Lieber Herr Baberowski, in unserem Themenheft »Gewalt: Räume und Kulturen« haben Sie 2008 den Eröffnungsbeitrag geschrieben – mit dem programmatischen Titel »Gewalt verstehen«. Sie haben Ihre eigenen Forschungen dazu ja weitergeführt, besonders zur Stalin-Ära. Verstehen Sie die Geschichte der Gewalt inzwischen besser?
Ich habe, seit ich den Aufsatz geschrieben habe, Neues gelernt, das in Frage stellt, was ich einmal behauptet habe. Mir ist klar geworden, dass die Situation, nicht die Intention darüber entscheidet, wie sich Gewalt entfaltet. Es können Situationen entstehen, in der sich alle Beteiligten als Opfer verstehen und dennoch verrichten, was sie eigentlich nicht wollen. Das Schlachtfeld ist ein Ort, auf dem getötet und gestorben wird – nicht, weil jene, die sich auf ihm befinden, töten oder sterben wollen, sondern weil niemand eine Wahl hat. Am Hof Stalins konnten die Gefolgsleute nur als Täter überleben, weil der Diktator eine Situation herbeiführte, in der jeder jeden fürchten musste. Nur als Mörder gab es Ordnungssicherheit. Je mehr ich über die Möglichkeiten nachdachte, die Menschen zur Verfügung stehen, desto klarer wurde mir, dass Situationen nicht nach Belieben manipulierbar sind. Gewalt ist dynamisch, sie verändert das Verhalten, zerstört Vertrauen und bewirkt, dass Menschen tun, was im Frieden verboten ist. Es kommt immer nur darauf an, Situationen zu beschreiben, damit verständlich wird, warum die einen gewalttätig sind und die anderen nicht.