1. Die Bolschewiki, Stalin und die Gewalt
Das Tagebuch des bulgarischen Kommunisten und Komintern-Vorsitzenden Georgi Dimitrov (1882-1949) gehört zu den erst in jüngerer Zeit zugänglich gewordenen Quellen, die Stalin jenseits historisch tradierter Klischees und der zumeist spekulativen Persönlichkeitsskizzen der älteren westlichen Literatur als einen Menschen mit konkret benennbaren Charakterzügen zeigen und darüber hinaus ein anschauliches Bild der Umgangs- und Kommunikationsformen in seinem Umfeld vermitteln. Bis 1991 im Archiv der Kommunistischen Partei Bulgariens aufbewahrt und unter Verschluss gehalten, zählt Dimitrovs Tagebuch, das die Jahre 1933 bis 1949 umspannt, zu den vielen archivalischen und sonstigen Quellen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ost- und Südosteuropa von der Geschichtswissenschaft erschlossen und zum Teil durch Editionen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Das internationale Interesse an Dimitrovs Aufzeichnungen war so groß, dass die bulgarische Ausgabe (1997) wahlweise ganz oder in Auszügen ins Deutsche, Französische, Englische und Italienische übersetzt wurde.1
Nach seinem Freispruch im Reichstagsbrandprozess und seiner Ausreise in die Sowjetunion von der Moskauer Führung als Held begrüßt und gefeiert, erlangte Dimitrov bald Zugang zum kleinen Kreis derjenigen Funktionäre, mit denen sich Stalin bei der täglichen Arbeit und im Privatleben (die in seinem Falle ohnehin unterschiedslos ineinanderflossen) bevorzugt umgab. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Tagebuch die Aufzählung und Beschreibung von Opernbesuchen, Festveranstaltungen, Geburtstagsfeiern und Trinkgelagen, die Dimitrov Gelegenheit boten, Stalin in einer Atmosphäre derber, ungezwungener Männerkumpanei persönlich nahezukommen. Stalins Datscha vor den Toren Moskaus oder auch die Loge des Politbüros im Bolschoi-Theater dienten als Rahmen für zwanglose, vertrauliche Gespräche. An diesen Orten war Stalin der Not enthoben, seine Worte sorgfältig wählen und Rücksicht auf ein großes, offizielles Publikum nehmen zu müssen.
Manch „wunderbaren“ und „unvergesslichen“ Abend verbrachte der Bulgare in der Gesellschaft des Diktators, der sich durch dominantes, herrisches Auftreten und eine schlichte, im Grunde ordinäre Sprache auszeichnete. Diese Sprache verschleierte und beschönigte nicht, wonach Stalin der Sinn stand; sie brachte es vielmehr mit unmissverständlicher, drastischer Offenheit zum Ausdruck. Von unkritischer Bewunderung für Stalin erfüllt und selbst ein Mann von eher mäßiger Intelligenz, hielt Dimitrov in seinem in deutscher Haft begonnenen Tagebuch fest, was der Diktator zu diesem oder jenem Thema gesagt hatte, ohne sich aber die Kühnheit zu gestatten, diese Äußerungen zu kommentieren oder zu hinterfragen, mochten sie auch von größerer politischer oder ideologischer Relevanz sein.
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Mal bezeichnete Stalin Trotzkis Auffassung von der Weltrevolution rundheraus als „Blödsinn“, mal rügte er mit drohenden Worten seine ehrfürchtig strammstehenden Politbürokollegen als bequem gewordene, selbstzufriedene „Faulpelze“ und warnte sie: „Ich werde es euch zeigen, wenn mir der Kragen platzt. Ich werde auf die Fettwänste eindreschen, dass es nur so kracht.“2 Auch wenn Stalin zu den Politbüromitgliedern und den Gästen an seiner Tafel über Gewalt und Terror sprach, erlegte er sich keinerlei Hemmungen auf. Das war ohnehin nicht notwendig, denn er sprach zu Gleichgesinnten und Komplizen, zu Männern wie Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Ordžonikidze und Mikojan, die ihm vom Habitus her ähnelten und seit den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg mit der rücksichtslosen Anwendung von Gewalt ebenso vertraut waren wie er. Am 7. November 1937, dem Revolutionsfeiertag - der seit einigen Monaten tobende Große Terror hatte mit der Liquidierung ganzer Parteikomitees auf regionaler und lokaler Ebene einen ersten Höhepunkt erreicht -, brachte Stalin während eines Festessens im Kreml einen längeren Trinkspruch aus. Er nahm dabei die Feinde des sozialistischen Staates ins Visier, auch solche, die ihr Unwesen hinter dem Deckmantel der Parteimitgliedschaft trieben: „Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe - bis zum Ende!“ Nachdem die „zustimmenden Ausrufe“ der Tafelrunde zu dieser Ankündigung weiterer Gewaltmaßnahmen verklungen waren, erhob sich Dimitrov und versicherte eilig, er werde alles in seinen Kräften Stehende tun, „den gnadenlosen Kampf gegen die Feinde auch in den Reihen der Komintern“ umzusetzen.3
Bei einer anderen Gelegenheit, im Januar 1940, als der leichtfertig vom Zaun gebrochene Winterkrieg gegen Finnland für die sowjetischen Truppen in einem Debakel zu enden drohte, erklärte Stalin dem Bulgaren während einer Abendveranstaltung im Bolschoi-Theater, die Rote Armee habe erst 60.000 von 150.000 finnischen Soldaten „niedergemacht“. Auch die übrigen müssten noch „niedergemacht“ werden; dann sei „die Sache“ bald zu Ende. Wahrscheinlich empfand sich der Diktator als human und großmütig, als er hinzufügte: „Es brauchen nur Junge und Greise übrigzubleiben.“4 So einfach waren die Dinge für Stalin: Man müsse nur 150.000 Soldaten „niedermachen“; dann werde sich das geschwächte Finnland zu einer sowjetfreundlichen Politik herbeilassen. Die Ankündigung großangelegter Vernichtungsaktionen war alles andere als Prahlerei oder bloßer Aufbau einer Drohkulisse. Stalin ließ seinen Worten stets Taten folgen, standen ihm doch alle logistischen Mittel zu Gebote, seine Vernichtungspläne Wirklichkeit werden zu lassen: Nur wenige Wochen nach dem Gespräch mit Dimitrov, im März 1940, erfolgte auf seinen Befehl die Erschießung von mehreren Tausend polnischer Offiziere im Wald von Katyn.
Im Kreise seiner Getreuen machte Stalin keinen Hehl daraus, dass Gewalt, das „Vernichten“ und „Niedermachen“ von Menschen, für ihn ein legitimes und geradezu unverzichtbares Mittel zur Beseitigung von tatsächlichen und eingebildeten Feinden sowie zur Umwälzung bestehender und Schöpfung neuartiger Verhältnisse war. Wenn Dimitrov solche Bekenntnisse zur Gewalt in seinem Tagebuch unkommentiert ließ, dann nicht zuletzt deshalb, weil auch für ihn Gewaltanwendung und gewalttätig ausgetragener Klassenkampf nicht in den Bereich des Theoretischen und Abstrakten gehörten, sondern konkrete biographische Erfahrungen waren. Für einen Kommunisten wie Dimitrov, der im Bulgarien der 1920er-Jahre einen rechtsgerichteten Staatsstreich miterlebt, Polizeiverfolgung und Inhaftierung erlitten, Bombenattentate gegen Vertreter der Macht organisiert und an einem erfolglosen kommunistischen Aufstand teilgenommen hatte, war Gewalt zur gängigen Form der Auseinandersetzung zwischen politischen und sozialen Gegnern geworden. Mochte er vor dem Ersten Weltkrieg Parlamentsabgeordneter und Stadtrat von Sofia gewesen und somit in die Nähe bürgerlicher Respektabilität gelangt sein, so gab es zwischen ihm und den Gewalttätern in Stalins Umgebung letztlich doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Auch Dimitrov, der vor dem Reichsgericht in Leipzig den Versuch der Nationalsozialisten vereitelt hatte, den Reichstagsbrand der KPD anzulasten, sah die Welt von Feinden erfüllt, und wenn Stalin ihm im November 1937 anvertraute, „eine Gruppe von Verschwörern“ habe geplant, „das Politbüro im Kreml zu überfallen“, so musste ihm dies alles andere als abwegig und absurd erscheinen.5
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Woher rührte die in Stalins Äußerungen erkennbare Bereitschaft, bevorzugt auf massive Gewalt zurückzugreifen, um Konflikte auszutragen und Probleme zu lösen, um Feinde aller Art durch physische Vernichtung aus der Welt zu schaffen - seien sie nun gegnerische Soldaten, unzuverlässige Parteifunktionäre oder Kulaken? Die Versuchung ist groß, den späteren Diktator und Gewaltmenschen Stalin, der „Volksfeinde“ mitsamt ihren Sippen vernichten will und seinen Mitstreitern Prügel androht, bereits im Seminaristen und Jungrevolutionär Džugašvili angelegt zu sehen, geboren in niedrigsten sozialen Verhältnissen, ohne Einbindung in die zivilisierenden Normen und Sicherungen einer bürgerlichen Gesellschaft an der konflikt- und krisengeschüttelten Peripherie des Russischen Reiches aufgewachsen. Aus dem Blickwinkel des Gewaltmotivs sind Kontinuitäten zwischen der vor- und der nachrevolutionären Zeit nicht von der Hand zu weisen: Das Milieu des jungen Stalin waren die Straße und die gefahrvolle Untergrundarbeit; beständige Begleitmusik waren Gewaltphänomene aller Art, Faust- und Straßenkämpfe unter Jugendlichen, brutal auseinandergejagte Demonstrationen, Banküberfälle zur Auffüllung der Parteikasse, Gefängnisschlägereien, ethnische Pogrome im explosiven Vielvölkergemisch Transkaukasiens. In seinen Artikeln beschwor der von einem Bedürfnis nach sozialer Rache und Vergeltung getriebene Jungrevolutionär einen künftigen Klassenkrieg als blutige Abrechnung der Unterdrückten mit den Ausbeutern herauf. Später, an den Fronten des Bürgerkriegs, war es Stalin - als Kommandeur eher talent- und glücklos, in der Anwendung des roten Terrors umso brutaler -, der Deserteure öffentlich erschießen und Dörfer niederbrennen ließ, wenn Bauern kein Getreide abliefern wollten.6
Ein rein biographischer Ansatz kann aber nicht die Frage beantworten, warum exzessive Gewalt zu einem konstitutiven Merkmal des Stalinismus werden konnte.7 Es bedurfte erstens einer bestimmten historischen Entwicklung, nämlich des Zusammenbruchs der alten politischen Ordnung und der Macht-eroberung einer mehrheitlich aus der Unterschicht stammenden revolutionären Elite, sowie zweitens einer obsessiv um die manichäische Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse kreisenden Ideologie, damit die vielfältigen Gewalterfahrungen Stalins und der anderen zukünftigen bolschewistischen Herrschaftsträger bei der revolutionären Umgestaltung einer Gesellschaft wirksam werden konnten. Stalins skizzenhaft angedeuteter vorrevolutionärer Werdegang und seine Teilnahme am Bürgerkrieg verweisen bereits auf die überpersönlichen Zusammenhänge, in die Revolutionäre und Gewaltmenschen von seinem Schlage eingeordnet werden müssen. Der Hintergrund, vor dem sich die Sozialisation Stalins und seiner künftigen Mitstreiter vollzog, waren die gewalthaften Verhältnisse im späten Zarenreich mit Judenpogromen, ethnischen Konflikten an der Peripherie und gewalttätigen Sozial- und Agrarprotesten. Hinzu kam die nachhaltige Prägung durch den Bürgerkrieg, der die Bolschewiki an ein quasimilitärisches Verständnis von Herrschaft und Politik gewöhnte und ihnen einen landsknechthaften Habitus anerzog.8
Die Gewaltmittel, die die an mehreren inneren Fronten gleichzeitig kämpfende Autokratie bis 1914 einsetzte, um zu überleben - Niederschlagung von Streiks und Bauernaufständen sowie Pazifizierung von ethnischen Konflikten durch den Einsatz von Militär und Kosaken -, erfuhren eine Steigerung im Ersten Weltkrieg, dessen verschärfender Einfluss auf die weitere Gewaltgeschichte Russlands und der Sowjetunion nicht unterschätzt werden darf.9 Der Weltkrieg und der Bürgerkrieg erweiterten Zug um Zug das Repertoire der Gewaltmittel, aus dem sich zunächst Autokratie und Provisorische Regierung, sodann alle Bürgerkriegsparteien und schließlich, nach dem Sieg über sämtliche Gegner und der Herrschaftssicherung, nur noch die Bolschewiki bedienten: Beschaffungskommandos, die auf dem Lande Getreide requirierten; Geiselnahmen; Deportationen politisch oder sozial missliebiger Gruppen in Straflager; Massenerschießungen im Rahmen von Straf- und Vergeltungsexpeditionen; prophylaktische Zwangsumsiedlungen von „Feindnationen“. Was sich in der Auseinandersetzung mit dem Feind einmal „bewährt“ hatte, galt fortan als legitimes Mittel, auf das immer wieder zurückgegriffen werden konnte. Gewaltmaßnahmen gewannen im Bürgerkrieg den Charakter einer „sozialen Chirurgie“ (Dietrich Beyrau), einer gezielten Vernichtung bestimmter Kollektive - von Juden, Kommunisten, Weißgardisten, Kosaken oder anderen Gruppen, für die im Gesellschaftsentwurf der jeweils gewaltausübenden Seite kein Platz vorgesehen war.
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Das Bestreben, den soziopolitischen Körper von „Geschwüren“ zu heilen, ihn von „Parasiten“ und „Ungeziefer“ zu reinigen, trieb gerade die von revolutionärem Maximalismus und utopischen Zukunftsvisionen beseelten Bolschewiki dazu an, Gewalt immer wieder bewusst als Instrument zur Formung der Gesellschaft einzusetzen, galt es doch, die auf dem Territorium der Sowjetunion vorfindliche Bevölkerung auf der Grundlage der Klassenzugehörigkeit zu homogenisieren.10 Alle, die sich diesem Homogenisierungsanspruch nicht fügten - wohlhabende Bauern, Vertreter vorrevolutionärer Eliten, Geistliche, „bürgerliche Spezialisten“ und „sozial schädliche Elemente“ wie Kriminelle, Obdachlose und Prostituierte - mussten entfernt, fortgeschafft, vernichtet werden, weil sie den „gesetzmäßig“ vorgeschriebenen Weg in die lichte Zukunft verstellten. Isoliert inmitten einer multiethnischen, sozioökonomisch rückständigen Bevölkerung, der revolutionäre Ziele kaum zu vermitteln waren, und zusätzlich konfrontiert mit den Folgen der stalinschen Revolution von oben, die in Chaos und Dysfunktionalität mündete anstatt in eine wohlgeordnete sozialistische Gesellschaft, griffen die Bolschewiki immer dann zu exzessiver Gewalt, wenn die Realisierung ihrer maßlosen Pläne am Widerstand vermeintlicher „Schädlinge“ und „Volksfeinde“ zu scheitern drohte. Sie kannten keine anderen Konflikt- und Problemlösungsstrategien als die Anwendung von Gewalt und Terror. Stalin sollte dabei nicht als alleiniger Urheber sämtlicher Gewalttaten des Stalinismus betrachtet werden, sondern vielmehr als Verkörperung eines Typs von revolutionärem Machthaber, der, sozialisiert in gewaltgesättigten Kontexten, in einer Zeit von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg zur Herrschaft gelangt und die weitere exzessive Anwendung geläufiger Gewaltpraktiken zum Zwecke sozialer Transformation mit den Theoremen von Klassenkampf und Klassenkrieg rationalisiert.11
2. Tagebücher als historische Quellen
Wie geschildert, vermittelt Dimitrovs Tagebuch detaillierte Eindrücke von der Atmosphäre an Stalins „Hof“. Daran lässt sich die generelle Frage knüpfen, worin der Wert von Tagebüchern im Vergleich mit anderen Quellen besteht. In Anlehnung an gängige Definitionen - sie wurden von der Frühneuzeitforschung entwickelt, sind auf die Zeitgeschichte aber ohne Weiteres übertragbar - gehören Tagebücher nicht zu der recht weit gefassten Kategorie der Ego-Dokumente, sondern zur enger einzugrenzenden Quellengattung der Selbstzeugnisse.12 Das Tagebuch ist ein Selbstzeugnis par excellence: Das Ich des Verfassers steht eindeutig im Vordergrund der aus eigenem Antrieb, ohne Anstoß von außen niedergeschriebenen Aufzeichnungen. Diese kreisen vorwiegend um den Verfasser als handelndes und leidendes Subjekt, um seine alltäglichen Aktivitäten, sozialen Beziehungen, psychischen Befindlichkeiten und andere Themen mit persönlichem Bezug. In der Praxis wird es sich immer als schwierig erweisen, ein Tagebuch ausschließlich als „Spiegel der Welt“ oder als „Spiegel der Seele“ (Peter Boerner) anzusehen, als einfaches Erinnerungsjournal oder als Ort der Gewissensprüfung und Selbsterkundung, denn zumeist stehen in einem Tagebuch beide Schreibanlässe nebeneinander - der „Rechenschaftsbericht“ über die täglichen Verrichtungen der Verfassers und die Interaktion mit seinem sozialen Umfeld auf der einen, Introspektion und Kontem-plation auf der anderen Seite. Welche Verwendungsmöglichkeiten ein Tagebuch dem Historiker bietet, welche Fragestellungen sich in der Begegnung mit dieser Quellenart konzipieren lassen, hängt von mehreren Faktoren ab: von den thematischen Schwerpunkten der Aufzeichnungen, vom Reflexions- und Darstellungsvermögen des Verfassers, von der Häufigkeit und Regelmäßigkeit sowie vom Umfang der Notizen.
Im Vergleich mit den Erinnerungen, die Stalins enger Vertrauter Anastas Mikojan (1895-1978) hinterlassen hat,13 tritt deutlicher hervor, welche Bedeutung Dimitrovs Tagebuch als einer Quelle zuzumessen ist, die die Gestalten im inneren Kreis der Macht und ihr Verhältnis zur Gewalt beleuchtet. Mikojan, der gut 30 Jahre in der Nähe des Diktators zubrachte, präsentiert sich in seinen Memoiren, die ebenfalls erst nach dem Ende der Sowjetunion an die Öffentlichkeit gelangten, in leicht zu durchschauender Weise als Unbeteiligter, Nichtwissender und Ahnungsloser, der erst nach Stalins Tod, im Zuge der Entstalinisierung, vom ganzen Ausmaß des Terrors erfahren haben will. Vom gewalttätigen Habitus Stalins und seiner Mitstreiter sowie von den Umgangs- und Kommunikationsformen innerhalb der Führungsgruppe lassen diese - insgesamt sehr verschwiegen gehaltenen und oft ausweichend formulierten - Erinnerungen nur wenig erahnen. Wenn Mikojan Gewalt und Terror überhaupt erwähnt, dann schiebt er die Verantwortung dafür allein Stalin zu oder „bösen Ratgebern“ wie Nikolaj Ežov und Lavrentij Berija, den Leitern der Geheimpolizei. Das ist nichts anderes als die offiziöse Deutung des Stalinismus, die Chruščev und Mikojan 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU verkündet hatten, um sich selbst, die vormaligen Mitarbeiter und Komplizen des Diktators, nach Kräften zu entlasten.
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Mikojans angestrengtes Bemühen, die eigene Mittäterschaft, die Mitwirkung an der Zwangskollektivierung und den „Säuberungen“ der 1930er-Jahre zu beschweigen und ein enges Verhältnis zu Stalin zu leugnen, hat sich spätestens seit Öffnung der russischen Archive als vergeblich erwiesen. Nicht zuletzt in Dimitrovs Tagebuch tritt Mikojan ständig als Mitglied des kleinen Kollektivs verschworener Parteiführer in Erscheinung, die, losgelöst von der Realität des sowjetischen Alltagslebens, im Mikrokosmos des Kreml lebten und sich täglich gegenseitig in der Annahme bestärkten, ringsum von Trotzkisten, „Schädlingen“, Spionen und Diversanten umgeben zu sein. Zwar bedarf es der Aufzeichnungen Dimitrovs nicht, um Stalin und seine Handlanger als treibende Kräfte des Terrors von 1937/38 zu überführen, denn in Gestalt archivalischer Quellen stehen längst genügend eindeutige Belege zur Verfügung. Doch die dürre, formelhafte Sprache der Akten vermittelt keinen plastischen Eindruck davon, wer die Menschen waren, die Woche für Woche umfangreiche Erschießungslisten abzeichneten und mit einer Flut von Telegrammen anordneten, wie viele „Volksfeinde“ in den Provinzen zu liquidieren seien; die, wie Mikojan, in einzelne Unionsrepubliken reisten, um die dortigen Parteiführungen zu verhaften und auszutauschen. Dimitrovs Aufzeichnungen bieten zugegebenermaßen flüchtige, aber doch anschauliche Momentaufnahmen ohne gestellte Posen und nachträgliche Retuschen. Sie zeigen, mit welcher Beiläufigkeit, Spontaneität und Unbekümmertheit sich Stalin an der Festtafel oder in der Opernloge zu Gewalt und Terror äußerte, welche Worte er dabei wählte und wie sehr er sich im Einklang mit seiner nächsten Umgebung befand, wenn er unter dem Beifall der Anwesenden (Dimitrov eingeschlossen) die Vernichtung der „Volksfeinde“ mit Bildern heraufbeschwor, die an die Gewalttraditionen seiner kaukasischen Heimat gemahnten. Anders als bei Mikojan zeigen sich bei Dimitrov Täter in Aktion - Menschen, die Gewalt und Terror als alltäglichen und selbstverständlichen Bestandteil politischen Handelns ansahen und sich keinerlei Mühe machten, dies zu bemänteln, wenn sie unter sich waren.
Gerade in der Gegenüberstellung von Tagebuch (Dimitrov) einerseits und Memoiren (Mikojan) andererseits werden die Stärken eines Tagebuchs erkennbar. Die fortlaufend, im Idealfall von Tag zu Tag und ohne größere Lücken niedergeschriebenen Tagebuchnotizen besitzen gegenüber Memoiren und Autobiographien den Vorteil, dass sie unter dem frischen Eindruck des Erlebten und Empfundenen zu Papier gebracht werden, sich aber in der Regel nicht an einen Adressaten richten und daher nicht auf eine bestimmte Wirkung berechnet sind. Der Verfasser von Memoiren oder einer Autobiographie hingegen will seinem Publikum ein bestimmtes Bild von sich selbst und seinem Lebensweg vermitteln; er überschaut in der Retrospektive sein Leben bereits als langfristigen Entwicklungsprozess und vermag das aus seiner Sicht Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden - oder Verfängliches und Kompromittierendes auszublenden. Demgegenüber kann das Tagebuch ein größeres Maß an Authentizität beanspruchen, weil hier keine nachträgliche Neuzusammenstellung und Neubewertung der Fakten des Lebens unter kompositorischen Gesichtspunkten erfolgt oder gar eine Bereinigung der eigenen Vergangenheit vorgenommen wird.
Dimitrovs Tagebuch zeigt freilich auch die charakteristischen Schwächen seiner Gattung: Längere, inhaltlich ergiebige Einträge stehen neben vielen knappen und banalen Notizen; die Sprache ist weitgehend monoton und farblos; eine vertiefende Reflexion des Zeitgeschehens und kritische Gedanken zu den Vorgängen, die sich in Dimitrovs Moskauer Umfeld abspielten, sucht der Leser vergebens. Stalins Mitteilungen, dieser oder jener prominente Funktionär sei als Spion enttarnt und verhaftet worden, bleiben unkommentiert, so dass sich der Verdacht aufdrängt, Dimitrov habe die Verlautbarungen des Diktators unbesehen für bare Münze genommen. Bis zu einem gewissen Grad ist die Enttäuschung einiger Kommentatoren verständlich, die nach der Lektüre des Tagebuchs meinten, Dimitrov entlarve sich in seinen Aufzeichnungen als „ein schweigender Anpasser“ (so Wilhelm von Sternburg), und die Edition seines Tagebuchs müsse als Demontage eines kommunistischen Mythos angesehen werden. Wer so urteilt und das Fehlen von spektakulären Enthüllungen in Dimitrovs Tagebuch beklagt, übersieht jedoch eines: Tagebuchschreiber, die nur in seltenen Fällen vom Streben nach stilistischer Vollendung und erschöpfender Berichterstattung über ihr Leben und ihre Zeit beseelt sind, verfassen ihre Aufzeichnungen (in der Regel) nicht, um das Informationsbedürfnis des nachgeborenen Historikers zu stillen. Sie haben im Moment der Niederschrift nicht die Fragestellungen und Interessenlagen im Blick, mit denen spätere Generationen an die Vergangenheit herantreten. Die Weite - oder die Beschränktheit - des Horizonts, der sich in einem Tagebuch eröffnet, hängt allein vom subjektiven Erleben, Denken und Empfinden des Verfassers ab. Keine Quellengattung ist allein für sich genommen geeignet, alle Fragen zu beantworten, die den Historiker bewegen. Akten, Briefe, Fotos, Reden, Memoiren, Tagebücher etc. bieten jeweils nur ausschnitthafte Einblicke in vergangenes Geschehen, können einander aber ergänzen. Erst die Kombination verschiedenartiger Quellen ermöglicht es, historische Vorgänge in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen und die Akteure als handelnde Subjekte hervortreten zu lassen.
1 Dt. Ausg.: Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933-1943, hg. von Bernhard H. Bayerlein, 2 Bde., Berlin 2000.
2 Ebd., Bd. 1, S. 289 (21.1.1940), S. 316f. (7.11.1940).
3 Ebd., S. 162f. (7.11.1937).
4 Ebd., S. 289f. (21.1.1940).
5 Ebd., S. 165f. (11.11.1937). Siehe dazu Gábor T. Rittersporn, Die sowjetische Welt als Verschwörung, in: Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten - historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 103-124.
6 Ronald Grigor Suny, Beyond Psychohistory. The Young Stalin in Georgia, in: Slavic Review 50 (1991), S. 48-58; Alfred J. Rieber, Stalin, Man of the Borderlands, in: American Historical Review 106 (2001), S. 1651-1691; ders., Stalin as Georgian. The formative years, in: Sarah Davies/James Harris (Hg.), Stalin. A New History, Cambridge 2005, S. 18-44; Robert Service, Stalin. A Biography, London 2004; Simon Sebag Montefiore, Young Stalin, London 2007; Kevin McDermott, Stalin. Revolutionary in an Era of War, Basingstoke 2006, S. 1-16, S. 23ff.
7 Allgemein und einführend zur Gewaltproblematik im Stalinismus: Stefan Plaggenborg, Weltkrieg, Bürgerkrieg, Klassenkrieg. Mentalitätsgeschichtliche Versuche über die Gewalt in Sowjetrußland, in: Historische Anthropologie 3 (1995), S. 493-505; ders., Gewalt und Militanz in Sowjetrußland, 1917-1930, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 409-430; ders., Stalinismus als Gewaltgeschichte, in: ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 71-112; ders., Gewalt im Stalinismus. Skizzen zu einer Tätergeschichte, in: Manfred Hildermeier (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 193-208.
8 Simon Sebag Montefiore, Stalin. The Court of the Red Tsar, London 2003, S. 10f.
9 Peter Holquist, Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905-1921, in: Kritika 4 (2003), S. 627-652; Dietrich Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewährungsprobe. Bolschewistische Lernprozesse aus dem „imperialistischen“ Krieg, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 96-124; McDermott, Stalin (Anm. 6), S. 34ff., S. 61ff.
10 Peter Holquist, State Violence as Technique. The Logic of Violence in Soviet Totalitarianism, in: Amir Weiner (Hg.), Landscaping the Human Garden. Twentieth Century Population Management in a Comparative Perspective, Stanford 2003, S. 19-45; Jörg Baberowski, Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stalinismus, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 59-102.
11 McDermott, Stalin (Anm. 6), S. 95ff., S. 159ff.; Baberowski, Zivilisation der Gewalt (Anm. 10), S. 97ff.
12 Zur Definition von Ego-Dokumenten und Selbstzeugnissen siehe Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, in: ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11-30, und Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471. Einführend zur Quellenart Tagebuch: Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969.
13 Anastas I. Mikojan, Tak bylo. Razmyšlenija o minuvšem [So ist es gewesen. Betrachtungen über die Vergangenheit], Moskau 1999.