Wie haben sich die Perspektiven auf die NS-Zeit seit 1989/90 verändert? Nach einem knappen Rückblick auf die „historiographische Systemkonkurrenz“ in der Ära des Kalten Krieges werden zunächst wichtige Blickerweiterungen skizziert, die bereits vor 1989/90 einsetzten: die wachsende Aufmerksamkeit für alltagsgeschichtliche Zusammenhänge sowie vor allem für die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Zäsur von 1989/90 brachte für die NS-Forschung einen zusätzlichen Schub, weil sie die Bedeutung von Akteuren in historischen Entscheidungssituationen nachhaltig in den Vordergrund rückte. Der Aufsatz erläutert darüber hinaus drei Stränge der aktuellen NS-Forschung: Ansätze einer integrierten Geschichte, die eine dichotomische Betrachtung von Opfern und Tätern überwinden; die Europäisierung und Globalisierung nicht nur der Erinnerungspolitik, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Zeit; sowie das übergreifende Phänomen einer verstärkten Medialisierung von Geschichte.
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How have perspectives on the Nazi era changed since 1989/90? Following a brief retrospective on the ‘historiographic system competition’ of the Cold War era, this contribution begins with an outline of the ways in which perspectives had broadened even prior to 1989/90. For one thing, scholars at the time already increasingly took into account aspects of everyday life and, in particular, the persecution and extermination of the Jews. The caesura of 1989/90 provided an additional impulse for research on National Socialism because it brought into focus actors in historical contexts of decision making. The article then continues to elucidate three strands of contemporary research on National Socialism: approaches of an integrated history that transcend a dichotomous view of victims and perpetrators, the Europeanization and globalization not only of memory culture, but also of academic works dealing with the Nazi era, and finally the overarching phenomenon of an intensified medialization of history.
3/2008: NS-Forschung nach 1989/90
Aufsätze | Articles
What have been the contributions of social memory studies to the discourse of German history, particularly about the Nazi past? This essay seeks to distinguish between the memory boom in politics and culture and the more durable insights of social theory and historiography about memory, including insights about this memory boom itself. In particular, it explores mythologies of ‘turning points’ in the discourse of memory, arguing that the attribution of such turning points is often overstated. To be sure, 1989 did mark significant ruptures. But comparing present debates to the Historikerstreit (historians’ dispute) of the mid-1980s, and the Historikerstreit to earlier debates shows that as much has stayed the same as has changed. We remember not just the Nazi past, but the previous ways in which we have remembered the Nazi past, and our mnemonic practices are as much comments on earlier practices as on the event itself.
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Was haben die neuen „Social Memory Studies“ zu den Diskursen über die jüngste deutsche Geschichte beigetragen, insbesondere zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit? Dieser Aufsatz versucht zu unterscheiden zwischen dem „memory boom“ in der Politik und der Kultur sowie den tieferen Einsichten der Sozialtheorie und der Geschichtswissenschaft, inklusive den Einsichten über den „memory boom“ selbst. Untersucht werden insbesondere die Mythologien von „Weichenstellungen“ in den Erinnerungsdiskursen, bei denen es sich oft um übertriebene Zuschreibungen handelt. Zweifellos markiert das Jahr 1989 wichtige Veränderungen. Doch vergleicht man gegenwärtige Debatten mit dem „Historikerstreit“ und diesen wiederum mit früheren Debatten, so zeigt sich, dass es neben Veränderungen auch etliche Kontinuitäten gibt. Wir gedenken nicht allein der NS-Vergangenheit, sondern beziehen uns im Gedenken ebenso auf frühere Praktiken dieses Gedenkens.
Miriam Y. Arani
Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft
Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft
Die visuelle Überlieferung aus der Zeit der NS-Diktatur lässt sich nur interdisziplinär erforschen. Die fotografische Massenkommunikation, die im NS-Staat dem Propagandaministerium unterstellt wurde, kann mit herkömmlichen zeithistorischen Methoden, aber auch mit dem kunstwissenschaftlichen Instrumentarium allein nicht umfassend erklärt werden. Qualitative Ansätze etwa der Kommunikationswissenschaft bieten zusätzliche Möglichkeiten des Erkenntnisfortschritts – nicht zuletzt im Hinblick auf die private Fotografie. Im Paradigma der „Bildwissenschaft“ können sich die Kompetenzen der Einzeldisziplinen neu verbinden und zum differenzierten Verständnis der NS-Herrschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Der Aufsatz skizziert zunächst die fotohistorische Erforschung der NS-Zeit seit den 1980er-Jahren. Gefragt wird dann nach der Überlieferungssituation in den Archiven und den Auswirkungen der Digitalisierung. Eine zentrale These lautet dabei, dass sich das Problem der bisher oft mangelhaften Klassifizierung und Erschließung von Fotomaterial durch dessen digitale Zirkulation weiter verschärft.
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Visual records from the period of the National Socialist dictatorship require interdisciplinary research. Photographic mass communication which, under the National Socialist regime, was under control of the Ministry of Propaganda, cannot be adequately explained with the customary methods of contemporary historical research or with those of art history alone. Qualitative approaches such as those adopted within communication studies offer opportunities to enrich our knowledge in this field in, for example, the field of amateur photography. The paradigm of ›visual studies‹ can combine skills acquired in the various disciplines in new ways and help us to refine our understanding of the National Socialist regime. This essay begins by outlining historical research since the 1980s which deals with the photography of this period. It then gives an account of the state of records in archives and the effects of digitalisation. The author concludes that the digital circulation of visual archive materials has caused the past shortcomings of the classification and reproduction of photographic material to become even more acute.
Debatte | Debate
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Jörg Baberowski, Mihran Dabag, Christian Gerlach, Birthe Kundrus, Eric D. Weitz
NS-Forschung und Genozidforschung
Quellen | Sources
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Linde Apel
„You are participating in history“
Das Visual History Archive der Shoah Foundation
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Andrej Angrick
Dokumentation, Interpretation, Impuls
Das Editionsprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1933–1945“
Besprechungen | Reviews
Ausstellungen
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Heidemarie Uhl
Going underground
Der „Ort der Information“ des Berliner Holocaust-Denkmals
Neu gelesen
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Clemens Vollnhals
Solider Klassiker mit einem Makel
Walther Hofers Dokumentensammlung
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Andrew Stuart Bergerson
All Politics is Local
Revisiting William Sheridan Allen’s Northeim
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Devin O. Pendas
‘Political Tyranny and Ideological Crime’
Rereading ‘Anatomy of the SS State’