„Akademische“ Zeitgeschichte – Texte und Kontexte

Vorwort

Die Deutung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit liegt nicht allein in der Hand professioneller Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, sondern ist ein hart umkämpftes Feld mit verschiedensten Akteuren. Das vorliegende Heft widmet sich diesem breiteren Feld der „populären“ Geschichtsschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven. Welche Rolle spielt die „akademische“ Zeitgeschichte nun bei der Konstituierung von Geschichtsbildern und Geschichtserzählungen? „Akademisch“ mag wie ein abwertendes Signum klingen – unverständlich, im System Wissenschaft verfangen, vorbei am Publikum –, während es für den praktizierenden Akademiker eine Quelle seines Berufsethos sein dürfte (oder vielleicht der letzte Rettungsanker der Selbstlegitimierung). Strittig bleibt indes, was das „Fachwissenschaftliche“ genau ausmacht: Sind es bestimmte Mindeststandards, die ein Geschichtswerk erfüllen muss, um als „wissenschaftlich“ anerkannt zu werden, oder ist die „akademische“ Geschichtsschreibung im Wesentlichen durch eine (nicht allein fachspezifische) Forschungspraxis gekennzeichnet, die an strukturelle Bedingungen von Drittmittel- und „Exzellenz“-Projekten und akademische Moden gebunden ist sowie zu guter Letzt als „Abschlussbericht“ in Darstellung überführt werden muss?

Doch unterscheidet sich die „akademische“ Geschichtsschreibung tatsächlich so wesentlich von der „populären“ Geschichtserzählung, wie es Historikerinnen und Historiker gern behaupten? In seiner Einleitung zum vorliegenden Heft erläutert Dirk van Laak, dass sich beide Zugänge zur Zeitgeschichte in den letzten Dekaden aus verschiedensten Gründen angenähert haben. Und wie verhält sich eigentlich die „populäre“ zur „literarischen“ Geschichtsschreibung? Denkt man etwa an die Werke Alexander Kluges, so wird man sie im Hinblick auf Erzählstil und Verbreitung nicht unbedingt als „populär“ einstufen können, während dies zum Beispiel für Uwe Timms Bücher schon eher gilt. Möglicherweise sind also die Unterschiede zwischen „wissenschaftlicher“ und „literarischer“ Geschichte nicht größer als diejenigen innerhalb beider Sparten.

Wiederholt – mitunter sogar aus den eigenen Reihen, wo eine Tendenz zur „Popularisierung“ im Allgemeinen als fragwürdig gilt – taucht jedenfalls der Vorwurf auf, deutschsprachige Historiker würden ihre Werke nicht für ein größeres Publikum schreiben. Dabei wird auf den englischsprachigen Raum verwiesen, wo die Grenzlinien zwischen der Fachöffentlichkeit und dem weiteren interessierten Publikum weniger streng gezogen werden als in Deutschland. Erneut lässt sich dies jedoch nicht verallgemeinern, denn auch hierzulande scheint es einen gewissen Trend zu geben, dass Fachhistoriker (wieder) verstärkt Biographien schreiben und damit mehr Resonanz beim Publikum entfalten. Ob das ein Ausweg aus der mancherorts beklagten Krisis der Geschichtswissenschaften sein kann, ist allerdings fraglich. Während im 19. und lange Zeit auch im 20. Jahrhundert der Geschichte (sei es in „populärer“, sei es in „akademischer“ Form) eine hohe Deutungsmacht zukam, ist ein solcher Anspruch seit der Kritik an den „großen Erzählungen“, im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung und dem folgerichtigen Aufstieg der Kulturwissenschaften zunehmend verflogen. In dieser Situation erscheint es aussichtsreich, die Heterogenität der Geschichte und die konfligierenden Gedächtnisse gleichsam durch eine Multiperspektivität des Erzählstandpunktes zu reflektieren. Beispiele für eine derartige Geschichtsschreibung gibt es bisher nur wenige – etwa Saul Friedländers zweibändige Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung oder auch Jürgen Osterhammels theoretisch avancierte Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wie sich darin auf Basis wissenschaftlicher Forschung eine Ethik der Geschichte entfaltet, und in welche Identitätskonzepte diese Geschichtsschreibung ihrerseits eingebunden bleibt, wäre zu untersuchen.

Die hier angeregte Debatte und das Themenheft insgesamt haben das Ziel, bestimmte Darstellungsformen von Zeitgeschichte nicht vorschnell als höher- oder minderwertig zu qualifizieren, sondern diese Formen und ihre Funktionen, diese Texte und ihre Kontexte zunächst einmal genauer in den Blick zu nehmen. Die beiden folgenden Essays greifen für die „akademische“ Zeitgeschichte zwei Bereiche heraus: Während sich Daniel Fulda bestimmten Erzählformen widmet, skizziert Olaf Blaschke einige Marktentwicklungen der zeitgeschichtlichen Buchproduktion. Fulda belegt, dass sich in neueren Gesamtdarstellungen deutscher Geschichte vielfach Erzählmuster finden, die stärker der Historiographie des 19. Jahrhunderts folgen als den aktuellen Methodendiskussionen (was der öffentlichen Bewertung dieser Werke als „wissenschaftlich“ freilich keinen Abbruch getan hat). Der Hinweis auf langfristige Kontinuitätslinien und Mechanismen der Reputationsverteilung relativiert etwas den Eindruck, dass in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte ein fundamentaler Wandel stattgefunden habe. Blaschke nimmt eine gewisse Gegenposition zu Fulda ein, wenn er davor warnt, Trendaussagen über die Geschichtswissenschaft und speziell die Zeitgeschichte auf Textanalysen einzelner Werke zu stützen; erforderlich sei vielmehr auch eine breitere Bestandsaufnahme der Historiographie als Ware. Blaschke kann zeigen, dass die Produktion von Geschichtstiteln in der Bundesrepublik nach 1945 stark und diejenige von Zeitgeschichtstiteln dabei überproportional gewachsen ist. Beide Diskussionsbeiträge regen dazu an, „akademische“ und „populäre“ Geschichtsschreibung weniger als Antagonisten zu verstehen, sondern ihre Kontaktzonen, Mischungsverhältnisse oder auch Bruchlinien künftig präziser zu untersuchen.

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