Liebe Frau Höhler, in unserer Rubrik »Neu gelesen« haben Sie einen Beitrag geschrieben über Paul R. Ehrlichs Buch »The Population Bomb« von 1968 – ein aus heutiger Sicht sehr befremdliches, damals aber recht einflussreiches Plädoyer für eine restriktive globale Bevölkerungspolitik. Was macht für Sie den Reiz dieser Rubrik aus, also der Re-Lektüren älterer Werke mit heutiger Perspektive?

Das Lesen älterer Werke ist für die Historikerin ja eine vertraute Arbeit. Oft aber lesen wir Quellenmaterial kursorisch oder punktuell. Ein Buch als Repräsentant seiner Zeit aus heutiger Perspektive neu zu lesen ist etwas anderes. Hier meine ich nicht nur die Materialität eines Werkes. Sicher ist es reizvoll, ein antiquarisch besorgtes Buch oder ein Bibliotheksexemplar in die Hand zu nehmen, es zu drehen und zu wenden, den Einband zu studieren und die Bildsprache wirken zu lassen, die im Falle von Paul Ehrlichs »Bevölkerungsbombe« besonders deutlich ist. Die Herausforderung der Re-Lektüre aber besteht darin, sich neu auf ein Thema einzulassen und sich dazu kritisch zu positionieren, ohne es abzuwerten. Die Ökologen um 1970 hatten gute Gründe, sich über die Beziehungen zwischen Umweltabbau, natürlichen Vorräten und der Zahl der Menschen auf der Erde Gedanken zu machen. Dass sie Probleme und Lösungsvorschläge auf eine für uns befremdliche Weise formulierten, sollte uns nicht dazu verleiten, uns auf die Seite der Gegenwart zu schlagen. Nationale wie globale Bevölkerungsdiskurse sind inzwischen anders, aber oftmals ebenso alarmistisch und auch populistisch gelagert. Nicht »Explosion«, sondern »Schrumpfung« und »Überalterung« sind jetzt die Angstfiguren, die in fast sämtlichen Ländern der nördlichen Hemisphäre kursieren. Ehrlichs über 40 Jahre altes Buch ist daher nicht einfach als Kuriosität oder Irrweg abzutun, sondern es gibt Anlass, in den wechselnden Botschaften (zu viele Menschen auf dem Planeten, zu wenige Nachkommen in Deutschland) die sich gleichenden Gebote und Verbote wahrzunehmen, die regeln, wer sich wo fortpflanzen darf oder soll. Restriktive Bevölkerungsmodelle und -politiken bestehen damals wie heute darin, biologische vor soziale Faktoren zu stellen und Fragen der Chancengerechtigkeit, der Ressourcenverteilung und der Umweltgerechtigkeit auszublenden.

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