Zu diesem Heft
Anmerkungen
Das vorliegende „offene“ Heft führt inhaltlich und methodisch einige Themen fort, die schon in früheren Ausgaben dieser Zeitschrift vorkamen, setzt zugleich aber neue Akzente. Im Aufsatzteil finden sich zwei Beiträge zur US-amerikanischen Geschichte, drei weitere zur Geschichte der Bundesrepublik sowie ein Artikel mit globalgeschichtlichem Zuschnitt. Thomas Hertfelder präsentiert und interpretiert Dorothea Langes Fotozyklus „Migrant Mother“ aus der Zeit der Großen Depression, dem nicht nur im amerikanischen Bildgedächtnis eine zentrale Bedeutung zukommt. Bewusst ordnet Hertfelder das bekannteste Bild der Serie in den Zusammenhang der insgesamt sieben Fotos ein, die hier erstmals komplett gezeigt werden. Er geht auch den überraschenden Rezeptionsweisen nach und liefert damit eine weitere Fallstudie zeithistorischer Bildwissenschaft. Olaf Stieglitz widmet sich der mit dem Namen von Senator McCarthy verbundenen Phase der US-Geschichte, in welcher der Antikommunismus das politische und kulturelle Leben besonders stark prägte. Anknüpfend an Foucaults Theorie der Gouvernementalität, deren Erkenntnispotenziale in dieser Zeitschrift bereits diskutiert worden sind (Heft 2/2006), untersucht Stieglitz speziell die Begründungen, mit denen Denunziationen öffentlich gerechtfertigt wurden. Er verfolgt die aus demokratietheoretischer Sicht beunruhigende Frage, wie „das Denunzieren als positiv bewerteter Teil liberalen Regierens“ möglich wurde. Dabei betrachtet er Denunziationen aber nicht von vornherein unter normativen Gesichtspunkten, sondern ergründet ihre Mechanismen.
Als Fortführung der Debatte um Gouvernementalität lässt sich in gewisser Weise auch der Aufsatz von Pascal Eitler lesen, der sich für die Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre mit dem Phänomen des „New Age“ beschäftigt. Eitler arbeitet zum einen heraus, dass religiöse Fragen und Sehnsüchte in dieser Zeit einen größeren Stellenwert besaßen als oft angenommen; zum anderen verdeutlicht er, wie sich Religiosität bei Anhängern des „New Age“ in einem Körperkult, einer Schwärmerei für Indien und Fernost sowie einer Adaption naturwissenschaftlicher Paradigmen ausdrückte. Dieser Beitrag schließt zugleich an das vorangegangene Heft 3/2006 zu den 1970er-Jahren an. Die Aufsätze von Christopher Kopper und Gerhard Paul beziehen sich ebenfalls auf die Geschichte der Bundesrepublik, legen den Schwerpunkt aber auf die 1950er- und 1960er-Jahre. Während Kopper die damals wachsende Bedeutung von Pauschalreisen und des Tourismus insgesamt erforscht, schildert Paul den Aufstieg und Niedergang des HB-Männchens „Bruno“ in der Zigarettenwerbung - als einer Symbolfigur, an der sich der zunehmende Wohlstand der frühen Bundesrepublik ablesen lässt. Beide Artikel, unabhängig voneinander entstanden, ergänzen sich gut, indem sie alltags- und mentalitätsgeschichtliche Facetten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft jeweils mit wirtschafts- und unternehmensgeschichtlichen Perspektiven verbinden.
Einen weiteren Aufsatz zur Geschichte der USA, darüber hinausgehend aber auch zur Global- und zur Wissenschaftsgeschichte, steuert Marc Frey bei. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um demographische Entwicklungstrends fragt er, seit wann, von wem und warum das Wachstum der Weltbevölkerung als Problem, ja als Bedrohung definiert und empfunden wurde. Einem relativ kleinen, aber sehr aktiven und strategisch geschickten Expertenkreis gelang es, zwischen 1945 und 1975 zunächst die Unterstützung großer amerikanischer Stiftungen zu gewinnen, dann die US-Regierung im Sinne bestimmter Annahmen hinsichtlich des „demographischen Übergangs“ zu beeinflussen und schließlich das Thema auf die Agenda der Vereinten Nationen zu setzen. Dies stand im doppelten Kontext des Kalten Krieges und der Dekolonisation. Freys Fallstudie zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) belegt eindrücklich, wie sich interessengeleitete und zunächst eher randständige Expertenmeinungen zu scheinbar überzeitlich gültigen Gewissheiten verfestigen können.
In der Debattenrubrik geht es um Grundsatzfragen der Präsentation von Zeitgeschichte im Museum. Dies vertieft die bisherigen Ausstellungsbesprechungen, knüpft aber auch an die Themenschwerpunkte von „Zeitgeschichte-online“ zur RAF-Ausstellung von 2005 und zur Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums an.1 Hier liefern nun Hans-Ulrich Thamer, Burkhard Asmuss, Kristiane Janeke, Detlef Hoffmann und Katrin Pieper Beiträge zu aktuellen Konjunkturen und längerfristigen Problemen der Gestaltung zeithistorischer Ausstellungen. Dass solche Ausstellungen trotz der Konkurrenz von Film, Fernsehen und Internet eine große, ja offenbar weiter wachsende Popularität besitzen, ist keineswegs selbstverständlich und aus Sicht der Geschichtswissenschaft zweifellos erfreulich. Damit wächst aber auch die Verantwortung, nicht allein die Besucherzahlen zu steigern, sondern zugleich die Qualität der Museumsarbeit zu sichern - orientiert an inhaltlichen Kriterien, die speziell für die Zeitgeschichte erst einmal benannt werden müssen. Die hier veröffentlichten Essays sind als Impuls zu verstehen, die Diskussion fortzuführen.
Die Quellenrubrik lädt ein zur Parallelbetrachtung von zwei großen, für die Zeitgeschichte ganz zentralen Dokumentenbeständen: Jan Erik Schulte stellt das Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen vor, Andreas Kunz das Material der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg. Beide Einrichtungen enthalten nicht nur Zeitgeschichte; sie besitzen inzwischen selbst eine lange Entwicklungsgeschichte, die zum Verständnis ihres Materials wichtig ist. Das Suchdienst-Archiv, entstanden in der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, ist erst seit kurzem in größerem Umfang für die Forschung zugänglich. Dort wie auch in Ludwigsburg bietet sich neben vertiefenden Arbeiten zur NS-Herrschaft und zum Zweiten Weltkrieg besonders die Möglichkeit, die Zeit vor und nach 1945 in einem übergreifenden Problem- und Überlieferungszusammenhang zu untersuchen.
Im Rezensionsteil beleuchtet Susanne König die Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden und seine heutige Dauerausstellung. Dies korrespondiert mit dem Thema des Debattenteils, aber auch mit den Beiträgen zur Gouvernementalität. Denn das Abbilden, Modellieren und Systematisieren menschlicher Körper gehört zu den Leitthemen des Museums, die dort mit wissenschaftsgeschichtlichem und zugleich gegenwartsbezogenem Interesse präsentiert werden. In der Sektion „Neu gelesen“ erinnert Werner Bührer an Ludwig Erhards vor 50 Jahren publizierten Band „Wohlstand für alle“. Auch wenn sich seit einiger Zeit viele Verfechter einer „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ gern auf Erhard beziehen, ist sein Buch eher als Zeitdokument denn als mögliche Programmschrift für heute zu bewerten. Mit Robert Paxtons Werk „Vichy France“ von 1972 stellt Claudia Prinz einen echten Klassiker vor, der nicht nur in der damaligen französischen Öffentlichkeit Furore machte, sondern auch zahlreiche vertiefende und differenzierende Forschungen zum Charakter des Vichy-Regimes auslöste. Stephan Scheiper betrachtet einen frühen Versuch der englischen Journalistin Jillian Becker, die Aktivitäten der Roten Armee Fraktion (RAF) unter dem Titel „Hitler’s Children“ bereits 1977 zu erfassen. Auch wenn das Buch eher episodisch als analytisch geschrieben ist, macht der generationengeschichtliche Blick in lesens- und bedenkenswerter Weise auf „Traditionen des Terrors“ aufmerksam.2 Am Schluss des Hefts findet sich wie immer ein Rezensionsdigest mit Hinweisen zu wichtigen zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen.
Die vorliegende Ausgabe ist nicht nur durch ihre Covergestaltung und ihren Umfang etwas Besonderes. Sie ist, im vierten Jahrgang unserer Zeitschrift, nunmehr das zehnte Heft insgesamt. Das rechtfertigt noch kein Jubiläum, bietet aber doch einen willkommenen Anlass, den Beteiligten dieses Journals für ihre Mitarbeit und Förderung zu danken - den Beiratsmitgliedern und externen Gutachtern, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Abonnentinnen und Abonnenten, ganz besonders aber den zahlreichen Autorinnen und Autoren, ohne deren Engagement, Kompetenz und Vertrauen diese Zeitschrift nicht existieren würde.
Die Redaktion
1 Siehe http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Inhalt und http://www.zeitgeschichte-online.de/md=DHM-Geschichtsbilder.
2 Für zahlreiche weitere Beiträge und umfangreiches Material zur Geschichte und Rezeption der RAF vgl. http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Geschichte-Inhalt.
Notes
This ‘open’ issue takes up some topics regarding content and methods that have been discussed in previous issues of this journal. At the same time, it also sets a new course. The article section includes two contributions on American history, three on the history of the Federal Republic of Germany, and one addressing a historical topic of global relevance. Thomas Hertfelder introduces and interprets Dorothea Lange’s photo cycle ‘Migrant Mother’, which dates back to the Great Depression. The importance of this cycle goes beyond the pictorial memory of the United States. Hertfelder deliberately interprets the most famous picture in the context of the seven photos that comprise the series, which is on display in its entirety for the first time here. He reconstructs the surprising receptions of these photos and thus provides a further case study in contemporary visual history. Olaf Stieglitz addresses the phase of American history associated with Senator McCarthy, in which anti-communism influenced the political and cultural scene especially strongly. Using Foucault’s concept of governmentality, which has been discussed in an earlier issue of this journal (2/2006), Stieglitz in particular scrutinises the justifications that were used to publicly legitimise denunciations. He thus pursues the question of how denunciations could become ‘a positively connoted part of liberal governance’, a notion which is disturbing from the point of view of democratic theory. However, he does not from the outset regard denunciations from a normative perspective, but rather fathoms their mechanisms.
In some ways, Pascal Eitler’s contribution, which addresses the phenomenon ‘New Age’ in the Federal Republic of Germany during the 1970s and 1980s, can also be read as a continuation of the governmentality debate. On the one hand, Eitler points out that religious questions and yearnings played a greater role during this period than is generally assumed. On the other hand, he shows how adherents of ‘New Age’ expressed their religiosity in terms of a body cult, a fascination with India and the Far East, as well as the adaptation of paradigms from the natural sciences. At the same time, this contribution follows up on certain themes from the previous issue (3/2006), concerning the 1970s. The articles by Christopher Kopper and Gerhard Paul also deal with the history of the Federal Republic, but with a focus on the 1950s and 1960s. While Kopper explores the increasing significance of package tourism and tourism generally, Paul traces the rise and fall of ‘Bruno’, the figure of the cigarette brand HB in advertising. According to the author, this figure is symbolic for the rising living standards in the early Federal Republic. Both articles, which were written independently of one another, complement each other by combining aspects of everyday history and the history of mentalities in postwar West German society with perspectives from the fields of economic history and business history.
Marc Frey also contributes an article that deals with American history, and even encompasses global history and history of science. Before the backdrop of contemporary debates on demographic development trends he poses the questions when, by whom, and why the growth of the world’s population was defined and came to be regarded as a problem, and even as a threat. A relatively small but very active and strategically skilled circle of experts succeeded in gaining the support of influential American foundations between 1945 and 1975, and then influenced US government policy concerning specific assumptions about the ‘demographic transition’. In the end, the topic was even put on the agenda of the United Nations. This was significant in the dual context of the Cold War and decolonisation. Frey’s case study on ‘the ways in which social problems are put on a scientific basis’ (Lutz Raphael) strikingly demonstrates how expert opinions guided by interest groups that are at first rather marginal can consolidate into apparently timeless certainties.
The debate section addresses fundamental questions concerning the presentation of contemporary history in museums. It provides more indepth views on previously published exhibition reviews, but also takes up the main themes of ‘Zeitgeschichte-online’ about the Red Army Faction exhibition of 2005 and the permanent exhibition of the German Historical Museum.1 Hans-Ulrich Thamer, Burkhard Asmuss, Kristiane Janeke, Detlef Hoffmann, and Katrin Pieper offer their views on current issues and general problems arising during the conception of contemporary history exhibits. It is certainly not to be taken for granted that despite competition from film, television, and the internet, these exhibitions are quite popular and even gaining in popularity. From the perspective of historical research, this is undoubtedly a positive development. However, there is a growing responsibility not only to increase the number of visitors, but also to ensure the quality of these exhibitions (according to criteria that are yet to be clearly defined - especially in the field of contemporary history). The essays published in this issue should be understood as a stimulus for further discussion.
The sources section portrays two momentous documentary archives which play a central role in contemporary historical research. Jan Erik Schulte introduces the Archive of the International Tracing Service (Archiv des Internatio-nalen Suchdienstes) in Arolsen, and Andreas Kunz presents the Central Office of the Regional State Judicial Administration (Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen) in Ludwigsburg. Both of these institutions not only contain materials relevant to contemporary history, but also have long histories of their own, which is relevant in order to understand their resources. The majority of materials in the Tracing Service Archive, which dates back to the Second World War and the postwar years, have only recently become accessible to scholars. Besides carrying out research on National Socialism and the Second World War, scholars there, as well as in Ludwigsburg, now have the opportunity to explore topics from before and after 1945 in an overarching context.
In the review section, Susanne König traces the history of the German Museum of Hygiene (Deutsches Hygiene-Museum) in Dresden and portrays its current permanent exhibition. This corresponds to the theme of the debate section, but also to the contributions on governmentality. The depiction, modeling, and systematisation of human bodies are among the museum’s main themes. They are presented with regard to their relevance for the history of science as well as contemporary interests. In the section ‘rediscovered classics’, Werner Bührer reminisces on Ludwig Erhard’s book Wohlstand für alle (Prosperity for All), which was published fifty years ago. Although for some time now, proponents of a ‘new social market-economy’ refer to Erhard, his book should be regarded as a historical document rather than as a programmatic pamphlet for our times. In her review of Robert Paxton’s Vichy France, published in 1972, Claudia Prinz reintroduces a real classic, which not only caused a public uproar in France at the time, but also encouraged many indepth and critical studies on the character of the Vichy regime. Stephan Scheiper investigates the attempt of the English journalist Jillian Becker to understand the activities of the Red Army Faction in terms of the title of her book Hitler’s Children, as early as 1977. Even though this book is written episodically rather than analytically, Becker’s focus on generations draws our attention to ‘traditions of terror’ in a readable and memorable fashion.2 As usual, the issue closes with a review digest including references to important new publications in contemporary history.
This edition is special not only as far as its cover design and breadth are concerned. In the fourth year of our journal, it is also the tenth issue to be published. This does not necessarily call for an anniversary, but it is a welcome occasion to thank all those involved in the production of this journal for their collaboration and support - the members of the advisory board and the external reviewers, our publisher Vandenhoeck & Ruprecht and the German Research Foundation (DFG), our subscribers, and especially the many authors without whose dedication, competence, and confidence this journal would not be what it is.
The Editors
(Translation: Eva Schissler)
1 See http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Inhalt and http://www.zeitgeschichte-online.de/md=DHM-Geschichtsbilder.
2 See http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Geschichte-Inhalt for further contributions and extensive material on the history and reception of the Red Army Faction.