Zeitgeschichten der Umwelt

Einleitung

Anmerkungen

„Umwelt“ ist in aller Munde. Längst sind es nicht mehr nur die Birkenstock-Sandalen oder „Jesuslatschen“ tragenden „Ökos“, die den Umweltschutz auf ihren Baumwoll- oder Jutetaschen propagieren, sondern es gehört generell zum guten Ton, sich mindestens verbal für den Erhalt einer lebenswerten Umwelt einzusetzen. Umwelt(schutz) ist aus den alltäglichen Praktiken und gesellschaftlichen Diskursen sowie nationaler, internationaler und supranationaler Politik nicht mehr wegzudenken. Die Umweltbewegung erhielt ab dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts einen solch zentralen Stellenwert, wie es zuvor nur die Arbeiterbewegung und die nationalen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert vermocht hatten. Dabei hat sich die Umweltbewegung über einen vergleichsweise viel kürzeren Zeitraum konstituiert und eine Vielzahl einflussreicher Institutionen auf allen Ebenen hervorgebracht. Doch welche Möglichkeiten hat die zeithistorische Forschung, um die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte und der Gegenwart unter dem Aspekt „Umwelt“ zu analysieren – jenen Jahrzehnten, die auch als „Ära der Ökologie“ beschrieben werden?1

Matthew Vieira, Boston 1973.

 

Matthew Vieira aus Boston demonstriert Anfang der 1970er-Jahre, wie sich in einer hochtechnisierten Gesellschaft die Landschaft verändert hat. Die Aufnahmen seiner Kinder, die er der Kamera präsentiert, sind rund 35 Jahre alt; sie entstanden im damaligen Wood Island Park, der dem internationalen Flughafen Boston Logan weichen musste. Immer mehr Menschen nahmen ab den 1970er-Jahren den Wandel der Umwelt als Problem wahr und forderten den Erhalt oder die Wiederherstellung „natürlicher“, „unberührter“ Räume. Das hier gezeigte Bild stammt aus dem Kontext des Projekts „Documerica“ (1971– 1977), bei dem die neu gegründete „Environmental Protection Agency“ (EPA) über 100 Fotografinnen und Fotografen damit beauftragt hatte, das Verhältnis von Mensch und Umwelt in einem sehr breiten Sinne zu dokumentieren. So kamen Zehntausende Fotos zusammen, von denen die National Archives inzwischen über 15.000 digital verfügbar gemacht haben; siehe http://www.archives.gov/research/environment/documerica-highlights.html und http://www.flickr.com/photos/usnationalarchives/collections/72157620729903309/.
(Ausgewähltes Foto: Michael Philip Manheim, https://research.archives.gov/id/548451; Public Domain)

Jens Ivo Engels’ Kritik von 2006, dass umwelthistorische Fragestellungen in den Leitdebatten der zeithistorischen Forschung fehlten,2 hat weiterhin ihre Berechtigung. Obgleich in den letzten beiden Jahrzehnten etliche umweltgeschichtliche Arbeiten mit zeithistorischer Perspektive und Relevanz auch im deutschsprachigen Raum erschienen sind, besteht noch immer eine offenkundige Barriere zwischen Zeit- und Umweltgeschichte. Die folgende Debatte bietet nun einige Anknüpfungspunkte zum Schreiben einer integrierten Umweltzeitgeschichte. Zur Diskussion gestellt werden Themenfelder und methodische Zugänge, die sowohl für die Zeitgeschichte als auch für die Umweltgeschichte aufschlussreich sind.

Wer das 20. Jahrhundert verstehen und erklären will, muss den welthistorisch einzigartigen ökologischen Wandlungsprozess einbeziehen. Das bis dato beispiellose Wirtschaftswachstum der „langen 1950er-Jahre“ (Werner Abelshauser) war untrennbar mit einem immens gestiegenen Verbrauch an fossilen Energieträgern verbunden. Der Einsatz neuer Technologien, häufig begleitet von euphorischen Zukunftsentwürfen, führte nicht nur zu Umweltveränderungen, sondern auch zu unvorhersehbaren Herausforderungen in Politik und Gesellschaft. Unmittelbare Auswirkungen auf die „Umwelt“ hatten zudem das rasante Bevölkerungswachstum und die Urbanisierungsprozesse. Die vor allem seit den 1970er-Jahren zunehmend als „Zerstörung“ wahrgenommene Transformation der Umwelt erlangte Ausmaße, die sich nicht mehr mit nationalstaatlichen Mitteln eingrenzen ließen. Gleichzeitig riefen diese Entwicklungen – ebenfalls zum ersten Mal in diesem Ausmaß – Akteure auf den Plan, die sich regional, national, international und transnational für die Bewahrung der Umwelt engagierten. Darunter konnten und können sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden: Für die einen ist der Bau eines Atomkraftwerks der beste Schutz gegen den Klimawandel, für die anderen eine nicht kalkulierbare Bedrohung der (nicht nur) menschlichen Natur. Auch aus umwelthistorischer Sicht kann deshalb von einem „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) gesprochen werden. Dabei kommt es darauf an, einerseits die tatsächlichen Veränderungen von Lebensräumen und -bedingungen zu analysieren, andererseits aber auch die Fahnenwörter, Leitbegriffe, Denkmuster und Visualisierungsstrategien der verschiedenen Akteure konsequent zu historisieren (von „Atomtod“ über „Waldsterben“ bis „Nachhaltigkeit“).

2

Einer der Begründer der deutschen Umweltgeschichtsforschung, Joachim Radkau, schildert in einem Interview seine persönlichen Interessen an diesem Feld und die Konjunkturen der Beschäftigung mit Umweltthemen; dies markiert den Auftakt zur vorliegenden Debatte. In den folgenden vier Beiträgen setzen sich Frank Uekötter, Julia Obertreis, Sabine Dabringhaus und Franz Mauelshagen nicht nur mit Zäsuren und Zuschreibungen auseinander („Ära der Ökologie“, „Ökozid“, „Anthropozän“), sondern plädieren zugleich für das Schreiben neuer, pluraler (Zeit-)Geschichten – der Umweltbewegungen, der Sowjetunion, Chinas und des Klimas – aus umwelthistorischer Perspektive. Die Debatte will zu neuen Fragen in der Zeitgeschichte anregen, aber auch dazu, alte Fragen neu zu stellen. Die Spezifik des 20. Jahrhunderts und seiner Erforschung wird dabei ebenso deutlich wie der Konnex mit sehr viel längerfristigeren Entwicklungen der Natur- und Menschheitsgeschichte.

Anmerkungen: 

1 So jüngst der Titel von Joachim Radkaus Weltgeschichte der Umweltbewegungen.

2 Jens Ivo Engels, Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 56 (2006) H. 13, S. 32-38, hier S. 32.

 

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