Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579-599; unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart“ dann in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll, Berlin 1983, S. 329-349; unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart“ zuletzt in: Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, S. 11-38. Die Seitenzahlen im vorliegenden Beitrag beziehen sich auf den Protokollband von 1983.
Soll nun schon an das Jubiläum von Vorträgen erinnert werden, ließe sich fragen. In diesem Fall durchaus, denn gerade der Vortrag des Philosophen und Politikwissenschaftlers Hermann Lübbe anlässlich des 50. Jahrestags der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, den er am 15. Januar 1983 im Berliner Reichstagsgebäude hielt, hat in der zeitgeschichtlichen Zunft eine ganz ungewöhnliche Karriere aufzuweisen. Hier, so der weit verbreitete Eindruck, hatte es ein kühl und nüchtern argumentierender konservativer Intellektueller den linken Moralisierern, die den angeblich defizitären Umgang mit der NS-Vergangenheit zur Diskreditierung der bundesdeutschen Gesellschaft funktionalisierten, einmal so richtig gegeben. Der thesenförmige Vortrag, sehr bald und an verschiedenen Orten veröffentlicht,1 gilt mitunter geradezu als kanonischer Text.2
Das hätte 1983 kaum jemand gedacht, als Lübbe vor einem großen Publikum referierte – darunter der Autor dieses Artikels. Welche Umstände bedingten also Lübbes nachhaltigen Erfolg? Eine vorläufige Antwort lautet, dass hier offenbar die geschichtspolitische Befriedigung weltanschaulicher Komfortbedürfnisse jener Teile der Gebildeten gelungen war, die nichts mehr von den Versäumnissen der Vergangenheit hören wollten, dafür aber eine intelligente Apologie benötigten. Gegenüber der wenig anspruchsvollen „Widerlegung“ der „Verdrängungsthese“, bei der unter Hinweis auf staatliche Rituale, politische Bildung und kulturelle Produktionen triumphierend die Thematisierung des Nationalsozialismus an sich schon als Beleg für den richtigen Umgang mit der braunen Vergangenheit angeführt wird,3 rechtfertigte Lübbe den kritisierten Umgang mit der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik politisch offensiv – mit dem Argument der Systemfunktionalität.4
Wir befinden uns am Beginn des Jahres 1983, mitten in den Auseinandersetzungen um die „Nachrüstung“, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, mit der die Ära Kohl (nach dem vorangegangenen Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt) ihren Anfang nahm – das Grußwort des neuen Kanzlers wurde auf der Tagung verlesen –, mehr als zwei Jahre vor jener legendären Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, in der vom Kriegsende als „Befreiung“ die Rede war und zuvor ausgegrenzte Verfolgtengruppen und Widerstandskräfte wie die Kommunisten positive Erwähnung fanden, und im Vorfeld des später so genannten Historikerstreits.5 Im Berliner Reichstagsgebäude hatten führende Politikwissenschaftler und Zeithistoriker zwei Tage lang über die Hintergründe für die nationalsozialistische Machtdurchsetzung debattiert; in einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde dann über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik gesprochen. Lübbes Vortrag sollte dafür den Einstieg liefern.
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Lübbe begann seine Rede mit der zutreffenden Beobachtung, dass die „Intensität der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus“ (S. 329) gewachsen sei, und dies „nicht trotz der zunehmenden Entfernung von ihm, vielmehr wegen dieser zunehmenden Entfernung“ (S. 331). Auf allgemeine Zustimmung rechnen konnte auch die Aufzählung von „einige[n] sehr einfache[n], aber fundamentale[n] Voraussetzungen“: dass aufgrund der „vernichtende[n] Vollständigkeit des Zusammenbruchs des Dritten Reiches“, des „Zusammenprall[s] mit den weltpolitischen Tatsachen“ und der „moralische[n] Evidenz der terroristischen und verbrecherischen Konsequenzen nationalsozialistischer Herrschaft“ die NS-Ideologie „im Nachkriegsdeutschland nicht mehr wiederbelebungsfähig“ gewesen sei und die Abgrenzung von ihr zur legitimatorischen Grundlage der Bundesrepublik gehöre (S. 332).
Auf dieser Basis von Common Sense bereitete Lübbe die zentrale These vor. In der Frühphase der Bundesrepublik habe es keinen „lagebeherrschenden Willen zur politischen Abrechnung gegeben“ (S. 333). Über die nationalsozialistische Vergangenheit sei wenig gesprochen worden, und „diese gewisse Stille war das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 334). Da die „Mehrheit des Volkes“ (ebd.) bis 1945 zum Nationalsozialismus gehalten habe, habe es – sogar in der DDR – gar keine andere Möglichkeit gegeben, als diese Ausgangslage zu berücksichtigen. Da alle von ihrer Vergangenheit gewusst hätten – die empirische Gewissheit suggerierenden Beispiele entlieh Lübbe allerdings ausschließlich und ausgerechnet der universitären Sphäre –, „entwickelten sich Verhältnisse nicht-symmetrischer Diskretion“ (S. 335), die erst ein Jahrzehnt später aufgebrochen seien. Die „bekannte Verdrängungsthese“ (ebd.), für Lübbe eine intellektuelle Zumutung, sei damit aber nicht zu vereinbaren, denn die nationalsozialistischen Verbrechen seien überhaupt nicht zu verdrängen gewesen.
Es folgte eine im „68er“-Bashing – zuletzt 2008 – etablierte Argumentationsfigur, der zufolge die Jugendrevolte als Phänomen „eines neuerlichen emotionalen und intellektuellen Rückzugs aus unserem modernen zivilisatorischen und politischen Lebenszusammenhang“ fungierte; vor diesem Hintergrund sei Ende der 1960er-Jahre im Zusammenhang mit revitalisierten Faschismustheorien die Geschichte der Bundesrepublik „als eine Geschichte der unvollendeten Überwindung des Nationalsozialismus“ umgeschrieben worden (S. 339). Dass angesichts der faschismustheoretisch angelegten Möglichkeit des Übergangs kapitalistischer Gesellschaften zum Faschismus auch nach „faschistoide[n] Einstellungs- und Verhaltensdispositionen“ gefragt worden sei, habe weitreichende Folgen gehabt: „Eine Atmosphäre des Verdachts breitete sich aus. Die NS-Studentenschaftsaktivitäten etablierter Professoren, auch literarische, im Regelfall übrigens längst bekannte Dokumente intellektueller Bewegtheit von damals wurden nun mit dem Gestus der Entlarvung vorgezeigt.“ (S. 341) Schließlich gipfele der faschismustheoretische Ansatz in der Kritik basaler Formen des Zusammenlebens: „Schlichte pädagogische Bemühungen, im Interesse der Putzfrauen ebenso wie von Schülern, die sekundären Tugenden der Ordnung und der Sauberkeit in Erinnerung zu bringen, wurden als Bemühungen aus dem Geiste Adolf Eichmanns durchschaut.“ (S. 342) Der letzte Teil des Vortrags galt dann der US-Serie „Holocaust“, deren Ausstrahlung damals erst wenige Jahre zurücklag; ihre positive Aufnahme beweise nochmals die Unhaltbarkeit der Verdrängungsthese.6
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In der anschließenden Podiumsdiskussion hatte Lübbe relativ leichtes Spiel. Überdeckt wurde dies aber durch die Reaktion des vornehmlich jüngeren Publikums, das mehrheitlich gegen den habituell elitär und autoritär wirkenden Vortragenden eingenommen war. Die anwesenden Politiker, Justizminister Hans A. Engelhard (FDP), der vormalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU), der sozialdemokratische Ex-Finanzminister Alex Möller und Hans Maier, bayerischer Kultusminister und Politikwissenschaftler, unterstützten hingegen Lübbes Sicht der Dinge prinzipiell, ebenso wie der Historiker Thomas Nipperdey, der befand, es habe sich die deutsche „Selbstkritik ja sehr in einen Gesinnungsmoralismus hineingesteigert; die unendliche Reflexion auf das Phänomen der Schuld“ habe „mit der Zeit eine Totalwendung gegen die deutsche Geschichte“ herbeigeführt (S. 369f.). Lediglich zwei substanzielle Kritikpunkte wurden genannt, zuerst von der Publizistin Carola Stern, die anmerkte, dass es sich Lübbe mit der „Verdrängungsthese“ zu leicht gemacht habe; man solle besser von „Vernebelung“ und „Verzerrung der Wahrnehmung“ sprechen (S. 356). Zudem wies sie auf die politische Konstellation des Kalten Kriegs hin (ebd.): „Meines Erachtens hatten wir zu früh und zu schnell mit unseren Alliierten einen neuen gemeinsamen Feind – und der stand links.“ Nicht die ehemaligen Nationalsozialisten hätten sich zu rechtfertigen gehabt, sondern die verfemten linken Remigranten wie Willy Brandt und Herbert Wehner. Auf diese wunde Stelle wies auch der Politikwissenschaftler Iring Fetscher hin: Die herrschende Totalitarismus-Doktrin habe eben die verschleiernde Funktion gehabt, „den ehemaligen Nazis zu erlauben, in der Kontinuität ihres Antibolschewismus ein gutes Gewissen zu bekommen“ (S. 364). Carola Sterns Sicht schloss sich zudem Hans-Ulrich Wehler an, der einen weiteren Punkt einbrachte: Für den „platten Pragmatismus“ in den Anfangsjahren der Bundesrepublik sei „ein Preis gezahlt“ worden, „und die Rechnung präsentierte die Protestbewegung von 1968“ (S. 359). Nachdem die Teilnehmer der Podiumsdiskussion jeweils einmal zu Wort gekommen waren, erhielt Lübbe abschließend Gelegenheit zu einer sehr ausführlichen Erwiderung; dass er die einzige Frau in der Runde besonders scharf angriff – „Was legitimiert eigentlich Frau Stern zu dieser moralischen Selbsterhebung?“ (S. 376) – steigerte seine Sympathien beim Publikum offenkundig nicht.7
Erst die spätere Lektüre der dokumentierten Diskussion8 lässt die Leerstellen der Kritik deutlich werden. Zum einen wurden die empirisch haltlosen Aussagen Lübbes hinsichtlich der 1950er-Jahre nicht eingehend thematisiert; allerdings war die frühe „Vergangenheitspolitik“ auch noch kaum untersucht worden – die wegweisenden Studien von Norbert Frei, Ulrich Herbert und anderen erschienen erst seit Mitte der 1990er-Jahre. Dass man höhere Chancen hatte, Polizeipräsident einer Großstadt zu werden, wenn man im Reichssicherheitshauptamt Karriere gemacht hatte, dass auch das von Lübbe bemühte Bild der Remigranten und Widerstandskämpfer als neuer Elite in den Universitäten mit den Verhältnissen an den meisten Hochschulen wenig zu tun hatte, wäre bis in die 1980er-Jahre noch als aus dem Osten stammende Unterstellung bezeichnet worden.9 Die Kritik am Umgang mit der NS-Vergangenheit befand sich erst im Stadium der Skandalisierung; und die zeithistorische Frage, wie aus den politisch-kulturell düsteren semi-autoritären Anfängen der Bundesrepublik ein liberales und pluralistisches Gemeinwesen wurde, stand forschungsstrategisch noch nicht zur Debatte. Dass die „68er“-Bewegung als „Preis“ für den „platten Pragmatismus“ im Umgang mit dem Nationalsozialismus verstanden wurde (Wehler), nicht aber zunächst die Vergiftung der politischen Kultur der 1950er-Jahre als Konsequenz genannt wurde, aus der sich dann der Aufbruch unter günstigen außenpolitischen Umständen und angesichts des lang anhaltenden Booms im generationellen Wandel vollziehen konnte, verweist auf den Diskussionsstand der frühen 1980er-Jahre. Interessant ist auch, dass Lübbe nicht nach seinen geschichtspolitischen Motiven und Interessen gefragt wurde, obwohl der Zusammenhang der Affirmation der bundesdeutschen Gründerjahre mit den Attacken auf „die 68er“ dazu eingeladen hätte.
Lübbes Vortrag stand am Beginn einer neuen geschichtspolitischen Phase und der Herausbildung einer in sich differenzierten Erinnerungskultur. Seine im Gestus des nüchternen Realisten vorgebrachte Kritik der so genannten Verdrängungsthese, die in den 1960er- und 1970er-Jahren die Diskussion bestimmt habe und, so Lübbe, die Bundesrepublik delegitimieren sollte, geriet wiederum zur Affirmation westdeutscher „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) schon in ihren Anfängen der 1950er-Jahre. Zwischen diesen beiden Extrempolen spielen sich noch heute manche Auseinandersetzungen ab, in denen sich Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik häufig bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen. Lübbes geschichtspolitische Apologie behauptet dabei, selbst wenn sie sich nicht allgemein durchsetzen konnte, einen beträchtlichen Einfluss.
1 Unter dem Titel „Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt. Der Nationalsozialismus im Bewußtsein der deutschen Gegenwart“ zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.1983, S. 9.
2 Vgl. etwa den unkritischen Artikel von Franz Josef Wetz, Lübbe, Hermann, in: Helmut Reinalter/Peter J. Brenner (Hg.), Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, Wien 2011, S. 1276ff.; dagegen die politikwissenschaftliche Dissertation von Norbert Hilger, Deutscher Neokonservatismus – das Beispiel Hermann Lübbes, Baden-Baden 1995.
3 Vgl. neuerdings etwa Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.6.2012, S. 8.
4 Diese neue Qualität betonte der marxistische Philosoph und Herausgeber der Zeitschrift „Das Argument“ Wolfgang Fritz Haug, Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt, Berlin 1987, S. 186, mit der Formulierung, Lübbes Rede „brach das Schweigen über das Schweigen, indem sie es rechtfertigte“.
5 In eine der Dokumentationen ist Lübbes Vortrag in der FAZ-Fassung, leicht gekürzt, als erster Text des Historikerstreits aufgenommen worden: Reinhard Kühnl (Hg.), Vergangenheit, die nicht vergeht. Die „Historiker-Debatte“. Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987, S. 14-18.
6 Darauf kam Lübbe immer wieder zurück; vgl. etwa ders., Verdrängung? Über eine Kategorie zur Kritik des deutschen Vergangenheitsverhältnisses, in: Hans-Hermann Wiebe (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Historikerstreit und Erinnerungsarbeit, Bad Segeberg 1989, S. 94-106; sowie noch in den gesammelten neueren Interviews: Hermann Lübbe im Gespräch, München 2010.
7 Die dualistische Konstruktion von manipulierendem Moralismus wider die nüchterne Vernunft durchzieht auch die späteren Schriften; siehe etwa Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 1987; ders., „Ich entschuldige mich“. Das neue politische Bußritual, Berlin 2001.
8 Vgl. auch Lübbes eigene Rekapitulation der Debatte: ders., Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, S. 39ff.
9 In dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit einem Vortrag Lübbes 13 Jahre später interessant. Zwar wiederholte er darin die hauptsächlichen Thesen, aber die vergangenheitspolitische Realität der 1950er-Jahre scheint nun an einigen Stellen zumindest auf: Hermann Lübbe, Deutschland nach dem Nationalsozialismus 1945–1990. Zum politischen und akademischen Kontext des Falles Schneider alias Schwerte, in: Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 182-206.