1/2017: Offenes Heft

Aufsätze | Articles

In der Bundesrepublik entfaltete sich Ende der 1970er-Jahre eine engagierte Hilfe für Flüchtlinge aus Vietnam. Während Westdeutschland bis dahin kaum außereuropäische Flüchtlinge aufgenommen hatte, fanden nun mehrere zehntausend »Boat People« Schutz als »Kontingentflüchtlinge«, die im Meer gerettet und aus Lagern eingeflogen wurden. Der Aufsatz analysiert, welche Rolle dabei zivilgesellschaftliche Gruppen, politische Parteien, Medien und Bürokratie spielten. Anfangs bewegte vor allem öffentlicher und internationaler Druck die sozialliberale Regierung zur Aufnahme der Indochina-Flüchtlinge; später ergänzten sich zivilgesellschaftliches und staatliches Handeln aber wechselseitig. Der öffentliche Druck entstand insbesondere durch mediale Kampagnen und durch christdemokratische Initiativen, die entschieden für die Aufnahme der Flüchtlinge eintraten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass die »Boat People« diskursiv mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden wurden. Gezeigt wird, wie Techniken der Flüchtlingsaufnahme und neue Formen humanitärer Hilfe entstanden, die sich als zivilgesellschaftlicher und bürokratischer Wandel interpretieren lassen. Gebremst wurde dieses Engagement schließlich durch das Aufkommen ausländerfeindlicher Stimmen Anfang der 1980er-Jahre.

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Refugees Welcome?
The West German Reception of Vietnamese ›Boat People‹

In the late 1970s, the Federal Republic of Germany witnessed a period of committed public outreach for Vietnamese refugees. While West Germany had not accepted significant numbers of non-European refugees before then, now tens of thousands of ›Boat People‹ rescued from the sea or flown out of camps found shelter as ›quota refugees‹. This article analyses the role civil society groups and political parties, media, and bureaucracy played in this. It shows that it was initially increasing public and international pressure that persuaded the social-liberal administration to accept refugees from Indochina, and that the concurrence of civic and state action subsequently reinforced the decision. Public pressure was created in large part by media campaigns and initiatives by Christian Democrats, who took a decisive stand in favour of taking in the refugees. A critical factor here was that the ›Boat People‹ were connected discursively with German post-war history. The article shows how refugee admission methods and new forms of humanitarian aid developed, both of which can be interpreted as civic and bureaucratic change. Rising xenophobia in the early 1980s eventually curbed this support.

Zu Beginn der 1980er-Jahre griffen Hunderte von Männern und Frauen in vielen westdeutschen und westeuropäischen Städten zu einem ungewöhnlichen Mittel, um gegen ihre Wohnsituation und die Wohnungspolitik zu protestieren: Sie begannen, leerstehende Häuser eigenhändig und öffentlichkeitswirksam zu renovieren, die sie vorher besetzt hatten. Am besonders markanten West-Berliner Fall untersucht der Beitrag diese »Instandbesetzer« (so schon die zeitgenössische Selbstbezeichnung) als »Heimwerker aus Protest« und fragt nach der Funktion der handwerklichen Praxis im Häuserkampf der 1980er-Jahre. Die Selbsthilfe der Instandbesetzer machte auf Missstände aufmerksam und demonstrierte zugleich Lösungswege. Die sichtbaren oder zumindest angekündigten Veränderungen der baulichen Umwelt zwangen Politik, Öffentlichkeit und Fachleute, sich sowohl mit allgemeinen Fragen der Wohnungspolitik als auch mit dem konkreten Ansatz der Selbsthilfe auseinanderzusetzen. Sie wirkten wie ein Katalysator bei der Neujustierung einer Wohnungspolitik, die die handwerkliche Selbsthilfe in das städteplanerische Instrumentarium einbaute, ihr damit aber gleichzeitig das Protestpotential nahm.

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DIY Home Improvement as a Form of Protest. Squatting and Housing Policy in West Berlin in the 1980s

In the early 1980s, hundreds of men and women in many West German and West European cities resorted to a rather unusual form of protest. In order to express their dissatisfaction with the local housing situation and policies, they occupied empty apartment buildings and, under the eyes of an astonished public, began renovating them themselves. Focusing on West Berlin as the most prominent case, this article interprets the performance of DIY home improvement tasks in occupied buildings (Instandbesetzer, as they called themselves) as a form of protest, thus drawing attention to the manual work done by squatters and its impact on the housing policies of the 1980s. The DIY measures undertaken publicly by the squatters drew attention to serious political and social shortcomings while at the same time demonstrating possible solutions. The visible (or at least announced) transformation of the built environment forced politicians, the public, and experts alike to discuss both housing policy in general and the idea of self-help as suggested by the squatters. Squatters thus accelerated the readjustment of a housing policy which now incorporated manual self-help by tenants into West Berlin’s city planning, but by the same token also undermined the potential for protest and provocation of such practices.

Seit 1950 bot der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) Gruppenreisen zu den deutschen Kriegsgräberstätten des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa an, seit 1990/91 vermehrt auch Reisen nach Osteuropa. Ausgehend von den Praktiken der Akteure arbeitet der Beitrag die generationenspezifischen, geschlechterspezifischen und gesellschaftlichen Funktionen dieser Reisen im zeitlichen Wandel heraus. Trotz des mehrfachen Generationenwechsels der Klientel und teilweise veränderter Deutungen des Zweiten Weltkriegs blieben einige Funktionen der Reisen gleich. Bis heute bieten sie den Angehörigen gefallener Soldaten einen Ort zum Trauern. Neben dieser memorierenden Funktion besaßen sie die soziale Funktion, eine Erfahrungsgemeinschaft von Trauernden und Kriegsopfern zu etablieren – zunächst für die Kriegswitwen, später für ihre Kinder und Enkel und nicht zuletzt generationenübergreifend. Schließlich ermöglichten sie bestimmten Gruppen touristische Auslandsreisen, die diese nicht allein hätten unternehmen können – in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor allem reiseunerfahrenen Kriegswitwen (nach Westeuropa), seit 1990/91 der gealterten Veteranengeneration (nach Osteuropa). Der Aufsatz stützt sich auf breites Archivmaterial des VDK, das Perspektiven der Organisation ebenso erkennen lässt wie Präferenzen und Praktiken der Reisenden.

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Grief and Tourism. German War Grave Commission Tours 1950–2010

The German War Grave Commission (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, VDK) has offered package tours to the German war graves of World War II in Western Europe since 1950, and since 1990/91 increasingly also to Eastern Europe. Based on a study of the actors’ practices, the article identifies the generation-specific, gender-specific and societal functions of these tours and their change over time. Despite several generational changes in the traveller groups and partly modified interpretations of WWII, some of the tours’ functions remained constant. To this day, they provide a place of mourning for the relatives of soldiers killed in action. Besides this function of remembrance, they also had the social function of building a community of experience of mourners and war victims – initially for the war widows, later for their children and grandchildren. Finally, the tours made it possible for certain groups to undertake tourist trips abroad which they could not have attempted alone – during the first post-war decades, particularly war widows with little or no travel experience (to Western Europe); since 1990/91, the generation of aged veterans (to Eastern Europe). The article draws on a wide range of VDK archival material that reveals perspectives of the organisation as well as preferences and practices of the travellers.

Essays

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    Moral History

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  • Kiran Klaus Patel

    (Br)Exit

    Algerien, Grönland und die vergessene Vorgeschichte der gegenwärtigen Debatte

Quellen | Sources

  • Monica Rüthers

    Das Leben als Expedition

    Die Fotoalben eines sowjetischen Kraftwerksingenieurs (1940er- bis 1970er-Jahre)

  • Kerstin Brückweh

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