetzung mit ihrer ungeheuren Destruktivität dennoch eine notwendige Dimension in der Debatte über einen „imperial turn“ in der Historiographie dar, um nicht nur die Ordnungs-, sondern auch die Zerstörungsmacht im Blick zu behalten.
1 Der Text der gut einstündigen Rede wurde in den Reichstagsprotokollen veröffentlicht (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460: 1939, Berlin 1939, S. 51-63) und ist online verfügbar unter URL: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_n4_bsb00000613_00052.html. Die Redezitate im vorliegenden Beitrag folgen dieser Fassung. Eine wissenschaftliche Edition von Hitler-Reden der Jahre 1933-1945 ist ein dringendes Desiderat. Vgl. Wolfram Pyta, Die Hitler-Edition des Instituts für Zeitgeschichte, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 381-394, hier S. 394.
2 Vgl. Horst Rohde, Der Verlauf des Polenfeldzuges vom 1. September bis 6. Oktober 1939, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 2: Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 111-135.
3 Zur Einordnung dieser Rede in der Forschung vgl. Alan Bullock, Hitler. Biographie 1889-1945, Düsseldorf 1967, S. 540; Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1973, S. 847f.; Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1933-1945. Kalkül oder Dogma?, 5. Aufl. Stuttgart 1990, S. 96; Ian Kershaw, Hitler. 1936-1945, Stuttgart 2000, S. 332; Rainer F. Schmidt, Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933-1939, Stuttgart 2002, S. 427. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellte die völkischen Neuordnungspläne, die in dieser Rede zur Sprache kommen, dagegen Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a.M. 1995, S. 36ff.
4 Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 55; vgl. dazu das Kapitel „Die Eroberung von Raum“ bei Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, erw. u. überarb. Neuausg. Stuttgart 1991, S. 29-54. Nach wie vor wichtig ist auch Andreas Hillgruber, Die „Endlösung“ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rasseideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), S. 133-153.
5 Hitlers zweites Buch (Anm. 4), S. 79, S. 81. Siehe auch die entsprechenden Passagen bei Adolf Hitler, Mein Kampf, 349.-351. Aufl. München 1938, S. 428ff.
6 Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Stuttgart 1961, S. 9-13; Hermann Graml, Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München 1990, S. 184-198; vgl. übergreifend auch Gottfried Niedhart, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2., aktualis. Auflage München 2006.
7 Vgl. als informativen Überblick: Beate Kosmala, Der deutsche Überfall auf Polen. Vorgeschichte und Kampfhandlungen, in: Włodzimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hg.), Deutsch-polnische Beziehungen 1939 - 1945 - 1949, Osnabrück 2000, S. 19-41.
8 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Serie D: 1937-1941, Bd. 7: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch. 9. August bis 3. September 1939, Baden-Baden 1956, S. 172; vgl. Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers am 22. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 120-149.
9 Vgl. dazu neuerdings Klaus-Michael Mallmann/Bogdan Musial (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939-1941, Darmstadt 2004; Alexander B. Rossino, Hitler Strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas 2003; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 419-485.
10 Zit. nach Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik (Anm. 6), S. 19.
11 Aus der Fülle der Literatur siehe Wolfgang Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Paderborn 1973; Antonia Cassesse, Self-Determination of Peoples. A Legal Reappraisal, Cambridge 1995; Erich Reiter (Hg), Grenzen des Selbstbestimmungsrechts. Die Neuordnung Europas und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Graz 1996; Joshua Castellino, International Law and Self-Determination. The Interplay of the Politics of Territorial Possession with Formulation of Post-Colonial ‚National Identity‘ , The Hague 2000.
12 Zu den terminologischen Aporien des Selbstbestimmungsrechts siehe Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht - Opium für die Völker, in: Reiter, Grenzen des Selbstbestimmungsrechts (Anm. 11), S. 11-33.
13 Instruktive historische Abrisse über die europäischen Konflikte im 20. Jahrhundert, die aus der Forderung eines Selbstbestimmungsrechts resultierten, geben Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt a.M. 2000, S. 79-134, und Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 69-116.
14 Hitler, Mein Kampf (Anm. 5), S. 104.
15 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 17.
16 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, vollst. überarb. u. erw. Neuausg. Stuttgart 1977, S. 69 (8./9.9.1941).
17 Zu Recht hält Dirk van Laak in seiner Studie über den deutschen Imperialismus fest, dass die nationalsozialistische „Lebensraum“-Politik ein „umfassendes Vorhaben der Enteignung, Umverteilung und Neuordnung von Raum, Ressourcen und Menschen“ darstellte, das „in dieser - schon im Planungsstadium entschieden ‚rücksichtslosen‘ - Form ohne historisches Beispiel war“ (Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 147). Es seien „alle Selbstzweifel zerstreut“ gewesen, „die den klassischen Imperialismus noch begleitet hatten“ (ebd., S. 182).
18 Vermerk Bormanns über eine Besprechung Hitlers mit Rosenberg, Lammers, Keitel und Göring am 16. Juli 1941, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 38, Nürnberg 1949, S. 86-94 (221-L).
19 Siehe die zahlreichen Hinweise in: Picker, Hitlers Tischgespräche (Anm. 16); Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, hg. von Werner Jochmann, Hamburg 1980. Schon 1937 erklärte Hitler vor der politischen Nachwuchselite der NSDAP auf der Ordensburg in Sonthofen: Wenn man sich den „weißen Imperien“ zuwende, so erkenne man „die erstaunliche Tatsache: daß all diese Riesengebilde von zum Teil fast unnatürlich kleinen weißen Rassekernen gehalten werden“ (Picker, Hitlers Tischgespräche [Anm. 16], S. 481).
20 Picker, Hitlers Tischgespräche (Anm. 16), S. 256 (23.4.1942).
21 Ebd., S. 69 (8./9.9.1941).
22 Ebd. Die Verbindung von Germanisierungs- und Vernichtungspolitik zeigt Sybille Steinbacher in ihrer exzellenten Studie „Musterstadt“ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000.
23 Erlass Hitlers zur Festigung deutschen Volkstums, 7.10.1939, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 26, Nürnberg 1947, S. 255ff. (686-PS).
24 Vgl. dazu Mechtild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940-1944, Basel 1993; Czesław Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994; Ingo Haar, Der „Generalplan Ost“ als Forschungsproblem: Wissenslücken und Perspektiven, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 362-368.
25 Weil eine bestimmte zeitliche Dauer vorhanden sein müsse, scheidet Herfried Münkler das NS-Regime aus seiner Untersuchung aus (Münkler, Imperien [Anm. 15], S. 22).