Editorial - 3/2007: Offenes Heft

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Zu diesem Heft

Anmerkungen
 
Das „Jahr der Geisteswissenschaften“ von 2007 gehört nun bereits der Vergangenheit an; ob es auch in die (Zeit-)Geschichte eingehen wird, bleibt abzuwarten. Wie eine Studie von Peter Weingart und anderen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kritisch angemerkt hat, war der nachweisbare Effekt der bisherigen Wissenschaftsjahre eher gering - was aber auch daran liegt, dass die Ziele zu unspezifisch definiert wurden.1 Um das Jahr der Geisteswissenschaften nicht gleich wieder abzuhaken, sondern nach seinen fortwirkenden oder zumindest wünschenswerten Impulsen zu fragen, haben wir für die Debattenrubrik dieses Hefts einen Schwerpunkt konzipiert. Neben der allgemeinen, wissenschafts- und hochschulpolitischen Bewertung des Themenjahrs ist aus zeitgeschichtlicher Sicht besonders zu reflektieren, wo der eigenständige Beitrag der Disziplin Zeitgeschichte innerhalb des geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächerspektrums liegen kann und welche produktiven Verbindungen mit den Nachbarfächern weiter ausgebaut werden sollten. Die Debatte steht deshalb unter der Überschrift „Dialog der Disziplinen“. In der öffentlichen Wahrnehmung hat die Zeitgeschichte gegenwärtig eine vergleichsweise starke Position, was nicht zuletzt mit der Konjunktur des Themenkomplexes „Gedächtnis und Erinnerung“ zusammenhängt. Dies wird auf absehbare Zeit ein wichtiger Bereich bleiben, doch wird die Zeitgeschichte ihren inner- und außerwissenschaftlichen Status nur dann konsolidieren können, wenn sie sich immer wieder auch neue Problemfelder, Gegenstände und methodische Zugänge erschließt. Die „Jagdgründe“ (so der Titel unseres Coverfotos) sind selber in historischem Wandel begriffen.
 
Das vorliegende „offene“ Heft bietet darüber hinaus zahlreiche weitere Themen. Den Aufsatzteil eröffnet Lars Amenda mit einer Längsschnittstudie zur Entwicklung und Wahrnehmung von Chinesenvierteln in Westeuropa (1900-1970). Besonders für London, Rotterdam und Hamburg arbeitet er heraus, welchen Veränderungen die chinesische Migration und deren zeitgenössische Perzeption unterlagen. Der seit den 1950er-Jahren einsetzende, zunächst einmal überraschende Erfolg der chinesischen Gastronomie wird dadurch besser verständlich. Ebenfalls einen Schwerpunkt auf Hamburg legt Karl Christian Führer in seinem Aufsatz über die „Bild“-Zeitung in den 1950er-Jahren. Dass dieses Blatt sehr rasch einen ungeheuren ökonomischen Erfolg erzielte, ist bekannt; die Frage nach seiner politischen Macht muss laut Führer indes differenziert beantwortet werden. Während die deutschlandpolitischen Steuerungsversuche des Verlegers Axel Springer schon von der „Bild“-Redaktion weitgehend ausgebremst wurden, gewann „Bild“ auf lokaler Ebene eine größere Macht, wie am Beispiel Hamburgs gezeigt wird. Der Aufsatz von Danuta Kneipp widmet sich einem ganz anderen Thema und einem anderen Zeitabschnitt: Für die Ära Honecker, also die 1970er- und 1980er-Jahre der DDR, verfolgt die Autorin die erwünschte politische Funktion und die tatsächliche gesellschaftliche Wirkung beruflicher Ausgrenzungsmaßnahmen. Wer sich in die Arbeitsgesellschaft DDR nicht einfügen wollte - aus welchen Gründen auch immer -, sollte durch Sanktionen dazu gezwungen werden. Die individuellen Antworten auf solche Sanktionen waren unterschiedlich; nicht selten führte die Ausgrenzungserfahrung jedoch zu einer weiteren Politisierung der Betroffenen und einer Verstärkung oppositioneller Tendenzen.
 
In der Rubrik „Quellen“ erläutern Christopher Görlich und Ignacio Farías, warum sich eine genaue Lektüre von Reiseführern nicht nur für Touristen lohnt, sondern - mit etwas anderem Blick - auch für Zeithistoriker. Beide Autoren verwenden Berlin-Reiseführer als Materialgrundlage und betrachten diese aus unterschiedlichen Perspektiven. Görlich kann mit anschaulichen Zitaten belegen, dass der Topos der in Ost- und Westhälfte „geteilten Stadt“ Berlin bereits ab etwa 1900 verbreitet war, also nicht erst 1945/49 aufkam. Den verschiedenen touristischen Zentren wurden Charaktereigenschaften zugeschrieben, die über die Systemwechsel hinweg eine erstaunliche Konstanz aufwiesen. Farías stützt sich vor allem auf neuere, seit der deutschen Einheit publizierte Reiseführer, die Berlin zum einen als Laboratorium permanenten Wandels vorstellen, zum anderen als „unheimliche“, durch das Erbe des 20. Jahrhunderts auf ambivalente Weise ausgezeichnete Stadt. Auch diese beiden Artikel stehen für einen „Dialog der Disziplinen“: Hier verbinden sich der zeithistorische Zugang (Görlich) und der stadtethnologische (Farías). Ein weiterer Beitrag in der Rubrik „Quellen“ gewährt Einblicke in die Archive der Zigarettenfirma Reemtsma, die derzeit im Hamburger Museum der Arbeit erschlossen werden. Stefan Rahner und Sandra Schürmann stellen aus dem reichhaltigen Material Beispiele so genannter „Tabakreisen“ der 1950er-Jahre vor - Expeditionsreisen bekannter Fotografen in die USA und den „Orient“, die der Motivsammlung für Reemtsmas Werbekampagnen dienten. Dieser Artikel erlaubt einen Blick hinter die Kulissen der Anzeigenplanung; neben mentalitäts-, konsum- und fotogeschichtlichen Aspekten werden vor allem die werbestrategischen Kurswechsel und Brüche deutlich.
 
Mehrere der erwähnten Beiträge haben mit Imaginationen von Stadt und Raum zu tun. Dies gilt auch für Kay Hoffmanns Kritik einer DVD-Studienfassung des Filmklassikers „Metropolis“ in der Rubrik „Besprechungen“. Der Versuch einer solchen Edition ist unbedingt zu begrüßen, kann in der Umsetzung aber nicht vollständig überzeugen. Johannes Novy erinnert in seinem „Neu gelesen“-Essay an die Stadtforscherin Jane Jacobs und ihr Werk „The Death and Life of Great American Cities“ von 1961, das primär eine politische Intervention gegen die damalige amerikanische Stadtplanung war, vor dem Hintergrund heutiger urbaner Probleme jedoch von neuem aufschlussreich sein kann. Łukasz Stanek würdigt ein stärker theoretisch orientiertes Werk - Henri Lefebvres Buch „La Production de l’espace“ aus dem Jahr 1974, das das Wechselverhältnis von städtischem Raum und sozialer Praxis untersucht. Es lässt sich nicht eindeutig einer bestimmten Disziplin zuordnen, liefert den Diskussionen um einen Spatial Turn aber gerade deshalb manche Anregung. Mit Recht weist Stanek darauf hin, dass eine deutsche Übersetzung dieses Buchs nach wie vor aussteht.
 
Wie Lefebvre in der Theoriebildung, so war Klaus Mehnert im Journalismus ein bemerkenswerter Grenzgänger. Sein Buch „Der Sowjetmensch“, zuerst 1958 und dann in vielen weiteren Auflagen erschienen, war ein Versuch, den (West-)Deutschen realistische, alltagsnahe Porträts aus der Sowjetunion zu liefern und den Stereotypen des Kalten Krieges damit eigene Beobachtungen entgegenzusetzen. Ulrich Schmid erinnert in dieser Ausgabe an Mehnerts Werk und seinen ambivalenten Lebensweg. In einem weiteren „Neu gelesen“-Essay erläutert und kontextualisiert Wolfgang Lambrecht Georg Pichts „Die deutsche Bildungskatastrophe“ (1964) und Johannes Hörnigs Schrift zum Hochschulsystem in der DDR (1965). Dies bietet eine nützliche Ergänzung zum Debattenteil, weil deutlich wird, dass manche neu erscheinenden Probleme, Argumente und Lösungsvorschläge aus universitäts- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive keineswegs völlig neu sind. Zu hoffen bleibt, dass diese Einsicht weder in Fatalismus noch in Aktionismus mündet, sondern den wissenschaftspolitischen Realitätssinn erhöht - auch über das Jahr der Geisteswissenschaften hinaus. 

Die Redaktion

Anmerkungen:

1 Vgl. Ulrich Schnabel, Betstunden für Fromme, in: ZEIT, 17.1.2008, S. 32; ders., Zeit für einen neuen Push. Was haben die ‚Jahre der Wissenschaft‘ bisher gebracht - und wie könnten sie weiterentwickelt werden? Eine Bilanz, in: Gegenworte 19 (2008), S. 17-20.

In this issue 

Notes
 
2007, the ‘year of the humanities’, is already past. But the question remains whether or not it will go down in (contemporary) history. In a study conducted by Peter Weingart and others for the Federal Ministry of Education and Research, the authors critically note that the measurable effects of past ‘science years’ have not been overwhelming - partially due to the fact that goals were not formulated in a sufficiently specific way.1 In order not to prematurely dismiss the year of the humanities but rather to trace some of its lasting effects or at least desirable impulses, we have designed a thematic focus for the debate section of this issue. Besides assessing this year’s impact - in general terms as well as for academic and university politics - it is worthwhile to reflect on the specific contribution of the discipline contemporary history to the humanities and to the cultural and social sciences. Moreover, we would like to point out some areas in which the productive relationship between contemporary history and its neighboring disciplines should be enhanced. The debate thus carries the title ‘Dialogue of the Disciplines’. At present, public opinion mostly holds contemporary history in high esteem, which among other things has to do with the popularity of the thematic complex ‘memory and remembrance’. This will certainly remain an important field in the near future, but contemporary history will only be able to consolidate its status inside and outside the academic world if it continually develops new problems, subjects and methodic approaches. The ‘hunting grounds’ (as our cover illustration is entitled) are subject to historical change themselves.
 
This ‘open issue’ offers numerous other topics. Lars Amenda introduces the article section with a longitudinal study on the development and perception of Chinese quarters in Western Europe (1900-1970). In particular for London, Rotterdam and Hamburg, he shows the changes Chinese migration was subject to, including its contemporary perception. The - initially surprising - success of Chinese gastronomy, which began to take hold in the 1950s, is thus easier to understand. In his article on the newspaper ‘Bild’ during the 1950s, Karl Christian Führer also focuses on Hamburg. It is widely known that this paper very quickly achieved immense economic success. According to Führer, the question of its political influence must, however, be treated in a differentiated way. While the publisher Axel Springer’s attempts to influence German politics at the federal level were largely thwarted by the newspaper’s editors, ‘Bild’ attained greater power on the local level, as demonstrated by the example of Hamburg. Danuta Kneipp’s article addresses a very different topic and a different time period: The author traces the desired political functions and the actual social consequences of professional exclusion measures for the Honecker era, i.e. the 1970s and 1980s in the GDR. Those who did not conform to the work-centered society in the GDR - for whatever reasons - were to be forced to do so through the imposition of sanctions. Individual responses to these sanctions were diverse. Often the experience of exclusion led to a further politicization of the individual and to an increase in his or her oppositional tendencies.
 
In the source section, Christopher Görlich and Ignacio Farías demonstrate why reading travel guide books is worthwhile not only for tourists, but also - with a slightly altered vantage point - for contemporary historians. Both authors rely on Berlin guide books as sources, but regard these from different perspectives. Using ostensive quotes, Görlich demonstrates that the theme of the ‘divided city’ with an eastern and a western part was ubiquitous already around 1900, thus well before 1945/49. The different tourist centers were attributed with characteristics that exhibit a striking constancy over the course of the various historical system changes. Farías relies mostly on newer guide books published since German unification, which on the one hand depict Berlin as a laboratory of constant change and on the other as a ‘haunted’ city shaped in ambivalent ways by the heritage of the 20th century. These two articles also stand for a ‘Dialogue of the Disciplines’: They combine a contemporary history approach (Görlich) with an urban anthropological one (Farías). Another contribution in the source section offers us an insight into the archives of the cigarette manufacturer Reemtsma, which are currently being examined at the Museum of Work in Hamburg. Stefan Rahner and Sandra Schürmann scrutinize examples of so-called ‘tobacco trips’ from the 1950s that they selected from the rich material. These were expeditions of renowned photographers to the USA and the ‘Orient’ intended to collect motives for Reemtsma’s advertising campaigns. The article allows for a glance behind the curtain of advertisement planning. Besides addressing aspects pertaining to the history of mentality, of consumption and of photography, the authors draw our attention to ruptures and changes of course in advertising strategy.
 
Several of the above mentioned articles have to do with imaginations of city and space. This is also the case for Kay Hoffmann’s critique of a DVD-study edition of the film classic ‘Metropolis’ in the review section: The attempt at such an edition is no doubt to be welcomed, but not entirely convincing in its realization. In his ‘rediscovered classics’ essay, Johannes Novy examines the urbanist Jane Jacobs and her work The Death and Life of Great American Cities from 1961. This book was primarily intended as a political criticism of American urban planning at the time. Before the backdrop of current urban problems, however, it attains new significance. Łukasz Stanek acknowledges a more theoretical work - Henri Lefebvre’s La Production de l’espace from 1974, which analyzes the interrelation between urban space and social practice. It cannot clearly be assigned to one particular discipline, but for that reason all the more contributes an important intellectual stimulus to debates surrounding a ‘spatial turn’. Stanek rightly points out that to this day there is no German translation of the book.
 
Like Lefebvre in the theoretical realm, Klaus Mehnert was a remarkable crosser of borders in journalism. His book Der Sowjetmensch, first published in 1958 and thereafter often reprinted, was an attempt to provide (West) Germans with realistic, everyday portraits of life in the Soviet Union and thus to counteract Cold War stereotypes with personal observations. Ulrich Schmid reminds us of Mehnert’s study and his ambivalent biography. In another ‘rediscovered classics’ essay, Wolfgang Lambrecht elucidates and contextualizes Georg Picht’s Die deutsche Bildungskatastrophe (1964) as well as Johannes Hörnig’s script on the university system in the GDR (1965). This provides a valuable complement to the debate section: It becomes clear that many problems, arguments and solutions that appear to be new are actually not so new at all from the perspective of university and academic history. We should hope that this insight leads neither to fatalism nor to ‘doing things for the sake of doing things’, but rather enhances decision makers’ sense of reality in academic politics - above and beyond the ‘year of the humanities’. 

The Editors
(Translation: Eva Schissler)

Notes:

1 Cf. Ulrich Schnabel, Betstunden für Fromme, in: ZEIT, 17 January 2008, p. 32; idem, Zeit für einen neuen Push. Was haben die ‚Jahre der Wissenschaft‘ bisher gebracht - und wie könnten sie weiterentwickelt werden? Eine Bilanz, in: Gegenworte 19 (2008), pp. 17-20.