Von der „Islamischen Revolution“ zum „Islamischen Widerstand“

Gewaltlegitimationen schiitischer Religionsgelehrter im Umfeld der Hizb Allah

Anmerkungen

Der Sturz von Schah Reza Pahlavi in der „Islamischen Revolution“ im Iran (1978/79) und der bewaffnete „Islamische Widerstand“ der Hizb Allah gegen die israelische Besatzung im Südlibanon (1982-2000) gehören zu den wenigen Ereignissen, in denen Islamisten1 die Geschicke ihrer Heimatländer nachhaltig geprägt und aus ihrer Sicht erfolgreich verändert haben. In beiden Fällen handelte es sich dabei um von Schiiten2 getragene Bewegungen, die einen Tyrannen gestürzt bzw. eine Okkupation beendet haben. Und in beiden Fällen spielten Religionsgelehrte (Ulama3) eine herausragende Rolle, um die Gläubigen zu mobilisieren. Sie ordneten die aktuelle Lage ihrer Heimatländer, die Erfahrung von Tyrannei, kollektiver Diskriminierung und externer Aggression eines übermächtigen Gegners, in das religiöse Narrativ von Leiden und Erlösung, Entrechtung und Befreiung und somit in die übergeordnete schiitische Heilsgeschichte ein. Sie leiteten daraus auch die Legitimation für gewaltsames Handeln ab.

Diese Gewaltlegitimation schiitischer Theologen prägte in den 1980er- und 1990er-Jahren das Image der Schia als der gewalttätig-revolutionären, ja terroristischen Richtung innerhalb des Islams.4 Einer solchen essentialisierenden Einschätzung liegt die kulturalistische Annahme zugrunde, einige Religionen wie das Christentum seien pazifistisch, andere hingegen bellizistisch veranlagt, so insbesondere der Islam. In der Diskussion um das Verhältnis von Religion und Gewalt finden sich weiterhin zwei generalisierende, antagonistische Thesen: dass insbesondere monotheistische Religionen intolerant seien und Gewalt förderten, oder aber die Gegenthese, dass sie ein Friedensethos beinhalteten und pazifizierend wirkten. Doch beide Thesen sind analytisch fragwürdig und empirisch durch Gegenbeispiele zu widerlegen.5 Auch im hier behandelten schiitischen Islam finden sich historisch und aktuell sowohl duldsam-quietistische als auch gewaltsam-aktivistische Ausprägungen. Entscheidend ist daher nicht die Frage, ob eine Religion gewaltsam sei, sondern unter welchen Umständen und von welchen Akteuren sie aufgegriffen wird, um bestimmte Formen der Gewalt zu legitimieren, zu welchen Zwecken und Zielen dies geschieht und welche Einschränkungen den Akteuren dabei auferlegt werden (etwa der Schutz von Zivilisten und Anhängern der eigenen Gemeinschaft).

Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht die Frage, wer im heutigen schiitischen Islam die theologisch begründete Autorität und die Legitimation der Gläubigen besitzt, um diese Fragen im Namen der Religion zu beantworten, d.h. zu Gewalt aufzurufen, sie zu rechtfertigen oder aber sie zu begrenzen.6 Exemplarisch untersucht der Aufsatz die Mobilisierung der libanesischen Schiiten seit Ende der 1960er-Jahre und befasst sich am Beispiel dreier Religionsgelehrter mit der Frage, welche Rolle religiöse Autoritäten bei der Mobilisierung, Organisation und Legitimation von Revolution und Widerstand übernehmen können, die unter Umständen auch gewaltsames Handeln umfassen. Die Religionsgelehrten greifen hierfür Symbole und Legenden auf und liefern Sinndeutungen einer gegenwärtigen Situation. Es sind mithin drei Analyseebenen zu unterscheiden: erstens das Repertoire religiöser Symbole und vorbildhafter historischer Ereignisse, zweitens eine soziohistorische Konstellation struktureller und manifester Gewaltprävalenz sowie drittens die Rolle aktivistischer Religionsgelehrter, die die aktuellen Erfahrungen mit historischen Bezugsereignissen verknüpfen und daraus Handlungsanweisungen ableiten.

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Wenn man nach religiös begründeter Gewalt fragt, sind diese drei Ebenen eng miteinander verwoben. Keine der drei lässt sich für die Gewalt allein verantwortlich machen: Die Situation im Libanon hätte möglicherweise auch alternative Handlungsoptionen zugelassen, und andere Führer und Parteien boten sich als Akteure an. Außerdem legt weder die schiitische Heilsgeschichte einen solchen Aktivismus zwingend nahe, noch sind die Religionsgelehrten „von Berufs wegen“ revolutionär gesinnt. Denn die schiitische Geschichte kennt mehr Beispiele quietistischer Anpassung und Unterordnung als Beispiele revolutionären Aufbegehrens. Die Militanz im schiitischen Islamismus des Libanon ist daher erklärungsbedürftig.

Um die profilierte Bedeutung der Religionsgelehrten und die von ihnen propagierten Gewaltlegitimationen und Kampfformen zu verstehen, muss man sich zunächst die Besonderheiten des schiitischen Islams und Islamismus vergegenwärtigen. Hierzu wird ein knapper Überblick zu den für diesen Kontext zentralen Glaubensinhalten und heilsgeschichtlichen Episoden geboten sowie die Begründung und Praxis religiöser Autorität dieser Richtung des Islams dargestellt (1.). Im nächsten Schritt geht es um die Politisierung und Radikalisierung der schiitischen Religionsgelehrten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch eine aktivistische Uminterpretation des schiitischen Narrativs von Imam al-Husain (2.). Die Gewalt schiitischer Islamisten im Libanon geschah nicht initiativ, sondern reagierte auf vorgefundene Unterdrückungs- und Gewaltformen, so auf die strukturelle Diskriminierung der Gemeinschaft im konfessionellen Proporzsystem des Landes, den 1975 begonnenen Bürgerkrieg sowie mehrere israelische Invasionen, unter denen die libanesischen Schiiten in besonderer Weise litten (3.). Anhand dreier Religionsgelehrter werden deren Sinndeutungen und die Reaktionen der Schiiten auf die Herausforderungen beschrieben; dies bildet den Schwerpunkt des Aufsatzes (4.). Musa as-Sadr war für das frühe „schiitische Erwachen“7 im Libanon in den 1960er- und 1970er-Jahren verantwortlich. Er mobilisierte die zuvor quietistische Gemeinschaft gegen das bestehende Unrecht, indem er ihr ein positives Selbstwertgefühl als Schiiten vermittelte und dazu aufrief, die kämpferischen Imame als Vorbilder zu nehmen. Die Iranische Revolution von 1978/79 wurde zum Höhepunkt des schiitischen revolutionären Aktivismus. Sie beeindruckte besonders Schiiten weltweit und übte großen ideellen und organisatorischen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Hizb Allah im Libanon aus, wenngleich die Hizb Allah in personeller Struktur und Programmatik weitgehend eine libanesische Partei war und blieb.

Die Anfang der 1980er-Jahre noch anonym auftretende kollektive Führungsriege der Hizb Allah setzte sich fast ausschließlich aus jungen Theologen zusammen. Sie waren zumeist jünger als 30 Jahre, hatten in Najaf im Irak studiert und waren dort politisiert worden. Der Bürgerkrieg im Libanon sowie die israelischen Invasionen von 1978 und 1982 radikalisierten sie. Im Libanon lieferte der Religionsgelehrte Muhammad Husain Fadlallah bereits Mitte der 1970er-Jahre das theologische Rüstzeug und bereitete intellektuell den militanten Aktivismus vor, der sich im „Islamischen Widerstand“ der Hizb Allah der 1980er- und 1990er-Jahre gegen die israelische Besatzung manifestierte. Hasan Nasrallah schließlich ist als Generalsekretär der Hizb Allah der Organisator, Sprecher und Führer dieses Widerstands; seit der „Befreiung“ des Südlibanon von israelischer Besatzung im Jahr 2000 erfährt er die heilsreligiöse Verehrung seiner Anhänger.

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1. Religiöse Autorität im schiitischen Islam

Anhänger der zwölferschiitischen Richtung des Islams nehmen eine Abfolge von zwölf Imamen als legitimen Nachfolgern des Propheten Muhammad an. Sie bringen den „unfehlbaren“ Imamen und anderen Mitgliedern der Prophetenfamilie sowie deren Nachfahren besondere Verehrung entgegen. Doch gelang es ihnen mit Ausnahme des kurzen Kalifats von Imam Ali bin Abi Talib (656-661 n.Chr.) nicht, den politischen Anspruch auf Führung der islamischen Gemeinde durch die Imame durchzusetzen.

Schiitische Muslime zeichnen sich durch ein starkes Gerechtigkeitspathos aus, das theologisch in dem Glaubensgrundsatz der Gerechtigkeit Gottes verankert ist. Den Widerpart der Beraubung und des Unrechts erlebte bereits die frühe Schia, als die Mehrheit der muslimischen Gemeinde nach dem Tode Muhammads 632 Imam 'Ali das Kalifat versagte, obwohl dieser nach schiitischem Glauben göttlich designiert worden war.8 Imam al-Husain, der Enkel Muhammads und für Schiiten sein dritter rechtmäßiger Nachfolger, versuchte vergeblich, den Herrschaftsanspruch zurückzugewinnen. So weigerte er sich, die Erbfolge des (sunnitischen) Umayyaden-Kalifats von Mu'awiyya auf seinen Sohn Yazid anzuerkennen, und zog im Jahr 680 n.Chr. gegen Yazid in die Schlacht. Vermeintliche Gefolgsleute, die ihm ihre Unterstützung zugesagt hatten, ließen ihn im Stich, so dass er mit nur 72 Gefährten gegen die 3.000 Soldaten des Kalifen antrat. Erwartungsgemäß und nach schiitischem Glauben von Gott so vorherbestimmt wurden er selbst und all seine männlichen Mitstreiter in der Ebene von Karbala niedergemetzelt. Mit seinem Märtyrertod als „Blutzeuge“ am Tag Aschura, dem 10. Tag des islamischen Monats Muharram, bezeugte al-Husain in den Augen seiner Anhänger das Unrecht Yazids. Auch alle folgenden Imame starben nach Ansicht der Schiiten den Märtyrertod für ihren Glauben - allerdings nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern meist durch Mordanschläge der „usurpatorischen“ Kalifen. Die Lehre der Zwölferschia besagt, dass der letzte, der Zwölfte Imam al-Mahdi („der Rechtgeleitete“) im Jahr 874 n.Chr. als fünfjähriges Kind in Samarra (Irak) in ein Kellergewölbe hinabgestiegen und von dort aus „in die Verborgenheit“ eingegangen sei. Die Gläubigen erwarten die Wiederkehr dieses „Verborgenen Imams“ als endzeitlicher Erlöser.

Diese frühen Erfahrungen der „Beraubung“ eines als rechtmäßig betrachteten Anspruchs, der zahlenmäßigen Unterlegenheit gegen übermächtige Feinde und des unschuldigen Martyriums erneuerten sich immer wieder in der schiitischen Leidensgeschichte als Minorität unter autoritären (häufig sunnitischen) Herrschern. Aus dieser Wiederholung entwickelte sich die Selbstperzeption, einer Schicksalsgemeinschaft der Beraubten anzugehören.

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Im schiitischen Islam findet sich eine umfangreiche Theoriedebatte um die Frage legitimer religiöser Autorität, die sich aus dem autoritativen Vakuum seit Verschwinden des Zwölften Imams ergab. Erst im 19. Jahrhundert hat sich dabei die heute dominante Lehre einer herausragenden Bedeutung der ranghohen Religionsgelehrten und einer elaborierten (aber nicht institutionalisierten) Hierarchie unter diesen etabliert. Ihre Autorität richtet sich dabei primär nach ihrer Gelehrsamkeit, in geringerem Maße auch nach ihrem gesellschaftspolitischen Engagement. Daneben spielt die besondere volksreligiöse und theologisch begründete Verehrung der Nachkommen des Propheten eine Rolle, die den Ehrentitel Sayyid (pl. Asyad, wörtlich „Herr“) führen. Religionsgelehrte mit dieser erbcharismatisch bedeutsamen Herkunft tragen einen schwarzen anstelle des einfachen weißen Turbans, und der Sayyid-Titel steigert noch ihren Nimbus.

Nach einem langjährigen Studium der islamischen Rechtswissenschaften an theologischen Hochschulen können Religionsgelehrte den Rang eines Mujtahid erlangen, der zur selbstständigen Rechtsfindung durch rationale Interpretation (Ijtihad) berechtigt ist. Aufgrund ihrer überragenden Funktion als spirituelle Vertreter des Propheten und des Verborgenen Imam al-Mahdi genießen sie in der religionsrechtlichen Auslegung große Freiräume bei der Interpretation der normativen Quellen und bei der Anpassung religiöser Regeln an veränderte Zeitumstände.9 Der gelehrteste Mujtahid seiner Zeit gilt als „Quelle der Nachahmung“ (Marja' at-Taqlid, kurz: Marja'; pl. Maraji' at-Taqlid).10 Da es jedoch kein verbindliches Prozedere zur Erlangung des Marja'-Titels gibt und sich die Schiiten nur selten auf einen einzigen Träger einigen konnten, finden sich meist mehrere Maraji' gleichzeitig. Gewöhnliche Gläubige können bzw. müssen sich einen Marja' auswählen und seinen Urteilen in Fragen des religiösen Rechts Folge leisten - wobei diese sich je nach dessen theologischer Interpretation und politischer Ausrichtung entweder im engen Rahmen typisch religiöser Fragestellungen wie ritueller Praxis oder Fragen des Familienrechts bewegen oder aber auch wirtschaftliche und politische Themen umfassen. Aus den religiösen Abgaben, die die Gläubigen unabhängig von staatlichen Zwangsmitteln direkt an ihren Marja' bzw. dessen lokalen Vertreter entrichten, unterhalten diese Netzwerke staatsunabhängige Institutionen wie theologische Hochschulen, Moscheen und Husainiyat (schiitische Zeremoniengebäude), neuerdings auch Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen, Buchverlage und mitunter sogar Wirtschaftsunternehmen.

Die Staatsferne schiitischer Religionsgelehrter macht sie aber noch nicht per se zu Oppositionellen. Die Mehrheit der traditionellen Geistlichkeit ist vielmehr bis heute unpolitisch-quietistisch, was mit der eschatologischen Erwartung zusammenhängt, dass erst mit der Wiederkehr des Zwölften Imam al-Mahdi alle Tyrannei beseitigt und eine wahrhaft gerechte Herrschaft auf Erden errichtet werden könne. Bis dahin gelten nach traditioneller Auslegung die real existierenden politischen Führungen entweder als illegitime Despotien, von denen man sich fernzuhalten habe, oder als zu tolerierende Notwendigkeit, in deren Dienst man zum Wohle der Schiiten tätig sein dürfe, um Chaos und Bürgerkrieg zu vermeiden.11 Da sie meist staatsunabhängig direkt durch ihre Anhänger finanziert werden, stehen die schiitischen Religionsgelehrten jedoch eher auf Seiten „des Volkes“ und müssen auf dessen Bedürfnisse eingehen. Hochrangige Gelehrte haben deshalb immer wieder in politische Entscheidungen interveniert, wenn die staatliche Repression unerträgliche Ausmaße annahm oder ihre eigenen Interessen und diejenigen ihrer Klientel massiv verletzt wurden.12 Dabei boten Heiligtümer und religiöse Versammlungszentren staatsferne Freiräume für oppositionelle Mobilisierung. Grundlegende Veränderung war indes bis zur Rückkehr des Imam al-Mahdi nicht zu erwarten. In Gefahrensituationen sollte deshalb aus Vorsicht der eigene „wahre“ Glauben verborgen werden (Taqiyya).

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2. Schiitischer Islamismus seit 1950

Die traditionelle Form religiöser Autorität erhielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Konkurrenz und Wendung, als vorwiegend junge Religionsgelehrte oppositionelle islamistische Bewegungen gründeten und leitende Funktionen in ihnen übernahmen.13 Dabei erlebte die quietistische Lehre an den theologischen Zentren von Qom (Iran), Najaf und Karbala (Irak) eine grundlegende Um- und Neuinterpretation. Im Zuge der Nationalisierung eingeleitete Reformen des Bildungswesens hatten auch die theologischen Hochschulen erfasst, deren Curricula nun auf naturwissenschaftliche Fächer und westliche Fremdsprachen ausgeweitet und durch Prüfungen formalisiert wurden. Besonders in der jungen Generation der Religionsgelehrten setzte eine Aufbruchstimmung und Politisierung ein. Im Iran wurde sie zu Zeiten der nationalistischen Regierung unter Mohammed Mosaddeq (1951-1953) befördert. Im Irak wirkte die Revolution von 1958 mobilisierend auf die jungen Gelehrten. Der Säkularisierungsschub hatte weitreichende Konsequenzen für die schiitischen Gemeinschaften. Viele junge Menschen und selbst die Söhne (seltener die Töchter) schiitischer Theologenfamilien, die aus einem Milieu mit besonderer Affinität zu Bildung, kritischer Rationalität und sozialer Verantwortung kamen, traten nun als Aktivisten „atheistischer“ Linksparteien auf, in denen Schiiten besonders zahlreich vertreten waren. Damals war die Gleichung „Schi'i = Schuyu'i“ (Schiit = Kommunist) ein geflügeltes Wort.14

Schiitische Gelehrte sahen sich durch diesen Linksruck in ihrer Rolle als Vertreter der Gemeinschaft bedroht. Konservative Religionsgelehrte reagierten mit Verboten, etwa der Marja' Muhsin al-Hakim, der 1960 in einer Fatwa (Rechtsgutachten) die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei als Glaubensabfall verurteilte. Dagegen setzten sich schiitische islamistische Parteien wie die Hizb ad-Da'wa im Irak und später die Hizb Allah im Libanon inhaltlich mit den konkurrierenden Ideologien auseinander. Sie adaptierten dabei nicht selten deren Organisationsformen, Forderungen und revolutionären Duktus.15 Die Schlacht von Karbala wurde nun zum Kern der „Revolution al-Husains“ stilisiert. In den Worten des seinerzeit in Najaf studierenden jungen libanesischen Gelehrten Muhammad Mahdi Schams ad-Din bildete sie „die Speerspitze der revolutionären Geschichte. Sie ist die erste Revolution, die die Menschen mobilisierte und sie auf den langen, blutigen Weg des Kampfes führte, nachdem sie kurz davor waren, durch die Politik der Umayyaden ihren kämpferischen Geist zu verlieren.“16

Schiitische Islamisten überwinden mit dieser Metapher einer durch Husain angestoßenen universalen Revolution die parochiale Mentalität des traditionellen schiitischen Geschichtsbildes, indem sie die eigene Leidensgeschichte nicht mehr allein auf sich beziehen, sondern sie als archetypisch für jede Form von Unterdrückung umdeuten. Sie appellieren an alle „Entrechteten“ weltweit - seien es Schiiten oder Sunniten, Muslime oder Anhänger anderer Religionen, ja selbst Atheisten -, gegen jede Gestalt des „Unrechts“ und der „Arroganz“ zu kämpfen. Sie fordern dabei von ihren Anhängern eine besondere individuelle Kampfes- und Opferbereitschaft, die im Märtyrerimam al-Husain ihr Vorbild findet. Die Lösung aktueller Probleme suchen sie dabei weniger in der Rückkehr zu einem mythisch verklärten Frühislam, wie dies viele sunnitische „Fundamentalisten“ der Salafiyya tun,17 sondern sie streben ein noch zu verwirklichendes utopisches Ideal an. Anders als bei sunnitischen islamistischen Bewegungen, die in der Regel von Mitgliedern profaner Berufe angeführt werden, übernehmen Religionsgelehrte dabei selbst Funktionen der politischen und militärischen Leitung.

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3. Die Mobilisierung der libanesischen Schiiten

Der Libanon lag zunächst abseits dieser Veränderungen.18 Schiiten bildeten in den 1950er-Jahren noch die am geringsten entwickelte Religionsgemeinschaft in der multikonfessionellen Gesellschaft. Sie siedelten vorwiegend in den peripheren, wirtschaftlich diskriminierten und politisch marginalisierten Regionen des Südlibanon und der Bekaa-Ebene. Ihr Alphabetisierungs- und Bildungsgrad lag weit unterhalb des Landesdurchschnitts. Die Rationalisierung in der Landwirtschaft, eine etatistische Entwicklungspolitik unter Präsident Fu'ad Schihab ab 1958 und die Kriegseinwirkungen an der Grenze zu Israel seit Ende der 1960er-Jahre führten indes zu einer grundlegenden sozialen Transformation. Durch eine massive Landflucht und die Ansiedlung in slumähnlichen Vierteln in und um Beirut gelangten Schiiten immer mehr ins Zentrum der libanesischen Politik, waren aber auch mit den strukturellen Problemen eines rapiden, anomischen Modernisierungsprozesses konfrontiert. Der Ausbau des staatlichen Schulwesens und die Gründung der in Arabisch unterrichtenden Libanesischen Universität verbesserten ihre Bildungschancen deutlich und führten zu einer rapiden Zunahme schiitischer Universitätsabgänger. Bildung schien ihnen nun den Zugang zur boomenden Wirtschaft zu eröffnen und das Versprechen der Moderne einzulösen, dass Wissen und Können statt Herkunft und klientelistische Beziehungen über Aufstieg und Erfolg einer Person entscheiden.

Diese Erwartung wurde indes enttäuscht. Denn mit der geographischen Mobilisierung durch die Landflucht und der professionellen Mobilisierung durch bessere Bildung ging bei den Schiiten keine Integration in eine moderne Gesellschaft einher. Das gesellschaftspolitische System des Libanon, in dem Parlamentssitze und andere staatliche Posten nach einem überholten konfessionellen Proporz vergeben werden, und eine Ökonomie, in der Klientelbeziehungen wesentlich über Einstellungschancen entscheiden, diskriminierte die Angehörigen der schiitischen Konfession in mehrfacher Hinsicht. Demographische Verschiebungen hatten dazu geführt, dass sie mittlerweile die größte Gemeinschaft im Lande waren. Eine aktuelle Bevölkerungszählung und verlässliche Bestimmung des Konfessionsproporzes existiert wegen der hohen politischen Brisanz jedoch bis heute nicht. Denn die Verteilung von Abgeordnetenmandaten und anderen Ämtern der politischen Macht müsste sonst entscheidend zugunsten der Schiiten verschoben werden, da ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung inzwischen auf 30 bis 40 Prozent geschätzt wird. Sie stellen aber nach wie vor nur rund 20 Prozent der Parlamentssitze und der Ministerposten - entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil von 1932, als der letzte offizielle Zensus stattfand. Man kann von einem „System mit geschlossenen Chancen“ sprechen.19 Das bloße „Schiitischsein“ war verantwortlich für eine politische, soziale und ökonomische Diskriminierung, wodurch sich das Bewusstsein festigte, einer „Konfessions-Klasse“ der Beraubten anzugehören.

Diese Situation war ein wesentlicher Grund für die Abkehr vieler Schiiten von westlichen und östlichen Entwicklungsideologien (Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus), die sie mit der vorgefundenen Diskriminierung identifizierten und nicht als zukunftsträchtig ansahen. In Reaktion auf die Enttäuschung entwickelten sie eine positive religiöse Selbstidentifizierung und wandten sich einer eigenen islamistischen Entwicklungsideologie zu. Bei den schiitischen Islamisten im Libanon handelt es sich mithin nicht um sozial Deklassierte, die zu antimodernen Fundamentalisten oder „frustrierten Globalisierungsverlierern“ zu rechnen wären, sondern um teils hoch motivierte Menschen mit deutlicher Aufstiegsmobilität.

Der libanesische Bürgerkrieg (1975-1990) verstärkte die Konfessionalisierung der libanesischen Gesellschaft. In der ersten Kriegsphase 1975/76 arrondierten die Milizen ihre Regionen, was wieder maßgeblich die Schiiten traf. Sie wurden aus dem von Christen dominierten Ostbeirut vertrieben, wobei es mehrfach zu Massakern an der Zivilbevölkerung kam. In konfessionell homogenen Kantonen entwickelten sich während des Bürgerkriegs im ganzen Land substaatliche Einheiten, die von Parteimilizen beherrscht wurden. Im Falle der schiitischen Regionen - im Südlibanon, der Bekaa-Ebene und den südlichen Vororten Beiruts - waren dies die Amal-Bewegung und später auch die Hizb Allah. Bis zum Ende des Bürgerkriegs 1990 hatten sie sich zu selbstbewussten Akteuren entwickelt, die seitdem eine gleichberechtigte Rolle ihrer Gemeinschaft gegenüber den anderen Konfessionen des Landes einklagen. Die gegen die PLO gerichteten israelischen Invasionen 1978 und 1982 beschleunigten diesen Prozess der schiitischen Identitätsbildung. Denn wieder waren Schiiten besonders betroffen, da sie geographisch und sozial den Palästinaflüchtlingen am nächsten standen und die größten „Kollateralschäden“ der Kriege zu ertragen hatten. Die israelische Besatzung des Südlibanon (1978-2000) wurde der Kristallisationspunkt des „Islamischen Widerstands“ der Hizb Allah.

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4. Schiitische Religionsgelehrte als Träger des „Islamischen Widerstands“

Die schrittweise Politisierung und Machtakkumulation der libanesischen Schiiten lässt sich exemplarisch an der Führungsrolle dreier schiitischer Religionsgelehrter nachzeichnen, die verschiedene Aspekte der sozialen und politischen Mobilisierung, der Selbstbewaffnung und Selbstermächtigung im Bürgerkrieg und im „Islamischen Widerstand“ gegen die israelische Besatzung sowie schließlich der Integration der Schiiten in die libanesische Nachkriegsgesellschaft repräsentieren. Musa as-Sadr (4.1.) war 1959 bis 1978 für die frühe Mobilisierung der Schiiten verantwortlich. Seine Bewegung forderte den erleichterten Zugang zu den Institutionen und Ressourcen des Staates und der Gesellschaft. Der Beginn des Bürgerkriegs machte diese Bemühungen zunichte, da der wichtigste Adressat der Forderungen, der libanesische Staat, faktisch zusammenbrach. Exkurse zur „Islamischen Revolution“ im Iran (4.2.) sowie zur Entstehung der Hizb Allah (4.3.) erläutern den zeitgeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen die vorgestellten Akteure handelten. Muhammad Husain Fadlallah (4.4.) kann als Theoretiker zunächst der Revolutionierung und dann der Mäßigung und Anpassung an die libanesischen Verhältnisse bezeichnet werden. Von den drei hier behandelten Akteuren ist er der im klassischen Sinne ranghöchste Religionsgelehrte, ein äußerst reformfreudiger Gelehrter, der sich regelmäßig zu innen- und weltpolitischen Themen äußert. Hasan Nasrallah (4.5.) gehörte 1982 bereits im jungen Alter von 22 Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Hizb Allah, und 1992 wurde er deren Generalsekretär. Obwohl er kein staatliches politisches Amt im Libanon innehat, dürfte er heute der mächtigste Mann im Land sein, dem es mit seinen starken Reden und seinem Charisma gelingt, Hunderttausende Demonstranten zu mobilisieren. Er kommandiert zugleich eine Miliz, die auch von ihren Gegnern im Vergleich zur libanesischen Armee als schlagkräftiger und effizienter angesehen wird.

4.1. Der „Imam“ Musa as-Sadr (1928-1978?). As-Sayyid Musa as-Sadr wurde 1928 in Qom (Iran) geboren. Er stammte aus einer berühmten, weit verzweigten Familie von Religionsgelehrten, die ihre Genealogie bis auf die zwölf Imame zurückführt.20 Sadr studierte in Qom und Najaf islamische Wissenschaften und erreichte das Niveau eines Mujtahid. Außerdem absolvierte er ein mehrjähriges Studium an der juristischen Fakultät der Universität Teheran. 1959 siedelte er in den Libanon über und trat die Nachfolge des verstorbenen ‘Abd al-Husain Scharaf ad-Din als schiitischer Richter von Sur (Tyros) an. Während der 1960er-Jahre gründete er in der südlibanesischen Hafenstadt mehrere sozial-karitative Institutionen für die schiitische Gemeinschaft. Er weitete sein soziales und politisches Engagement aber schon bald auf sämtliche von Schiiten bewohnte Regionen und darüber hinaus auf die Bereiche anderer Konfessionen aus. 1967 setzte er sich maßgeblich für die Gründung des Obersten Schiitischen Rates (OSR) als Repräsentanz der Schiiten im libanesischen Staat ein. Als dessen Vorsitzender trug Sadr zwar nun einen offiziellen Titel; in ihrem innenpolitischen Einfluss blieb die neue Institution jedoch hinter seinen Erwartungen zurück.

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Enttäuscht über die in Klientelismus verfangenen staatlichen Institutionen begann Sadr in den 1970er-Jahren, die Schiiten mit religiösem Idiom und Vorbildern aus der frühen schiitischen Geschichte zu Methoden des zivilen Widerstands wie Demonstrationen, Petitionen, Boykottaktionen und Streiks zu mobilisieren. 1974 gründete er die „Bewegung der Beraubten“ (Harakat al-Mahrumin), die trotz ihrer schiitischen Symbolik und revolutionären Metaphorik doch wesentlich eine nationale Reformbewegung blieb. Sie kämpfte nicht gegen den Staat oder gar für eine Revolution; vielmehr forderte sie die Stärkung des libanesischen Staates und seiner Institutionen, damit der Staat seine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung besser wahrnehmen könne.

Sadr brach mit der quietistischen Tradition der Geistlichkeit, lud die Lehren und Symbole der Religion mit revolutionärem Impetus auf und verhalf den Schiiten damit zu einer gewaltigen sozialen Mobilisierung. In einer Beiruter Rede zum Tag Aschura Anfang 1974 aktualisierte und politisierte er die religiöse Dimension der Schlacht von Karbala (s.o., Kap. 1): „Diese Revolution starb nicht im Sand von Karbala, sie floss in den Lebensstrom der islamischen Welt und wurde von Generation zu Generation bis auf den heutigen Tag weitergereicht. Sie ist ein Pfand, das in unsere Hände gelegt wurde, damit wir von ihm profitieren, damit wir aus ihm wie aus einer Quelle eine neue Reform, eine neue Position, eine neue Bewegung, eine neue Revolution ziehen, um die Dunkelheit zurückzuwerfen, die Tyrannei zu stoppen und das Böse zu zermalmen.“21 Zu einer Massenkundgebung in Ba'lbak im März 1974 erschienen mindestens 50.000 teils bewaffnete Anhänger. Die Kundgebung endete mit einem Eid der Anwesenden, „bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen für die Rechte der Gemeinschaft“.22 Auf einer Kundgebung Mitte Februar 1974 brachte Sadr seine wachsende Frustration angesichts der verhinderten Reformen zum Ausdruck: „Wir waren in Kontakt mit vielen, wir haben oft ermahnt, wir haben viel nachgedacht, aber es blieb ohne Ergebnis. Wir haben keinerlei Hoffnung mehr auf friedliche Methoden, um unsere Forderungen durchzusetzen. [...] Wir sind müde der Worte, Gefühle und Reden. [...] Ich habe oft genug zur Ruhe aufgerufen. Von heute an werde ich keine Ruhe mehr halten. [...] Wir wollen unsere vollständigen Rechte.“23

Dass Sadr mit seinem Reformprojekt letztendlich scheiterte, hing wesentlich mit der Eskalation der Gewalt zusammen. Im Südlibanon hatte bereits 1968 eine Art Stellvertreterkrieg um Palästina begonnen, zwischen palästinensischen Guerilleros und der israelischen Armee. Schiiten wurden dabei häufig Opfer israelischer Vergeltungsschläge für palästinensische Guerilla-Aktionen. Sadr forderte deshalb wiederholt vom libanesischen Staat, die Armee zum Schutz der Zivilbevölkerung in den Süden zu entsenden. Da der libanesische Staat seine Schutzfunktion aber nicht wahrnahm, griffen die Schiiten schließlich zur Selbstbewaffnung in Form der Amal-Bewegung,24 zumal sie, das Flüchtlingselend und den Heimatverlust der Palästinenser vor Augen, dasselbe Schicksal befürchteten, wenn sie nicht standhaft ihr Land verteidigten.

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Im April 1975 begann der libanesische Bürgerkrieg, was Sadrs Reformstrategie endgültig zunichte machte. Die ohnehin schwachen Institutionen des Staates wie die Armee zerbrachen in den folgenden Jahren entlang der konfessionellen und kantonalen Grenzen des Landes. Sadr trat im Juni 1975 in einen Hungerstreik, um ein Ende der Kämpfe zu erzwingen, was ihm zunächst auch gelang. Doch wenige Tage später kam es zu einem Trainingsunfall der bis dahin noch geheim gehaltenen Amal-Miliz, bei dem mehrere Menschen starben. Die publik gewordene Bewaffnung der Schiitenbewegung diskreditierte sein Friedensengagement. Sadr betonte zwar, die Miliz diene allein der Selbstverteidigung gegen Israel, doch wurde sie immer häufiger auch in innerlibanesische Kämpfe involviert. Die Amal-Bewegung übernahm schließlich, wie die Milizen anderer Religionsgemeinschaften in ihren Territorien, Versorgungsaufgaben und die Verteidigung vor Bürgerkriegsgegnern. Sie beherrschte ihr Territorium als Klientelverband und finanzierte sich nicht nur durch Spenden reicher Auslandslibanesen, sondern auch durch Schmuggel, Wegzölle und Schutzgelderpressungen. Amal und Sadr konnten indes nicht verhindern, dass christliche Milizen 1975/76 mehrere von Schiiten bewohnte Viertel in Ostbeirut belagerten, ihre Bewohner vertrieben, viele von ihnen töteten und schließlich die Häuser zerstörten. Besonders der Verlust des größten dieser Viertel, an-Nab'a, wurde der zu konzilianten Haltung Sadrs angelastet.

Seine Anhänger verliehen Sadr den Ehrentitel Imam - in einer Kombination aus politischem Anspruch und schiitisch-eschatologischer Konnotation, wie sie später auch bei Imam al-Khumaini anzutreffen war. Seine Aura eines Heiligen verstärkte sich noch, als er auf einer Reise nach Libyen im August 1978 mitsamt seinen Begleitern unter bis heute ungeklärten Umständen „verschwand“. Möglicherweise hatte ihn Muammar al-Qaddafi höchst persönlich ermordet. Doch haben seine Anhänger bis heute nicht die Hoffnung aufgegeben, er könne noch am Leben sein und eines Tages wiederkehren. Sadrs mysteriöses Verschwinden weckte Assoziationen an den Zwölften, den „Verborgenen Imam“. Sein Posten als Vorsitzender des Obersten Schiitischen Rats blieb bis 1993 vakant, seinem 65. Geburtstag und der satzungsmäßigen Altersgrenze für dieses Amt. Der Tag seiner letzten öffentlichen Präsenz, der 31. August, wird von seinen Anhängern alljährlich kommemoriert, und seit einigen Jahren ist dies im Libanon ein offizieller Feiertag.

Musa as-Sadr vereinte verschiedene Segmente der schiitischen Gemeinschaft: reformbereite Mitglieder des Establishments, die ihre Privilegien sichern und eine „wirkliche Revolution“ der Linksparteien verhindern wollten, eine säkular-nationalistische aufstrebende Schicht, die im Ausland zu Wohlstand gelangt war, ihr Kapital nun im Libanon investieren wollte und dafür einen besseren Zugang zu staatlichen Ressourcen anstrebte, und schließlich islamistische Kreise, die eine „Islamische Revolution“ propagierten. Ohne den charismatischen Imam als Integrationsfigur traten die Interessenunterschiede innerhalb der schiitischen Bewegung offener zutage. Nach seinem Verschwinden gewannen insbesondere Islamisten an Einfluss. Für sie, die den Kurs Sadrs oft als zu kompromissbereit eingeschätzt hatten, wurde die „Islamische Revolution“ im Iran 1978/79 zur neuen Hoffnung.

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4.2. Exkurs I: Die „Islamische Revolution“ im Iran. Zwei Religionsgelehrte, Ruhullah al-Khumaini (1902-1989), der 1979 als Revolutionsführer im Iran Geschichte schreiben sollte, und Muhammad Baqir as-Sadr (1930-1980), dessen „Islamische Revolution“ im Irak 1977-1980 von Saddam Husain blutig niedergeschlagen wurde, gehörten zu den prominentesten Vordenkern und Akteuren des schiitischen Erwachens der 1950er- und 1960er-Jahre. Sie verurteilten den politischen Quietismus der traditionellen Geistlichkeit und erklärten die Taqiyya (das Verbergen des wahren Glaubens) unter den gegebenen Umständen für hinfällig. Stattdessen müssten die Tyrannen und Unrechtsregime durch Revolutionen gestürzt werden. Die Verbindung aus antiimperialistischer Rhetorik und kulturell-religiösen Motiven war typisch für die weltweiten Befreiungsideologien der 1960er- und 1970er-Jahre.

Kaum ein schiitischer Intellektueller vertrat diese Kombination aus „Dritte-Welt-Ideologie“ und autochthoner Kultur mit solcher Verve wie 'Ali Schariati (1933-1977), ein an der Sorbonne ausgebildeter iranischer Literaturwissenschaftler und Soziologe.25 Er forderte die Iraner am Vorabend der Revolution auf, die „schwarze“, unpolitische, herrschaftsnahe Schia durch die „rote“, revolutionäre Schia zu ersetzen. Die Schlacht von Karbala am 10. Tag (Aschura) des islamischen Monats Muharram interpretierte er als zeitlose Aufforderung zur permanenten Revolution. Sein Motto „Jeder Monat des Jahres ist Muharram, jeder Tag ist Aschura, jeder Boden Karbala“ gehörte 1978/79 zu den beliebtesten Parolen der Massenkundgebungen. Er selbst starb kurz vor Ausbruch der Revolution 1977 in London unter ungeklärten Umständen - möglicherweise an Herzversagen oder vom Geheimdienst des Schah (SAVAK) ermordet.

Die Demonstrationen der Iranischen Revolution von 1978/79 gingen als die bis dahin weltweit größten spontanen Massenkundgebungen in die Geschichte ein. An manchen Tagen waren mehrere Millionen Menschen auf den Straßen, obwohl bei den Kundgebungen häufig Hunderte, mitunter Tausende unbewaffnete Demonstranten von den Sicherheitskräften erschossen wurden. Ohne die schiitischen Motive von Revolution und Martyrium lässt sich dieses Phänomen wohl kaum erklären. Die Demonstranten sahen in den Ereignissen die Wiederholung des ungleichen Kampfes von Karbala im Jahre 680 n.Chr. Wie damals Imam al-Husain, so demonstrierten sie nun furchtlos gegen den Yazid ihrer Zeit, den Schah Muhammad Reza Pahlavi, der vom „Großen Satan“ USA militärisch hochgerüstet worden war. Wie der „Fürst der Märtyrer“ al-Husain zogen die Demonstranten, den eigenen Tod als Märtyrer riskierend, in den Kampf gegen die Truppen des Tyrannen.26 Diese Opferbereitschaft zermürbte die Moral der Sicherheitskräfte, die immer häufiger den Befehl verweigerten und sich den Aufständischen anschlossen. Im Februar 1979 siegte die Revolution mit dem Rücktritt von Shahpur Bakhtiyar, dem letzten vom Schah eingesetzten Ministerpräsidenten, und der Bildung einer provisorischen Revolutionsregierung unter Mehdi Bazargan.

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Die Iranische Revolution übte trotz ihres stark schiitischen Gepräges zunächst große Anziehungskraft aus - auch auf sunnitisch-islamistische, ja sogar auf säkulare linke und nationalistische Oppositionsbewegungen im Nahen und Mittleren Osten.27 Während des Ersten Golfkriegs zwischen arabischem Irak und persischem Iran (1980-1988) verlor das schiitische Revolutionsmodell unter arabischen Sunniten jedoch rasch an Ansehen, da die Kulturgrenze von Arabern versus Persern den Sunna-Schia-Gegensatz noch verstärkte. Bis heute gehört zur antischiitischen Polemik das Argument, die Araber bewahrten den ursprünglichen - sprich sunnitischen - Islam, während die Perser/Iraner ihn mit vorislamischen, zoroastrischen Elementen vermengt und zum schiitischen Islam verfälscht hätten.28

4.3. Exkurs II: Radikalisierung und Gründung der Hizb Allah. Den nachhaltigsten Einfluss hatte das iranische Vorbild auf die Entwicklung des Islamismus der Schiiten im Libanon. Diese iranisch-libanesische Verbindung konnte dabei an eine lange Vorgeschichte anknüpfen.29 Während der Herrschaft des Schahs hatten prominente iranische Oppositionelle ihr Exil im Libanon verbracht, und einige von ihnen übernahmen nach der Revolution wichtige Funktionen im iranischen Regime.30 Schon während der Revolution formierten sich im Libanon „Unterstützungskomitees für die Islamische Revolution“ und andere dem damals noch diffusen iranischen Revolutionsmodell nacheifernde Splittergruppen.31

Im März 1978 startete Israel eine Großoffensive gegen den Libanon mit dem Ziel, eine „Sicherheitszone“ entlang der Grenze zu errichten und dadurch palästinensische Guerilla-Aktionen gegen Israel zu unterbinden. Diese so genannte „Litani-Operation“ hatte verheerende Auswirkungen für den Südlibanon - rund 2.000 Tote (viele von ihnen Schiiten), Hunderttausende Binnenflüchtlinge und große Verwüstungen. Seitdem hielt Israel die „Sicherheitszone“ besetzt, einen zwischen 10 und 20 km breiten Streifen libanesischen Territoriums. Auch die UNO-Resolution 425 vom 19. März 1978, in der Israel zum sofortigen Rückzug vom libanesischen Territorium aufgefordert wurde, und die im Südlibanon stationierten UNIFIL-Truppen änderten hieran nichts. Für viele Schiiten erwies sich wieder einmal, dass ihnen weder der libanesische Staat noch die arabischen „Brüder“, ja nicht einmal die internationale Staatengemeinschaft helfen konnten oder wollten.

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Die Phase zwischen dieser ersten israelischen Invasion von 1978 und der zweiten, noch weitaus massiveren im Sommer 1982 war gewissermaßen die Inkubationszeit des revolutionären schiitischen Islamismus im Libanon. Seinerzeit kehrten junge Religionsgelehrte aus dem Irak in den Libanon zurück, um der Verfolgung durch das Saddam-Regime zu entfliehen - so auch die beiden späteren Generalsekretäre der Hizb Allah, Abbas al-Musawi (1952-1992) und Hasan Nasrallah (s.u., 4.5.). Sie gründeten theologische Schulen und religiöse Kulturzentren, in denen sie ihre aktivistische Islaminterpretation lehrten und verbreiteten. Auf dieses Netzwerk dezentraler Einrichtungen konnte später die Hizb Allah aufbauen.

Der Krieg von 1982 wurde zum Initial für den „revolutionären“ Islamismus, wobei die Asymmetrie des Krieges wesentlich zur Radikalisierung beitrug. Am 6. Juni begann die Invasion „Frieden für Galiläa“. Israelische Truppen stießen bis Beirut vor, belagerten wochenlang den Westteil der Hauptstadt und besetzten ihn schließlich. In diesem Fünften Nahostkrieg starben fast 20.000 Menschen, 32.000 wurden verletzt. Neben den Palästinaflüchtlingen waren wieder Schiiten die Hauptleidtragenden. Weder die libanesische Armee noch die im Land stationierten syrischen Truppen leisteten nennenswerten Widerstand. Keiner der (sunnitischen) arabischen „Bruderstaaten“ kam zu Hilfe. Einzig der schiitische Iran entsandte im Sommer 1982 Revolutionswächter (Pasdaran) in den Libanon, die Militärtraining, Waffen und religiöse Propaganda boten und zu den Geburtshelfern der Hizb Allah wurden. 1982 schien die Zeit reif für eine islamistische Widerstandsbewegung.

Die israelischen Besatzungstruppen im Libanon verhielten sich der schiitischen Zivilbevölkerung gegenüber sehr unsensibel, verhafteten renitente Religionsgelehrte, entweihten Gebetshäuser und störten im Oktober 1983 eine Aschura-Prozession in der südlibanesischen Ortschaft Nabatiyya. Die Verletzung dieser religiösen Symbole und die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der technologisch weit überlegenen israelischen Armee aktualisierten für viele Schiiten das Gefühl, einer eschatologisch relevanten Schlacht beizuwohnen, was das Erstarken des Islamismus förderte. Die Konstellation, in der die israelische Armee mit Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen und Panzern gegen mit leichten Bürgerkriegswaffen kämpfende Guerilleros focht, ähnelte dem Karbala-Mythos des ungleichen Gefechts zwischen Imam al-Husain und den Truppen des tyrannischen Kalifen Yazid. Mit der Bereitschaft, im Kampf für die Gerechtigkeit und gegen die Tyrannei den Märtyrertod zu sterben, warfen sich schon im Juni 1982 erstmals schiitische Kämpfer als „menschliche Wellen“ den israelischen Truppen in der Küstenstadt Khalde entgegen, um den Vormarsch auf Beirut zu stoppen. Die frühe Phase des Widerstands von 1982 bis 1984 erlangte dabei durch eine Reihe von spektakulären „Selbsttötungsanschlägen“ schiitischer Attentäter weltweite Aufmerksamkeit. Die Anschläge richteten sich unter anderem zweimal gegen das israelische Hauptquartier in Sur, gegen die US-Botschaften in West- und Ostbeirut und vor allem gegen die Hauptquartiere der US-amerikanischen und französischen Kontingente der Multinational Forces (MNF). Als Konsequenz dieser Anschläge, die zusammen rund 500 Menschenleben kosteten, verließen die MNF 1984 den Libanon, und Israel zog bis 1985 seine Truppen in die bereits 1978 okkupierte „Sicherheitszone“ im Südlibanon zurück.

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Die Hizb Allah selbst begrüßte zwar im Nachhinein die Anschläge auf militärische Ziele, leugnet aber eine unmittelbare Beteiligung. Obwohl in der Folge auch linke und nationalistische Gruppierungen, muslimische, christliche und atheistische Attentäter und Attentäterinnen solche seinerzeit im Libanon populären Selbsttötungsattentate verübten, wird diese Anschlagsform heute meist als typisch islamisch wahrgenommen. Im Repertoire der Hizb Allah, die sich zu insgesamt zwölf solcher Attentate gegen israelisches Militär auf libanesischem Boden bekannte, spielte diese Methode indes eine immer geringere Rolle. Den Vorrang erhielt ein Guerillakrieg, bei dem bis zum israelischen Rückzug im Jahr 2000 rund 1.300 Kämpfer den „Märtyrer“-Tod fanden.32 Eine anfangs noch zelotenhafte „Martyriumsbereitschaft“ wich dabei einer zunehmend professionellen Taktik, in der eigene Verluste möglichst reduziert und diejenigen der Gegner maximiert wurden.

Der Gleichstand der Kräfte, so der Religionsgelehrte und stellvertretende Generalsekretär der Hizb Allah, Na'im Qasim, wäre zwar niemals ohne die Bereitschaft zum Martyrium erreicht worden; besser sei es jedoch, dem Feind ohne Märtyrer Schaden zuzufügen. „Wenn wir das Töten des Feindes erreichen könnten, ohne selber einen Tropfen Blut zu vergießen, so wäre dies eine Pflicht. Das Martyrium (istischhad) zielt darauf ab, das zugunsten des Feindes bestehende Kräfteverhältnis zu brechen. Wenn dies anders erreicht werden kann, so ist dies prioritär, da die kostbare Seele nicht dargebracht werden soll, außer am Ende des Lebens. Wenn man eine Anzahl von Feinden beispielsweise mit einer Sprengladung töten kann, dann ist es nicht erlaubt, das Martyrium als Alternative einzusetzen.“33

Die Hizb Allah lehnte sich anfangs unmittelbar an die revolutionäre Ideologie des Iran an. Ihr Parteilogo trug die Unterschrift „Die Islamische Revolution im Libanon“. Die in den 1980er-Jahren noch anonyme Führungsriege vorwiegend junger Theologen gab als allgemeine Zielsetzungen aus, den bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung zu führen, im Dienste der Menschen zu stehen und die Zusammenarbeit mit anderen Kräften „zur Vereinigung der Interessen“ zu suchen.34 Am 16. Februar 1985 veröffentlichte die Hizb Allah ihren programmatischen „Offenen Brief“, in dem sie zur Bildung einer „Weltfront der Entrechteten“ aufrief, „die alle Befreiungsbewegungen mit dem Ziel vereint, all ihre Aktivitäten zu koordinieren, um ihre Effizienz zu steigern und sich auf die Schwäche ihrer Feinde zu konzentrieren“.35 Einen Putsch oder die revolutionäre Implementierung einer „Islamischen Republik“ nach iranischem Vorbild lehnte die Hizb Allah jedoch ab. Im Offenen Brief heißt es: „Deshalb wollen wir euch den Islam nicht aufzwängen, und wir hassen es, dass die anderen uns ihre Überzeugungen und Systeme aufzwängen. Wir wollen nicht, dass der Islam mit Gewalt herrscht, so wie der politische Maronitismus heute herrscht.“36

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4.4. Der Vordenker Muhammad Husain Fadlallah. Wegweisender Denker und „spiritueller Mentor“ der Hizb Allah, wenngleich weder ihr Gründer noch ihr „Präsident“, wie immer wieder fälschlich zu lesen ist, war zu jener Zeit der Religionsgelehrte as-Sayyid Muhammad Husain Fadlallah.37 Er wurde 1935 in Najaf geboren, wohin seine Familie 1928 aus dem südlibanesischen Dorf Ainata emigriert war. Wie Musa as-Sadr und auch Hasan Nasrallah (s.u., 4.5.) führt er seine Genealogie bis auf den Propheten Muhammad und die Imame zurück, weshalb er einen schwarzen Turban trägt und als Sayyid tituliert wird. Bereits mit neun Jahren begann er an der schiitischen Hochschule von Najaf seine Ausbildung zum Theologen und Rechtsgelehrten; später erlangte er den Rang eines Mujtahid. Mit seinem Kommilitonen Muhammad Baqir as-Sadr, dem Mitgründer der Hizb ad-Da'wa im Irak, verband ihn ein politisiertes und reformerisches Verständnis des Islams, der, wie Fadlallah betont, dem Menschen nützen müsse, und nicht umgekehrt. So entwickelte er ein dynamisches Verständnis des islamischen Rechts (Schari'a) und der Rechtsmethodik (Fiqh), die den wechselnden Zeitumständen angepasst werden müssten. Er hat dieses Verständnis in Dutzenden von teils mehrbändigen Büchern ausgearbeitet.

Bei seiner Rückkehr in den Libanon ließ sich Fadlallah 1966 in an-Nab'a nieder, einem vorwiegend von schiitischen Landflüchtlingen bewohnten Viertel in Ostbeirut. Aus religiösen Abgaben finanzierte er den Aufbau karitativer und pädagogischer Institutionen. In der ersten Bürgerkriegsphase von 1975/76 vertrieben jedoch radikale christliche Milizen die Bewohner von an-Nab'a und massakrierten 3.000 von ihnen. Fadlallah verlor dabei Familienangehörige und all seine Einrichtungen. In seinem im Mai 1976 verfassten Werk „Der Islam und die Logik der Stärke“ propagierte er deshalb eine präventive Aufrüstung der Muslime, um solche Angriffe künftig auszuschließen: „Der Islam verlangt von uns, dass wir in jeder Hinsicht die Stärkeren sein sollen, um [...] den Krieg zu verhindern, d.h. die anderen von Feindseligkeiten abzuhalten, indem man die große Kraft mobilisiert, die den Feind das Fürchten lehrt und ihn abschreckt, damit er sich jeden Schritt tausendfach überlegt, bevor er sich in seine [d.h. des Krieges] Richtung bewegt.“38

Die Iranische Revolution verstärkte das politische Engagement Fadlallahs, wenngleich er stets eine gewisse Distanz zu der im Iran verwirklichten Herrschaftslehre al-Khumainis behielt, der zufolge der oberste Rechtsgelehrte auch politisches Oberhaupt sein müsse. Er unterstützte den „Islamischen Widerstand“ der Hizb Allah gegen die israelische Besatzung im Südlibanon, folgte aber nicht ihren anfänglich dogmatischen und für den libanesischen Kontext unpassenden Vorstellungen einer „Islamischen Republik im Libanon“ sowie ihren autoritären Parteistrukturen. Manche westliche Politiker und Medien lasteten ihm dennoch eine Verantwortung für den Terrorismus in den 1980er- Jahren an, besonders für die Selbstmordattentate gegen US-amerikanische und französische Ziele und die Geiselnahme westlicher Ausländer. Fadlallah hat diese jedoch nie religionsrechtlich sanktioniert und die Entführung von Zivilisten immer verurteilt. Allerdings äußerte er durchaus Verständnis für die Attentäter: „Unterdrückte Menschen können sich nicht immer vernünftig verhalten.“39

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Fadlallah wurde selbst mehrfach das Opfer von Gewalt prowestlicher Kräfte. So hatte ihn Mitte 1982 die christliche Kata'ib-Miliz einige Tage lang gekidnappt, und im März 1985 entkam er nur durch Zufall einem der schwersten Bombenanschläge des Kriegs, der auf ihn abzielte und in den die CIA und der libanesische Geheimdienst verwickelt gewesen sein sollen. Eine Autobombe riss mitten in dem dicht bewohnten Viertel Bi'r al-'Abd mehr als 80 Menschen in den Tod, über 200 wurden verletzt. „Deshalb respektieren wir seit dieser Zeit, und auch schon davor, keine Mahnrede der Amerikaner mehr über die Menschenrechte, die Ablehnung des Terrorismus, über die Freiheit und ähnliches.“40

Gleichzeitig ist auf Fadlallahs Tätigkeit der Prozess der „Libanonisierung“ der Hizb Allah zurückzuführen, d.h. der schrittweise Verzicht auf transnationale Ideologeme und die Anpassung der islamistischen Ideologie an die besonderen Gegebenheiten des Libanon. So sollen die Abkehr vom Konzept einer „Islamischen Republik im Libanon“ und die Entscheidung zur Teilnahme an den Parlamentswahlen 1992 auf seinen Einfluss zurückgegangen sein. Mitte der 1990er-Jahre überwarf sich Fadlallah jedoch mit der Führungsriege der Hizb Allah in der Frage der obersten religiösen Autorität. Bei seinen Anhängern gilt er als Marja' at-Taqlid und ist somit der ranghöchste schiitische Gelehrte im Libanon. Er trat damit in Konkurrenz zum iranischen „Revolutionsführer“ Ali Khamene'i, den die Hizb Allah als Marja' anerkannte.41 Dennoch folgen viele Anhänger der Hizb Allah bis heute Fadlallahs religiösen Urteilen. Sowohl Fadlallah als auch die Hizb Allah verurteilten die Anschläge vom 11. September 2001 als terroristisch. Dennoch setzten die USA sie im Zuge des „Kriegs gegen den Terrorismus“ auf ihre Terrorismusliste, obwohl sie nichts mit al-Qa'ida zu tun hatten. Im Sommerkrieg 2006 zerstörte die israelische Luftwaffe die Wohnhäuser von Fadlallah und Nasrallah in Harat Hraik in Südbeirut. Diese Schicksalsgemeinschaft führte zum erneuten Schulterschluss der beiden Kräfte.

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4.5. Der Akteur der Transformation: Hasan Nasrallah. Während Musa as-Sadr als charismatischer Führer einer sozialen Massenbewegung auftrat (s.o., 4.1.), repräsentiert Muhammad Husain Fadlallah den Typus des politisch engagierten klassischen Religionsgelehrten, der sich durch seine Gelehrsamkeit auszeichnet. As-Sayyid Hasan Nasrallah, der dritte hier vorzustellende Religionsgelehrte, erwarb sein Ansehen und Charisma unter Libanons Schiiten durch seine aktive Beteiligung und Leitung des „Islamischen Widerstands“ gegen die israelische Besatzung. Seit dem bedingungslosen Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon im Mai 2000 und besonders seit dem „Sieg“ der Hizb Allah im Sommerkrieg 2006 verehren ihn seine Anhänger wie einen Heiligen.

Hasan Nasrallah nach dem Sommerkrieg 2006:
„Die Waffe, die den Boden befreit hat, ist eine heilige Waffe“
(Foto: Stephan Rosiny, Oktober 2006)
 

Nasrallah wurde am 31.8.1960 geboren.42 Obwohl auch seine Familie ihre Genealogie auf die Imame zurückführt und er deshalb als Sayyid angesprochen wird und einen schwarzen Turban trägt, war sein Vater doch nur ein mittelloser Obst- und Gemüsehändler. Diese Herkunft aus einfachen Verhältnissen und einer bildungsfernen Familie förderte Nasrallahs Image als ein Selfmademan, der seine Gelehrsamkeit und seinen politischen Erfolg allein durch persönliches Engagement erreicht habe. Wie viele Landflüchtlinge wuchs Hasan in einem der Elendsviertel Beiruts auf, al-Karantina, dem ehemaligen „Quarantäne“-Viertel des Beiruter Hafens. Bereits aus dieser Zeit ist sein frühes Interesse an religiösen Studien überliefert. Er soll gebrauchte Religionsbücher gelesen und in Moscheen gebetet haben. Wie an-Nab'a wurde auch al-Karantina in der ersten Bürgerkriegsphase 1975/76 von christlichen Milizen ethnisch-konfessionell „gesäubert“. Das Massaker von al-Karantina im Januar 1976 gehörte zu den grausigen Höhepunkten - den Leichen wurden als Triumphgeste teils Kreuze in die Haut geritzt.

Die Familie Nasrallah war zu Beginn des Bürgerkriegs in ihr südlibanesisches Heimatdorf Bazuriyya gezogen. Hasan trat der Amal-Bewegung bei und wurde bereits mit 15 Jahren deren Dorfvorsitzender. Zwischendurch studierte er an der theologischen Hochschule von Najaf, später noch einmal in Qom. Als Amal im Krieg 1982 den Widerstand gegen die israelische Besatzung aufgab und der Regierung der Nationalen Rettung beitrat, verließen Hasan Nasrallah und andere Islamisten enttäuscht die Bewegung. Mit gerade einmal 22 Jahren gehörte er 1982 zu den jungen Gründungsmitgliedern der Hizb Allah und übernahm von Anfang an führende Funktionen in ihr. Im Alter von nur 31 Jahren wurde er im Februar 1992 zu deren Generalsekretär gewählt. Eine solch steile „Karriere“ und verantwortliche Position in jungen Jahren hätte er als bloßer Religionsgelehrter nie erreichen können. Hier manifestiert sich im schiitischen Kontext ein neuer Typus religiöser Autorität, die weniger auf Gelehrsamkeit denn auf politisch-militärischem Aktivismus beruht.

1997 kam Nasrallahs 18-jähriger Sohn Hadi als „Märtyrer“ bei einer Guerillaoperation im Südlibanon ums Leben, und seine Leiche wurde triumphalistisch in israelischen Medien vorgeführt. Doch Hasan Nasrallah verkündete, Israel solle sich nicht einbilden, von diesem Umstand profitieren zu können. Denn der Leichnam seines Sohnes werde wie der eines jeden anderen Gefallenen bei Verhandlungen über einen Austausch behandelt. Solche Gesten, die eigene Macht nicht für eine Vorzugsbehandlung auszunutzen, prägten sein positives Image und bescherten ihm Kultstatus im Nahen Osten, da sie in markantem Gegensatz zu den oft leeren Parolen und den Privilegien der meisten dortigen Herrscher stehen.

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Unter Nasrallahs Führung als Generalsekretär änderte sich ab Februar 1992 die Militärtaktik der Hizb Allah: Nun stürmten die Kämpfer nicht mehr zelotenhaft als „menschliche Wellen“ gegen israelische Posten, sondern operierten als Guerillamiliz funktional diversifiziert nach Waffen und Taktiken. Die Informationsbeschaffung wurde professionalisiert, und die Kommandeure im Feld erhielten größere Autonomie. Die Zahl der Angriffe auf israelische Posten wuchs von 19 im Jahr 1990 auf 187 im Jahr 1994. In den letzten Monaten der Besatzung 1999-2000 betrug sie 300 Angriffe pro Monat. Das Verhältnis der eigenen Opfer zur Zahl der Getöteten verschob sich von 5:1 (1990) auf 3:2 (Ende der 1990er-Jahre).43

Auch innenpolitisch verschoben sich die Parolen und Ansprüche der Partei von ideologisch überhöhten Forderungen hin zu pragmatischen und realistischeren Zielen. So wurde Anfang der 1990er-Jahre das Parteilogo „Die Islamische Revolution im Libanon“ aufgegeben und durch die Bezeichnung „Der Islamische Widerstand im Libanon“ ersetzt. Die Hizb Allah trat bei den Parlamentswahlen von 1992 und 1996 als einzige Partei mit schriftlichen Programmen an. In ihnen war keine Rede mehr von einer „Islamischen Revolution“, sondern sie enthielten im Wesentlichen ein nationallibanesisches Entwicklungsprogramm mit Forderungen nach Reformen der Wirtschaft, Verwaltung, des staatlichen Bildungswesens und des Sozialsystems. Als die beiden Hauptziele wurden 1992 genannt: „1. die Befreiung des Libanon von der zionistischen Besatzung und der mentalen Abhängigkeit vom Imperialismus, 2. die Abschaffung des politischen Konfessionalismus.“44 Das Territorium des Libanon galt nun als primäre Bezugsgröße. In ihrem Wahlprogramm von 1996 stellte sich die Hizb Allah als „die Partei des Widerstands und der Befreiung, die Partei der Standfestigkeit und des Aufbaus und der Veränderung in Richtung auf eine bessere Realität“ vor.45

Der bedingungslose Rückzug Israels aus dem Südlibanon am 25. Mai 2000 war der größte Triumph für Hasan Nasrallah. Gleichwohl blieben auch danach ungelöste Konflikte mit Israel bestehen. So hielt die israelische Armee weiterhin die Schab'a-Farmen besetzt, und es kam fast täglich zu israelischen Grenzverletzungen zu Wasser, zu Land und durch Überflüge. Der Libanon forderte weiterhin die Freilassung in israelischen Gefängnissen einsitzender Libanesen und die Herausgabe von Karten der Minenfelder, die die israelische Armee im Südlibanon zurückgelassen hatte und durch die es immer wieder zu zivilen Opfern unter den Bewohnern der Grenzregion kommt.

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Der Sommerkrieg von 2006 zwischen Israel und der Hizb Allah war die Folge dieser ungelösten Konflikte. Trotz der über 1.000 zivilen libanesischen Opfer und der enormen Zerstörung an Infrastruktur und Wohneinheiten wurde sein Ausgang von der Hizb-Allah-Propaganda als „Sieg von Gott“ (Nasr min Allah) gefeiert, was zugleich ein Wortspiel mit dem Namen ihres Führers Hasan Nasr-allah war. Dass er auch diesen Krieg überlebte - wie schon so viele zuvor auf ihn geplante Mordattentate -, verlieh ihm die Aura eines Heiligen. Israel war es nicht gelungen, seine Kriegsziele zu erreichen. Vielmehr stärkte der Sommerkrieg besonders unter Schiiten den Nimbus der Hizb Allah, die wahre Beschützerin des Landes gegen israelische Invasionen zu sein. Denn die libanesische Armee, die nur an wenigen Stellen in die Kämpfe eingegriffen hatte, war wegen ihrer mangelhaften Bewaffnung praktisch handlungsunfähig. Bei Angehörigen anderer Konfessionen verstärkte sich hingegen die Sorge, die schiitische Hizb Allah könne sich weiter zu einem „Staat im Staate“ entwickeln. Die anschließende innenpolitische Blockade rührte wesentlich aus dieser unterschiedlichen Bewertung des Sommerkriegs 2006 und seiner Folgen her. Das libanesische Rumpfkabinett - alle schiitischen Minister waren Ende 2006 zurückgetreten - beschloss Anfang Mai 2008, das Telekommunikationsnetz der Hizb Allah zu revidieren. Auf einem Treffen in Doha (Qatar) unterzeichneten die Konfliktparteien schließlich am 25.5.2008 ein Abkommen, das unter anderem eine stärkere Repräsentanz der Hizb Allah und der mit ihr verbündeten Parteien in einer „Regierung der Nationalen Einheit“ vorsah. Nasrallah wertete dies als Kriegserklärung gegen den Widerstand, der ohne die Kommunikationsstruktur einem erneuten israelischen Angriff schutzlos ausgelie-fert sei. Seine Milizionäre besetzten innerhalb weniger Stunden Westbeirut und zwangen die Regierung dazu, den Kabinettsbeschluss zu revidieren.

5. Fazit

Für die Entwicklung und die religiösen Handlungsmuster der schiitischen „Islamischen Bewegung“ im Libanon sind drei Faktoren charakteristisch:

• Die politische und gesellschaftliche Situation ist seit mehreren Jahrzehnten von Gewalt geprägt. Die unvollständige Modernisierung im Libanon weckte bei Schiiten die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage und eine gleichberechtigte Integration in die Gesellschaft. Doch sie wurden durch den politischen Konfessionalismus und Klientelismus wirtschaftlich diskriminiert und gesellschaftlich enttäuscht. Sie litten unter der physischen Gewalt des Bürgerkriegs, der externen Militärinterventionen und der Besatzung durch Israel mehr als andere Gemeinschaften. Ihre Mobilisierung und Gewaltanwendung geschah somit zunächst in Reaktion auf die Erfahrungen von Diskriminierung, Leid und Gewalt.

• Schiiten kennen Präzedenzien der Entrechtung und der Rebellion aus ihrer Heilsgeschichte und dem Vorbild ihrer Imame. Besonders der dritte Imam al-Husain hatte gegen das Unrecht des tyrannischen, usurpatorischen Kalifen Yazid aufbegehrt und war als Märtyrer gestorben. Dieses historische Bezugsereignis konnte noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also rund 1.300 Jahre später, als politisch-religiöser Mythos wirksam werden.

• Solche religiösen Symbole und Handlungsmuster können die Problemwahrnehmung und das Handeln religiöser Menschen präfigurieren, aber sie determinieren es nicht vollständig. Vielmehr können sie situativ unterschiedlich gedeutet und befolgt werden. Traditionell wurde des Martyriums von Imam al-Husain mit Weinen und an manchen Orten mit Selbstgeißelung gedacht. Mitte des 20. Jahrhunderts traten junge Religionsgelehrte auf, die die Symbole und Vorbilder ihren Gemeinden bewusstmachten und den Märtyrertod der Imame aktivistisch uminterpretierten. Man solle nicht mehr deren Schicksal beklagen, sondern aktiv dem Vorbild des rebellischen Imam al-Husain folgen, selbst wenn die Situation angesichts einer überwältigenden Übermacht aussichtslos erscheine. Die Gelehrten hielten somit das Narrativ der eigenen Heilsgeschichte lebendig, ordneten es in das aktuelle Geschehen ein und „übersetzten“ es in politische Handlungsanweisungen.

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Wichtige Impulse dieser Umdeutung gingen von der theologischen Hochschule in Najaf (Irak) und der Revolution im Iran aus. Doch die vom Iran ausgegebene Parole der „Islamischen Revolution“ passte nicht zur Situation der libanesischen Schiiten. Sie litten angesichts des Bürgerkriegs, der Invasionen und der Besatzung nicht unter einem tyrannischen Regime, sondern unter einem zu schwachen bzw. fehlenden Staat, der sie nicht beschützen konnte. Erst mit der Transformation ihres Ziels von der „Islamischen Revolution“ zum „Islamischen Widerstand“ traf die Hizb Allah die zentralen Bedürfnisse der Schiiten: eine deutliche Abnahme der israelischen Angriffe auf libanesische Wohngebiete und ein Ende der Besatzung. Dies erreichte die Hizb Allah durch eine zunehmend zweckrationale Anpassung ihrer Methoden.

Es gelang den drei hier porträtierten Führern, das von Schiiten im Libanon erlittene Leid und ihre Diskriminierung in das übergeordnete schiitische Narrativ einer permanenten Revolution zwischen Recht und Unrecht, Freiheit und Tyrannei, Unterdrückten und Unterdrückern einzubinden. Sie gaben dadurch dem aktuellen Geschehen Bedeutung; sie weckten den Widerstandswillen und die Opferbereitschaft der Betroffenen. Schließlich stifteten sie die Heilsgewissheit, dass sich der Einsatz trotz der Dauer des Konflikts, zahlreicher Rückschläge und Zehntausender Toter unter Libanons Schiiten letzten Endes lohnen werde. Aus der erfolgreichen Wiederbelebung und Umdeutung des rebellischen, revolutionären Potenzials der frühen schiitischen Geschichte bezogen die Religionsgelehrten zugleich Legitimität für ihre eigene religiöse Autorität als Bewahrer des religiös-kulturellen Erbes. Die Problemwahrnehmung der libanesischen Schiiten, immer wieder von übermächtigen, tyrannischen Gegnern diskriminiert, angegriffen und unterdrückt zu werden, die starken religiösen Symbole von Martyrium und Rebellion sowie die kämpferischen Religionsgelehrten, die diese Analogie aufdeckten, verstärkten sich somit wechselseitig.

Anmerkungen: 

1 Die Begriffe „Islamisten“ und „Islamismus“ werden in den Medien zunehmend pejorativ mit terroristischer Gewalt assoziiert. Hier soll Islamismus jedoch als analytischer Terminus verstanden werden, der die zeitgenössische Form gesellschaftspolitischer Ideologiebildung im Islam bezeichnet. Islamisten gehen davon aus, dass der Islam als zentrale Bezugsgröße für alle Bereiche des Lebens, insbesondere für die Politik, Regeln und Lösungen bereithalte. Für eine Charakteristik und Typologie des Islamismus siehe Stephan Rosiny, „Der Islam ist die Lösung“ - Zum Verhältnis von Ideologie und Religion im Islamismus, in: Walter Feichtinger/Sibylle Wentker (Hg.), Islam, Islamismus und islamischer Extremismus. Eine Einführung, Wien 2008, S. 61-76.

2 Wenn im Folgenden von Schiiten die Rede ist, so sind damit Anhänger der Zwölferschia gemeint (zur Erläuterung s.u., Kap. 1). Sie sind mit ca. 90 Prozent die größte Richtung innerhalb der Schiiten, die mit ca. 10 bis 20 Prozent ihrerseits eine Minderheit der heute rund 1,3 Milliarden Muslime bilden.

3 Singular Alim, Plural Ulama: Wissender, Gelehrter, im islamischen Kontext: Religionsgelehrter.

4 Entsprechend reißerische Buchtitel lauteten etwa: Rolf Tophoven, Sterben für Allah. Die Schiiten und der Terrorismus, Bonn 1991; Robin Wright, Die Schiiten, Allahs fanatische Krieger, Hamburg 1985.

5 Ausführlich geht darauf ein: Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008, S. 17-23.

6 Auf die verschiedenen Formen der nach Ansicht der Hizb Allah und in ihrem Umfeld erlaubten und verbotenen Formen von Gewalt und Bedingungen zu deren Anwendung soll hier nicht näher eingegangen werden, da ich dies an anderer Stelle ausführlich behandelt habe: Stephan Rosiny, Religiöse Freigabe und Begrenzung der Gewalt bei der Hizb Allah im Libanon, in: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hg.), Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger, Freiburg i.Br. 2008, S. 157-183. Allgemein zu Gewaltlegitimationen im Islam: Stephan Rosiny, Der jihad. Eine Typologie historischer und zeitgenössischer Formen islamisch legitimierter Gewalt, in: Hildegard Piegeler/Inken Prohl/Stefan Rademacher (Hg.), Gelebte Religionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hartmut Zinser, Würzburg 2004, S. 133-149.

7 Shereen Khairallah/Thom Sicking, The Shi'a Awakening in Lebanon. A Search for Radical Change in a Traditional Way, in: CEMAM-Reports 1974 (Center for the Study of the Modern Arab World), Bd. 2, Beirut 1975, S. 97-130.

8 Daher der Name Schia: Schi'at 'Ali = „Partei Alis“.

9 Eine anschauliche Beschreibung von Studium und Leben an der theologischen Hochschule von Qom (Iran) mit historischen Exkursen bis in die Frühzeit des Islams und aktuellen Bezügen liefert Roy Mottahedeh, Der Mantel des Propheten oder das Leben eines persischen Mullah zwischen Religion und Politik, München 1988.

10 Linda S. Walbridge (Hg.), The Most Learned of the Shi'a. The Institution of the Marja' Taqlid, New York 2001.

11 Mottahedeh, Der Mantel des Propheten (Anm. 9), S. 153.

12 Im Mai 1892 etwa musste Nasir ad-Din Schah eine Tabakkonzession zurücknehmen, die er den Briten zuvor zum Ausgleich seines verschuldeten Staatsbudgets verkauft hatte, nachdem der hochrangige Gelehrte Muhammad Hasan asch-Schirazi die Iraner erfolgreich zum Tabakboykott aufgerufen hatte. Zahlreiche Beispiele volksnaher Mobilisierung finden sich in Mottahedeh, Der Mantel des Propheten (Anm. 9).

13 So wurde etwa die Hizb ad-Da'wa al-Islamiyya (Partei des Islamischen Rufs) um 1958 im Irak gegründet. Zu religiösen Parteien und Bewegungen im Irak vgl. Faleh A. Jabar, The Shi'ite Movement in Iraq, London 2003.

14 Silvia Naef, Shi'i - shuyu'i or: How to Become a Communist in a Holy City, in: Rainer Brunner/Werner Ende (Hg.), The Twelver Shia in Modern Times. Religious Culture & Political History, Leiden 2001, S. 255-267.

15 As'ad AbuKhalil, Ideology and Practice of Hizballah in Lebanon. Islamization of Leninist Organizational Principles, in: Middle Eastern Studies 27 (1991), S. 390-403.

16 Muhammad Mahdi Schams ad-Din, Thaurat al-Husain wa waqi'una ar-rahin [Die Revolution al-Husains und unsere momentane Lage], in: al-Adwa Nr. 3, 10.7.1960; wiederabgedruckt in: ders., Dirasat wa mawaqif fi l-fikr wa-s-siyasa wa-l-mujtama' [Studien und Positionen zu Ideen, Politik und Gesellschaft], Bd. 1, Beirut 1990, S. 14-18, hier S. 17. Muhammad Mahdi Schams ad-Din (1936-2001) schloss sich nach seiner Rückkehr in den Libanon 1969 der Bewegung von Musa as-Sadr an (s.u., 4.1.).

17 Sunnitische Salafiten (im eigentlichen Sinne „fundamentalistische“ Islamisten) wollen zum Vorbild der idealistisch verklärten „rechtschaffenen Altvorderen“ zurückkehren, das ihrer Ansicht nach im frühen Kalifat verwirklicht war. Schiiten setzen das frühe „sunnitische“ Kalifat hingegen mit Tyrannei und Unterdrückung gleich. Sie kennen - abgesehen von der kurzen Regierungszeit Imam Alis (656-661) - keinen Präzedenzfall eines idealen islamischen Staates, zu dem zurückzukehren es sich lohne.

18 Ausführlich zum Folgenden: Stephan Rosiny, Islamismus bei den Schiiten im Libanon. Religion im Übergang von Tradition zur Moderne, Berlin 1996. Für eine detaillierte Chronologie der Ereignisse siehe Andreas Rieck, Die Schiiten und der Kampf um den Libanon. Politische Chronik 1958-1988, Hamburg 1989.

19 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1976, S. 85.

20 Zu seiner familiären Herkunft und Biographie vgl. Fouad Ajami, The Vanished Imam. Musa as-Sadr and the Shia of Lebanon, Ithaca 1988; Majed Halawi, A Lebanon Defied. Musa as-Sadr and the Shi'a Community, Boulder 1992; Rieck, Die Schiiten (Anm. 18), S. 83ff.

21 Khairallah/Sicking, The Shi'a Awakening (Anm. 7), S. 115.

22 Ebd., S. 119.

23 Ebd., S. 118.

24 Amal bedeutet in Arabisch „Hoffnung“. Die Bezeichnung steht zugleich als Akronym für Afwaj al-Muqawama al-Lubnaniya (Bataillone des Libanesischen Widerstands).

25 Ali Rahnema, An Islamic Utopian. A Political Biography of Ali Shari'ati, London 1998.

26 Siehe Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst (Anm. 5), S. 64ff.

27 Vgl. zu den einzelnen Bewegungen und ihren je eigenen politischen Agenden die Beiträge in David Menashri (Hg.), The Iranian Revolution and the Muslim World, Boulder 1990.

28 Historisch ist dieses Klischee des iranischen Ursprungs der Schia nicht haltbar, da alle frühen schiitischen Rechtsschulen und Dynastien auf arabischem Territorium angesiedelt waren. Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung wurde erst im 16. Jahrhundert „schiitisiert“.

29 Siehe Houchang E. Chehabi (Hg.), Distant Relations: Iran and Lebanon in the Last 500 years, Oxford 2006.

30 Ders., Iran and Lebanon in the Revolutionary Decade, in: ders., Distant Relations (Anm. 29), S. 210-230.

31 Siehe zu einigen dieser Gruppen Rosiny, Islamismus bei den Schiiten (Anm. 18), S. 123ff.

32 Ausführlich hierzu: Rosiny, Religiöse Freigabe und Begrenzung der Gewalt (Anm. 6), S. 166-170.

33 Na'im Qasim, Hizb Allah. Al-Minhaj ... at-tajriba ... al-mustaqbal [Die Hizb Allah. Das Programm, die Erfahrung, die Zukunft], Beirut 2002, S. 66f.

34 Amin Mustafa, al-Muqawama fi Lubnan 1948m-2000m [Der Widerstand im Libanon 1948-2000], Beirut 2003, S. 426.

35 Hizb Allah, Nass ar-Risala al-Maftuha allati wajahaha Hizb Allah ila l-mustad'afin fi Lubnan wa-l-'alam... [Text des Offenen Briefes, den die Hizb Allah den Entrechteten im Libanon und der Welt vorlegte...], o.O., 16.2.1985, S. 40.

36 Ebd., S. 19. Die Hizb Allah deutete die politische Vorherrschaft der christlichen maronitischen Gemeinschaft als ein ideologisches Projekt. Mit ihrem „Maronitismus“ wollten sie angeblich den Libanon in einen Vorposten der westlichen Hegemonie umwandeln.

37 Zu seiner Person vgl. Stephan Rosiny, Muhammad Husain Fadlallah: Im Zweifel für Mensch und Vernunft, in: Katajun Amirpur/Ludwig Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt: Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg i.Br. 2006, S. 100-108; Jamal Sankari, Fadlallah. The Making of a Radical Shi'ite Leader, London 2005.

38 Muhammad Husain Fadlallah, al-Islam wa Mantiq al-Quwa [Der Islam und die Logik der Stärke], 3. Aufl. Beirut 1986, S. 319.

39 Interview with Sheikh Muhammed Hussein Fadl Allah by George Nader, in: Middle East Insight 4 (1986) H. 2, S. 12-19, hier S. 19.

40 Zit. nach Muhammad 'Ali as-Surur, al-'Allama Fadlallah: tahaddi al-mamnu' [Der Gelehrte Fadlallah: Die Herausforderung des Verbotenen], Beirut 1992, S. 91.

41 Zu der Kontroverse siehe Stephan Rosiny, The Tragedy of Fatima az-Zahra. A Shi'a Historians’ Debate in Lebanon, in: Brunner/Ende, The Twelver Shia in Modern Times (Anm. 14), S. 207-219.

42 Für die folgenden biographischen Angaben siehe Nicolas Blanford, Introduction, in: Nicolas Noe (Hg.), Voice of Hezbollah. The Statements of Sayyed Hassan Nasrallah, London 2007, S. 1-13.

43 Ebd., S. 7f.

44 Hizb Allah, al-Baranamij al-Intikhabi li Hizb Allah [Das Wahlprogramm der Hizbollah], Juli 1992, abgedruckt in: Hasan Fadlallah, Al-Khiyar al-akhir - Hizb Allah - as-sira adh-dhatiya wa-l-mauqif [Die andere Option - Hizb Allah - die eigene Geschichte und der Standpunkt], Beirut 1994, S. 214-222.

45 Hizb Allah, al-Baranamij al-Intikhabi li Hizb Allah [Das Wahlprogramm der Hizb Allah], o.O., Sommer 1996.

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