Liebe Frau Weber, Sie haben 2011 einen Aufsatz veröffentlicht über die Massenerschießungen von Katyn (1940) und deren kontroverse Rezeption im Kalten Krieg. Inzwischen ist die Ära des Kalten Kriegs ja sehr gut erforscht, nicht zuletzt dank der Arbeiten und Publikationen Ihres Instituts (Hamburger Institut für Sozialforschung). In welche Richtung(en) könnte sich die zeithistorische Beschäftigung mit dem Kalten Krieg, seiner Vorgeschichte und seiner Folgen künftig entwickeln?
Die politische Ereignisgeschichte zu den Jahrzehnten des Kalten Krieges erscheint auf den ersten Blick gut erforscht. Nach dem Ende dieser globalen Epoche entstanden diverse Studien, die entweder Gesamtdarstellungen geliefert haben oder auf neuer Quellenbasis überraschende Einsichten zu den so genannten heißen Krisen des Kalten Krieges boten. Dass es sich bei diesen Quellen nicht nur um osteuropäische Dokumente gehandelt hat, zeigte unter anderem der Hamburger Historiker Bernd Greiner, der in seinem Buch über den Vietnamkrieg US-amerikanische Dokumente auswerten konnte, die bis in die 1990er-Jahre nicht zugänglich waren und heute teilweise wieder gesperrt sind (»Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam«, 2007). Gleichwohl lag der Fokus der Forschungen zum Kalten Krieg in den vergangenen drei Jahrzehnten aus guten Gründen auf der Interpretation sowjetischer und osteuropäischer Archivbestände. Die kritische Reflexion konventioneller Narrative ist dabei jedoch, so mein Einwand, oft auf der Strecke geblieben. Zugespitzt formuliert wird der Kalte Krieg ungeachtet aller Interventionen der Kultur-, Raum- und Genderforschung zu weiten Teilen immer noch als Ereignisgeschichte eines bipolaren Kräftemessens zweier Supermächte erzählt. In diesem Sinne perpetuiert die Kalte-Kriegs-Forschung eben jene Denkmuster, deren Historisierung ihre Aufgabe sein müsste.
Das heuristische Potential einer neuen transnationalen Cold War Historiography sehe ich einerseits in der Auseinandersetzung mit den Parametern und mentalen Koordinatensystemen des Kalten Krieges, die, wie wir gegenwärtig beobachten, auch aktuelle Politikstile prägen. Eine zweite Forschungsperspektive, auf die ich hier hinweisen möchte, betrachtet den Kalten Krieg als Verflechtungsgeschichte; ein methodischer Ansatz, der am Eisernen Vorhang rüttelt und nach den blockübergreifenden, lokalen, institutionellen und personalen Kooperationen fragt. Eine dritte Forschungsperspektive wiederum stellt das Bild von der Übermacht der zwei Supermächte infrage. Studien wie diejenige der amerikanischen Historikerin Hope Harrison zum Bau der Berliner Mauer und den Beziehungen zwischen Moskau und Ost-Berlin haben die Handlungsspielräume betont, die das Verhalten der osteuropäischen Satellitenstaaten weitaus stärker bestimmten, als es das alte Bild einer uneingeschränkten Herrschermacht Moskaus vermittelt (»Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach«, 2011). Inwiefern prägten die Staaten Osteuropas, der so genannten Dritten Welt/Global South und der neutralen Länder die Geschichte des Kalten Krieges unabhängig und/oder in Konkurrenz und Abgrenzung von den Supermächten USA und Sowjetunion? In der Untersuchung dieser Frage sehe ich die innovativen Potentiale für eine Erforschung des Kalten Krieges, die aus der Perspektive der Generation nach seinem Ende entworfen wird.