Lieber Herr Gosewinkel, gemeinsam mit Peter Schöttler und Iris Schröder haben Sie 2012 das Themenheft »Antiliberales Europa« herausgegeben, in dem Sie gängige Narrative der Europäisierung korrigieren oder mindestens ergänzen. Wie könnte eine künftige »Zeitgeschichte Europas« aussehen, die vielschichtiger ist als die konventionelle, häufig teleologische Integrationsgeschichte?
Die bestehende Historiographie zur Europäisierung hat viel notwendiges Wissen über Konzepte und Institutionen zur Entwicklung eines demokratischen, pluralistischen und friedlichen Europa beigetragen, wie wir es in den Grundzügen der Europäischen Union verwirklicht finden und politisch hochschätzen. Dabei wird vielfach ausgeblendet, dass sich Europabewusstsein und europäische Einigungspolitik historisch auch aus politischen Entwürfen, Praktiken und Erfahrungen speisten, die dezidiert antiliberale, antidemokratische und unfriedliche Entwürfe repräsentierten. Ich plädiere dafür, diese Konzepte und Erfahrungen in die Zeitgeschichte Europas einzubeziehen und sie als Teil, nicht als Gegenteil der Europäisierung zu behandeln. Dies eröffnet die Chance, z.B. antiliberales Europadenken nicht als anti-europäisch zu übergehen, sondern es als Denken eines ›anderen Europa‹ zu begreifen.