Abstract

Stephan Rosiny

Im multikonfessionellen Libanon bilden die Schiiten von jeher eine periphere und diskriminierte Gemeinschaft. Erst durch einen rapiden, aber unstrukturierten Modernisierungsprozess, durch israelische Kriege gegen die PLO auf libanesischem Boden und die Wirren des libanesischen Bürgerkriegs gelangten sie vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft. Die schiitischen Religionsgelehrten Musa as-Sadr, Muhammad Husain Fadlallah und Hasan Nasrallah haben seit den 1960er-Jahren ihre Gemeinschaft durch die Wiederbelebung und Umdeutung des Schicksals des Prophetenenkels und Imams al-Husain nachhaltig geprägt. Seinen Märtyrertod im Jahre 680 n.Chr. in der Schlacht von Karbala erhoben sie zum Vorbild, sich auch in vermeintlich aussichtsloser Situation für „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ einzusetzen. Durch die aktualisierende Rezeption dieses rebellischen Vorbilds konnten sie eine zuvor quietistische Religiosität in Aktivismus verwandeln. Sie haben ihrer Gemeinschaft damit zu einem stärkeren kollektiven Selbstbewusstsein verholfen, ihr Mut gemacht, auch gewaltsam gegen Diskriminierung, Invasionen und Besatzung aufzubegehren, und ihr zugleich die Grenzen des Machbaren in einer hoch fragmentierten Gesellschaft aufgezeigt. Jenseits von Glorifizierung oder Dämonisierung trägt der Aufsatz zur historischen Einordnung der Hizb Allah und ihrer religiösen Autoritäten bei.
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The Shiite Muslim community of Lebanon has for a long time been a peripheral and discriminated community in multiconfessional Lebanese society. Ironically, it was the rapid and anarchic process of modernisation, the Israeli wars against the PLO on Lebanese soil, and the turmoil of the Lebanese civil war which shifted them from the periphery into the centre of the society. Three Shii religious authorities, Musa as-Sadr, Muhammad Husain Fadlallah and Hasan Nasrallah, rapidly changed their community by reviving and reinterpreting the early rebellion of Imam al-Husain. They extolled his martyrdom as a historical model of ‘righteousness’ and ‘freedom’ against a superior enemy, and thus succeeded in turning quietist religiosity into religious activism. They provided the Shia community with a positive self-image, and encouraged them to rebel, even with the use of force, against discrimination, external aggression and the occupation of their country. At the same time, they demonstrated the limits of what it was possible to achieve in a highly fragmented society. This essay analyses the Hizb Allah and its religious authorities in a historical context without glorifying or demonising them.

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