Zu diesem Heft
Die Verknüpfungen der Zeitgeschichte mit ihrer jeweiligen Gegenwart sind ein Dauerthema der historiographischen Reflexion. Wie kann es gelingen, die ohnehin stets vorhandenen Bezüge zwischen der erforschten und der erlebten Zeit in die Geschichtsschreibung einzubringen, ohne dabei in einen Präsentismus zu verfallen und historische Konstellationen als bloße Vorstufen der Gegenwart zu deuten? Frank Bösch leistet im vorliegenden Heft einen programmatischen Beitrag zu dieser Diskussion, indem er Krisenereignisse und ihre Folgen seit 1979 betrachtet. Bei einer Zusammenschau europäischer und globaler Entwicklungen fällt auf, dass sich gerade in diesem Jahr zahlreiche Ereignisse und Trends verdichteten, die zunächst einmal heterogen und teilweise kontingent erscheinen, aber eben dadurch auch mögliche Blickachsen liefern für eine differenzierte Problemgeschichte der Gegenwart.
Frank Bösch, seit Oktober 2011 neuer Co-Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, ist nun auch Mitherausgeber dieser Zeitschrift. Er tritt an die Stelle von Christoph Kleßmann, der die „Zeithistorischen Forschungen“ seit ihrer Gründung maßgeblich gefördert und begleitet hat – wofür wir ihm hier noch einmal sehr herzlich danken. Außerdem freuen wir uns, dass mit Cornelia Brink (Freiburg) eine renommierte Historikerin für den Beirat der Zeitschrift hinzugewonnen werden konnte.
Im genannten Aufsatz zum Jahr 1979 und den Folgen ist ein Kapitel der Energiepolitik gewidmet, die erst jüngst stärker in den Blick der Geschichtswissenschaft gerückt ist. Auf diesem Feld lassen sich politische Entscheidungsprozesse ebenso analysieren wie technik-, wirtschafts- und umweltgeschichtliche Dimensionen. Ein Pionier, der sich für solche produktiven Verknüpfungen schon seit mehreren Jahrzehnten interessiert, ist Joachim Radkau. Das Interview mit ihm eröffnet im vorliegenden Heft einen Debattenteil über „Zeitgeschichten der Umwelt“, den Melanie Arndt konzipiert hat. Dazu passt auch Christof Mauchs Beitrag, der sich in der Rubrik „Neu gelesen“ mit Rachel Carsons Buch „Silent Spring“ auseinandersetzt – 50 Jahre nach der Erstpublikation dieses Werks.
Zu den Schwerpunkten der „Zeithistorischen Forschungen“ zählen bekanntlich Fragen der Visual History. Mehrere Beiträge präsentieren und diskutieren in dieser Ausgabe wiederum visuelles Quellenmaterial: Stefanie Middendorf nutzt französische Comics (bandes dessinées) als Sonde, um Veränderungen des Kulturbegriffs und der Kulturpolitik im Laufe des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Julia Werner würdigt das Online-Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem als reichhaltigen Fundus, dessen Erschließung aber weiter verbessert werden sollte. Eliane Ursula Ettmüller untersucht die Bedeutung von Karikaturen für den Sturz des ägyptischen Präsidenten Mubarak Anfang 2011; zugleich schildert sie die längere Tradition dieses Mediums in Ägypten.
Zwei ausführliche Aufsätze des vorliegenden Hefts bieten neue Erkenntnisse zu eher klassischen Themen der deutschen Zeitgeschichtsforschung: Imanuel Baumann, Andrej Stephan und Patrick Wagner bündeln zentrale Fragen und Ergebnisse ihres Forschungsprojekts zur Geschichte des Bundeskriminalamts (BKA), bei dem es – ähnlich wie bei vergleichbaren „Auftragsforschungen“ der letzten Jahre – insbesondere um die personellen und mentalen Kontinuitäten aus der NS-Zeit ging. Über die Betrachtung mehr oder weniger skandalöser Einzelfälle hinaus richtet sich das historiographische Interesse nun stärker auf „Organisationskulturen“ und deren Verarbeitung der Zäsur von 1945. Für die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik insgesamt und die Neubegründung der Demokratie sehen die Autoren einen „‚Erfolg‘ vor allem im Sinne einer ausgebliebenen Katastrophe“. Durch den starken personellen Ausbau des BKA in den 1970er-Jahren waren ehemalige NS-Polizisten dann nur noch eine Minderheit; auf die Konzepte und Praktiken der Behörde hatten sie keinen prägenden Einfluss mehr. Auch im Aufsatz von Peter Hoeres über Axel Springers Amerika-Bild und die Transformation des Konservatismus geht es um mentale Neuorientierungen in der Bundesrepublik. Betrachteten Springer und seine Zeitungen die USA zunächst ambivalent bis kritisch, so änderte sich dies im Kontext von „1968“ grundlegend. Bezeichnend ist dabei, dass Springer selbst den Wandel nicht einräumte oder reflektierte, sondern immer schon ein Freund der Amerikaner und ein „Atlantiker“ gewesen sein wollte. Die weiterhin amerikakritischen bundesdeutschen Rechtskonservativen gerieten demgegenüber in eine isolierte Position.
Die im vergangenen Jahr begonnene Rubrik „Neu gehört“ wird in dieser Ausgabe fortgeführt mit Beiträgen von Philipp Gassert (über Nicoles „Ein bißchen Frieden“) und Ole Löding (über BAPs „Kristallnaach“). Beide Lieder stammen aus dem Jahr 1982 und erscheinen heute, aus dem Abstand von 30 Jahren, als je eigene popkulturelle Zeitdokumente. Ein weiterer Beitrag in der Rubrik „Neu gelesen“ ist schließlich dem im Januar 2011 verstorbenen Soziologen Daniel Bell und seinem Buch „The Coming of Post-Industrial Society“ von 1973 gewidmet, das Ariane Leendertz in theoretischer und politischer Hinsicht kontextualisiert. Für eine gegenwartssensible Zeitgeschichtsforschung kann Bells Werk auch mit seinen Widersprüchen viele wichtige Anregungen bieten. Zugleich deutet der Beitrag schon voraus auf unser nächstes Themenheft der „Zeithistorischen Forschungen“, das sich mit der Geschichte der Informationsgesellschaft und der „Computerisierung“ befassen wird.
Die Redaktion
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In this issue
The links between contemporary history and its respective present are an abiding theme in historiographical reflection. How can we successfully incorporate the ties between explored and experienced time – which are always there anyhow – into historiography without succumbing to mere presentism and interpreting historical constellations simply as precursors to the present? Frank Bösch offers a programmatic contribution to this discussion with his analysis of crises and their aftermaths since 1979. In this synopsis of European and global developments, we can see that especially in that year numerous events and trends came together that appear heterogeneous and even contingent at first glance. Precisely this factor, however, allows for various ‘lines of sight’ on a differentiated contemporary problem history.
Frank Bösch, since October 2011 co-director of the Centre for Contemporary History, is also the new co-editor of this journal. He is taking the place of Christoph Kleßmann, who since the inception of the journal has enriched the ‘Studies in Contemporary History’ with his dedication and commitment. We would like to take this opportunity to thank him for his efforts. We are also very pleased that with Cornelia Brink (Freiburg), we were able to win a renowned historian as a new member of our board of advisers.
In the article on the year 1979 and its ramifications, one chapter is dedicated to energy policy, an aspect that has just recently become a focus of contemporary history. In this field, we can analyse political decision making processes as well as technical, economic and ecological dimensions. A pioneer who has for some decades now pointed out these sorts of productive connections is Joachim Radkau. The interview with him opens this issue’s debate section on ‘contemporary histories of environment’, conceived by Melanie Arndt. Christof Mauch’s contribution on Rachel Carson’s ‘Silent Spring’ in the ‘rediscovered classics’ section (fifty years after the book first appeared) also fits in with this topic.
One important research perspective of the ‘Studies in Contemporary History’ is Visual History. In this issue, various contributions present and discuss visual source material: Stefanie Middendorf uses French comics (bandes dessineés) as a probe in order to analyse changes in conceptions of culture and cultural policy in the course of the twentieth century. Julia Werner acknowledges the online archive of the memorial Yad Vashem as a rich fund which should, however, be further improved with regard to its usability and accuracy. Eliane Ursula Ettmüller points out the significance of caricatures in the overthrow of the Mubarak regime in early 2011 and investigates the longer tradition of this medium in Egypt.
Two detailed articles in this issue offer new insights in the more classical areas of German contemporary history research: Imanuel Baumann, Andrej Stephan and Patrick Wagner sum up the central questions and results of their research project on the history of the Bundeskriminalamt (BKA). As with similar ‘commissioned research’ of the past years, the main topic of this study is the continuities in staff and mentalities from the National Socialist era. Beyond more or less scandalous individual cases, historiographical interest has come to focus more on ‘organizational cultures’ and the ways they dealt with the caesura of 1945. For early West German postwar society on the whole and the newly reinstituted democracy, the authors attest a ‘“success” particularly in that a catastrophe never took place’. Due to the BKA’s significant increase in personnel in the 1970s, former Nazi police officers came to inhabit a minority position. They no longer significantly influenced the concepts and practices of the agency. Peter Hoeres’s article on Axel Springer’s image of America and the transformation of conservatism also addresses mental reorientations in West Germany. Whereas initially Springer and his newspapers regarded the USA with ambivalence – even criticism – this changed fundamentally in the context of ‘1968’. It is telling that Springer himself never admitted to or critically reflected this change, but rather purported to have always been a friend of America and a supporter of close relations between Europe and the United States. Conservative hardliners in West Germany who continued to view the United States critically, on the other hand, were increasingly isolated.
The section ‘rediscovered audio classics’, which was initiated last year, is again taken up in this issue with contributions by Philipp Gassert (on the song ‘Ein bisschen Frieden’ by the singer Nicole) and Ole Löding (on BAP’s ‘Kristallnaach’). Both songs are from 1982 and today, thirty years later, can be seen as pop-cultural contemporary documents in specific historical constellations. A further article in the section ‘rediscovered classics’ is dedicated to the sociologist Daniel Bell, who died in January 2011, and his book ‘The Coming of Post-Industrial Society’ from 1973. Ariane Leendertz places this work into a theoretical and political context. For contemporary history research that is attentive towards the present, Bell’s work has many important impulses to offer – despite or even because of its contradictions. At the same time, this contribution points towards our next theme issue, which will focus on the history of the information society and ‘computerization’.
The Editors
(translation: Eva Schissler)