Zu diesem Heft
Das Cover des vorliegenden „offenen“ Hefts zeigt Michel Foucault in Paris, und zwar ungefähr zu jener Zeit, als er dort seine Vorlesungen über „Gouvernementalität“ hielt (1977-1979). In der Debattenrubrik nehmen wir die Veröffentlichung dieser Vorlesungen zum Anlass, den Nutzen des Gouvernementalitäts-Konzepts für die zeithistorische Forschung zu überprüfen. Nach einem allgemeinen Artikel von Jürgen Martschukat zu Sinn und Bedeutung des Konzepts verbindet Maren Möhring dieses mit körper- und geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen. Jan-Otmar Hesse analysiert und diskutiert Foucaults für die Zeitgeschichte besonders interessante Thesen zum Ordoliberalismus und zur ‚Sozialen Marktwirtschaft‘. Wie die drei Essays verdeutlichen, lohnt es sich, Foucaults Blick auf die Mechanismen des Führens und Geführtwerdens gerade bei der Erforschung von Machtverhältnissen des 20. Jahrhunderts ernstzunehmen, und zwar für ganz verschiedene politische Systeme.
Den Aufsatzteil dieser Ausgabe eröffnet Till Kössler mit einem Beitrag über die Integration der Industriearbeiter in das neue demokratische System der frühen Bundesrepublik. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der deutschen Teilung beleuchtet er am Beispiel des Ruhrgebiets besonders die „Entradikalisierung“ der kommunistischen Arbeiter und den Wandel der Gewerkschaftspolitik auf Betriebsebene. Kössler demonstriert, dass die lange Zeit als etwas angestaubt geltende Arbeitergeschichte durchaus neue Fragestellungen und Erkenntnisse bietet - auch im Hinblick auf die heutige Stellung der Gewerkschaften -, wenn man sozial-, politik- und kulturgeschichtliche Zugänge miteinander verknüpft. Philipp von Hugo analysiert die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“ von 1963. Er zeigt, wie in der Bundesrepublik besonders die Initiatoren der Aktion „Saubere Leinwand“ gegen den Film Sturm liefen, die damit jedoch nur begrenzten Erfolg hatten. Darüber hinaus gibt von Hugo Hinweise auf die Rezeption des Films in anderen europäischen Ländern, was es erlaubt, die Spezifika der bundesdeutschen Kontroverse genauer einzuschätzen. Joachim Samuel Eichhorn beschäftigt sich mit einem anderen Thema der 1960er-Jahre - mit der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Eichhorn untersucht vor allem die prozedurale Seite eines Regierungsbündnisses, das damals ein noch größerer Balanceakt war als heute: Welche Strategien entwickelten die Hauptakteure, um ideologische Differenzen teilweise zurückzustellen und gemeinsam handlungsfähig zu sein? Als Ausblick geht Eichhorn auch auf die besonders aktuelle Frage ein, welche strukturellen Unterschiede und Analogien die beiden Großen Koalitionen aufweisen.
Während die drei bisher genannten Aufsätze aus unterschiedlichen Perspektiven Fallstudien zur Geschichte der Bundesrepublik liefern, legt Jost Dülffer mit dem vierten Aufsatz dieses Hefts einen Längsschnitt zur Erinnerungskultur der USA vor, der von 1945 bis zur Gegenwart reicht. Gleichsam als Sonde dient das berühmte Foto vom Hissen der US-Flagge auf der japanischen Pazifikinsel Iwo Jima in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Ähnlich wie es Gerhard Paul in dieser Zeitschrift mit einer Ikone des Vietnamkriegs getan hat,1 verfolgt Dülffer die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Fotos, das als Chiffre schließlich auch im Kontext des 11. September 2001 wieder aufgegriffen wurde. Dülffer geht es dabei neben der mediengeschichtlichen Ebene stets zugleich um die mit Bildern verbundenen politischen Interessen. Ebenso macht er deutlich, dass die Erinnerungskultur der USA ungeachtet des Vietnamkriegs bis heute eine heroische geblieben ist - was aus Sicht der postheroischen Bundesrepublik besonders auffällt.
Eine zumindest für die deutschsprachige Zeitgeschichtsforschung ungewöhnliche Quellengattung präsentiert Rolf Sachsse: Er beschreibt und kontextualisiert afghanische Kriegsteppiche, die in den vergangenen Jahrzehnten in wachsender Zahl produziert und verbreitet worden sind - zu therapeutischen ebenso wie zu propagandistischen und kommerziellen Zwecken. Sachsse unterscheidet mehrere Phasen und Motivgruppen der Kriegsteppiche; besonders auffällig ist dabei, wie das alte, wenn auch inzwischen meist industriell gefertigte Medium des Bildteppichs neuere Medien wie die Fotografie integriert - mit faszinierenden, aber auch befremdlichen Resultaten.
In der Rezensionsrubrik stellt Jörg Requate eine umfangreiche DVD-Sammlung mit Günter Gaus’ Fernsehinterviews aus den Jahren 1963 bis 1972 vor. Aus heutiger Sicht beeindrucken diese Gespräche durch die intellektuelle Brillanz der Beteiligten, aber auch durch die spartanische, ganz auf das Wort und den Dialog konzentrierte Atmosphäre in den Anfängen des Fernsehzeitalters. Für die Rubrik „Neu gelesen“ hat Riccardo Bavaj Kurt Sontheimers „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ (zuerst 1962 erschienen) wieder zur Hand genommen, einen echten Klassiker der damals noch eng verbundenen Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung. Während Bavaj den vor einem Jahr verstorbenen Sontheimer würdigt, erinnert Daniel Morat an Günther Anders’ vor 50 Jahren publiziertes Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“, das in mancher Hinsicht überhaupt nicht antiquiert wirkt. Der Rezensionsdigest mit wichtigen Buchbesprechungen der letzten Monate beschließt dieses Heft.
Die Redaktion
1 Gerhard Paul, Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 224-245. Weitere Analysen dieser Art, auch zu Bildern aus nichtmilitärischen Kontexten, sind in Vorbereitung.
The cover illustration of this ‘open’ issue depicts Michel Foucault in Paris at approximately the time he gave his lectures on ‘governmentality’ there (1977-1979). In the debate section, we take the publication of these lectures as an opportunity to assess the current relevance of the governmentality concept for research in the field of contemporary history. Following Jürgen Martschukat’s overview article on the significance of the concept, Maren Möhring applies it to questions pertaining to the history of body and gender. Jan-Otmar Hesse analyzes and discusses Foucault’s intriguing theses on ordoliberalism and the ‘social market economy’, which seem especially relevant for contemporary history. As the three essays demonstrate, Foucault’s analysis of the mechanisms of leading and being led are still indispensable for research on the power structures that shaped various political systems in the 20th century.
The articles of this issue are introduced by Till Kössler’s contribution on the integration of industrial laborers into the new democratic system of the early Federal Republic of Germany. Before the backdrop of the Cold War and the partition of Germany, he examines the Ruhr Region as an example for the ‘deradicalization’ of Communist workers and changes in labor union politics on the factory level. Kössler demonstrates that the history of labor, which has lately seemed a bit out-of-date, indeed holds potential for interesting new inquiries and insights. Not least of all with regard to the current societal position of labor unions in the Federal Republic, a combination of social, political, and cultural facets affords a promising historical approach. Philipp von Hugo analyzes the public debate on Ingmar Bergman’s film ‘The Silence’ from 1963. He discusses how in West Germany, especially the instigators of the so-called ‘”Clean Screen” Campaign’ (Aktion ‘Saubere Leinwand’) fiercely demonstrated against the film - admittedly with limited success. Moreover, von Hugo offers insight into the film’s reception in other European countries, which allows for a more precise analysis of the specific German controversy. Joachim Samuel Eichhorn addresses another important topic of the 1960s - the Grand Coalition under Chancellor Kurt Georg Kiesinger. Eichhorn specifically focuses on procedural aspects, as this coalition was an even greater balancing act than today’s Grand Coalition. What were the main strategies employed by the protagonists in order to put aside ideological differences and create a basis for action? In his outlook, Eichhorn furthermore observes structural differences and similarities between the historical and the contemporary Grand Coalition in Germany.
While the three case studies introduced so far offer various perspectives on the history of the Federal Republic, Jost Dülffer presents a cross-section of memory culture in the USA from 1945 to the present. The famous photograph depicting the American flag being raised on the Japanese island of Iwo Jima towards the end of World War II serves as a probe in this endeavor. Similar to Gerhard Paul’s analysis of an icon of the Vietnam War published in this journal,1 Dülffer traces the photo’s origins and its reception, taking into consideration the way it was again taken up as a code in the context of 9/11. Besides its medial history, Dülffer bears in mind the image’s significance for concrete political aims as well. He furthermore elucidates that, despite the Vietnam War, memory culture remains heroic in the USA - a conspicuous quality from the perspective of its post-heroic German counterpart.
Rolf Sachsse works with rather unusual primary source material - at least within the field of German contemporary history: he analyzes and contextualizes Afghan war rugs, which have been produced and proliferated in growing numbers for therapeutic as well as propagandistic purposes over the past decades. Sachsse distinguishes between various phases and sets of motives in these war rugs. It is especially remarkable that this old, but nowadays mostly industrially produced medium integrates newer media such as photography - with fascinating, but somewhat disconcerting results.
In the review section, Jörg Requate introduces a substantial collection of DVDs with TV-interviews by the prominent journalist Günter Gaus from the years 1963 to 1972. In retrospect, besides the intellectual brilliance of the interlocutors, the austere atmosphere of these interviews is quite impressive. The concentration only on spoken word and dialogue that becomes apparent in these visual documents seems characteristic of the early television era. In our series on ‘rediscovered classics’, Riccardo Bavaj examines Kurt Sontheimer’s ‘Anti-democratic Thought in the Weimar Republic’ (‘Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik’, first published in 1962) - a real classic within the fields of political science and contemporary history, which were closely interlinked at the time. While Bavaj appraises Sontheimer, who died a year ago, Daniel Morat calls to mind Günther Anders’ opus magnum ‘The Out-datedness of Human Beings’ (‘Die Antiquiertheit des Menschen’), which was published 50 years ago and in many ways does not seem antiquated at all. The Review Digest, which features some important book reviews of the past months, concludes this issue.
The Editors
(translation: Eva Schissler)
1 Gerhard Paul, Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), pp. 224-245. Similar case studies, including on pictures from non-military contexts, are in preparation.