Editorial - 2/2017: Offenes Heft

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Zu diesem Heft

Anmerkungen

Der Herr auf dem Coverfoto strahlt nicht gerade Pioniergeist aus. Seine Haltung hat etwas Gedrücktes, nicht nur in ergonomischer Hinsicht. Mit der Apparatur vor ihm scheint er noch zu fremdeln, ein »Digital Native« ist er nicht. Sein Arbeitsplatz wirkt aufgeräumt, der Aktionsradius freilich eng begrenzt. Das Bild, aufgenommen 1969 in einer Dienststelle der West-Berliner Kriminalpolizei, sollte damals wohl die Modernität der »Verwaltungsautomation« dokumentieren. Die EDV-Anlage der Firma Nixdorf hatte 20 Mio. DM gekostet, der Server befand sich bei OSRAM. Aus heutiger Sicht wirft das Foto diverse Fragen auf: Wann, wie und warum gelangten Computer in die (Polizei-)Behörden? Wie veränderten sie die Arbeitsabläufe, den Personalbestand, das individuelle und institutionelle Selbstverständnis? Wie wandelte sich der »Korpsgeist« gerade der Kriminalpolizei unter dem Einfluss der neuen technischen Infrastruktur und der damit verbundenen neuen Verhaltensnormen? In seinem vergleichenden Aufsatz zur Computereinführung im Bundeskriminalamt und im Ministerium für Staatssicherheit der DDR belegt Rüdiger Bergien, dass diese Transformation seit Mitte der 1960er-Jahre eine ebenso zähe wie spannende Phase war. Sie verlief schubweise und ruckartig, mit manchen unerwarteten Nebeneffekten und internen Querelen. Den kompletten »Überwachungsstaat« brachten die Polizeicomputer zunächst nicht, aber sie hatten vielfältige Wirkungen, die in beiden deutschen Staaten ähnlicher waren, als man es auf den ersten Blick vermuten könnte.

Ein Schwerpunkt dieses »offenen« Hefts liegt auf aktuellen Forschungen zur NS-Zeit. Nachdem Harriet Scharnbergs Aufsatz zur Zusammenarbeit zwischen der Agentur Associated Press und dem NS-Regime in den Jahren bis 1941 (siehe ZF 1/2016) schon breite internationale Aufmerksamkeit gefunden hat, zeigt Norman Domeier anhand neuer Quellenfunde nun, dass diese Kooperation auch nach dem Kriegseintritt der USA weiterging: Auf verschlungenen Wegen über Lissabon und Stockholm gelangten täglich deutsche Bilder in die Vereinigten Staaten und amerikanische Bilder ins Deutsche Reich. Nicht alle Hintergründe dieses Fototransfers können bislang entschlüsselt werden. Der Aufsatz lässt die Leser/innen teilhaben an einer Spurensuche zur Praxis des Auslandsjournalismus im Zweiten Weltkrieg, die sicher noch weitere Erkenntnisse zutage fördern wird.

Auch Jan-Hinnerk Antons schildert eine komplexe Gemengelage in der Spätphase des »Dritten Reiches«: Der Rückzug der Wehrmacht aus Osteuropa war begleitet von einer Fluchtbewegung, bei der Hunderttausende – etwa Menschen aus der Ukraine – Schutz im NS-Staat suchten. Angesichts der nationalsozialistischen Rassenideologie erscheint dies zunächst paradox, und so fragt Antons nach den Beweggründen und Umständen dieser Flucht, die durch eine Mischung von Organisation und Improvisation gekennzeichnet war. Letzteres lässt sich in gewisser Weise auch über eine Untersuchungskommission des Jahres 1945 sagen, die Regina Fritz in ihrem Beitrag für die Rubrik »Quellen« näher betrachtet: Direkt nach Kriegsende wurde in Ungarn versucht, die Gewalttaten der Nationalsozialisten und der Pfeilkreuzler zu dokumentieren – um Aufklärung zu leisten und Gerechtigkeit zu schaffen sowie mit dem Ziel, die ungarische Bevölkerungsmehrheit zu entlasten. Bei heutiger Lektüre der gesammelten Protokolle entsteht indes ein vielschichtiges Bild von Denunziation, Raub, antijüdischer Gewalt und partiell widerständigem Handeln.

Ein zweiter Schwerpunkt des Hefts ist thematisch und zeitlich ganz anders gelagert: Uta G. Poiger, Philipp Dorestal, Christiane Reinecke und Mila Ganeva historisieren Mode, Schönheit und Praktiken der Distinktion. Das Spektrum dieser Texte reicht von den 1950er-Jahren bis zur Gegenwart, von den beiden deutschen Staaten und Frankreich bis zu den USA. Ein Bindeglied ist die Frage nach Geschlechterrollen, körperbezogener »Authentizität« und Inszenierung sowie nach den darin enthaltenen politischen Botschaften.

In einem noch engeren Bezug zur Aktualität stehen der Essay von Charlotte Joppien und der »Neu gelesen«-Beitrag von Michael Hagner. Mit Grundinformationen zur türkischen Parteienlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht Joppien ein fundierteres Verständnis der Herrschaft Erdoğans. Empörung und Protest gegen die willkürliche Inhaftierung von Journalisten, Wissenschaftlern und Beamten (Männer und Frauen gleichermaßen) sind berechtigt, ja notwendig; sie ersetzen aber nicht die nähere Analyse sozioökonomischer Strukturen, politischer Machtfaktoren, kultureller Traditionen und ihrer historischen Ursachen. Zur Zeitgeschichte der Türkei würden wir uns künftig mehr Beiträge wünschen – Vorschläge sind willkommen. Hagner wiederum stellt aus gegebenen aktuellen Anlässen klar, dass legitime Wissenschaftsskepsis und pauschale Wissenschaftskritik voneinander abzugrenzen sind – und dass sich Letztere nicht auf Paul Feyerabend berufen kann. »Postmoderne« taugt nicht als »Pappkamerad«.[1] Andererseits sollten sich die Geisteswissenschaften wohl nicht bloß auf die bequem-unbequeme Position zurückziehen, »mehr Desorientierung« zu liefern.[2]

Zuletzt ein Hinweis in eigener Sache: Nach 14-jähriger Mitarbeit im Beirat der »Zeithistorischen Forschungen« hat Hannes Siegrist dieses Gremium nun verlassen. Redaktion, Herausgeber und Verlag danken ihm sehr für die wichtige Unterstützung. Iris Schröder, seit Gründung unserer Zeitschrift Mitglied der Redaktion, ist in den Beirat gewechselt. Klaus Große Kracht und Peter Carrier, seit 2003 bzw. 2005 beteiligt, haben die Redaktion ebenfalls verlassen. Beide haben für die »Zeithistorischen Forschungen« wesentliche Impulse gesetzt; auch ihnen sei ganz herzlich gedankt. Neue Redaktionsmitglieder werden wir hoffentlich bald auf der Website vorstellen können.

Jan-Holger Kirsch für die Redaktion

Anmerkungen:

[1] Sylvia Sasse/Sandro Zanetti, Postmoderne als Pappkamerad, in: Geschichte der Gegenwart, 11.6.2017.

[2] Jörg Scheller, Mehr Desorientierung: Wozu und worin die Geisteswissenschaften gut sind, in: Merkur-Blog, 19.5.2017. Mit anderer Gewichtung: Pablo Dominguez Andersen, Mischen wir uns ein!, in: WerkstattGeschichte 73 (2017), S. 85-92.

 

In this Issue

Notes

The gentleman on the cover photo is not exactly radiating a pioneering spirit. There is something downtrodden about his posture, not just in terms of ergonomics. He seems a little ill at ease with the gadgetry in front of him; he’s no ›digital native‹. His workstation is uncluttered, if extremely limited in radius of action. The picture was taken in 1969 in an office of the West Berlin criminal police and presumably sought to document the modernity of the ›administration automation‹ of the time. The Nixdorf data processing system cost DM 20 million, the server was located at OSRAM. Looking at it now, the photo raises various questions: When, how and why did the (police) authorities start using computers? How did they affect workflows, staffing, the way individuals and institutions saw themselves? How did the ›esprit de corps‹ of the criminal police in particular change under the influence of the new technical infrastructure and the concomitant new codes of conduct? In his comparative article on the computerization of the West German Federal Criminal Police Office and the Ministry of State Security of the GDR, Rüdiger Bergien shows that this transformation from the mid-1960s onwards was a tough and tortuous, but also exciting phase. It progressed by fits and starts, with a number of unexpected side effects and internal disputes. The police computers did not immediately bring about the complete ›surveillance state‹, but they had a wide range of effects which were more similar in the two German states than one might at first suppose.

One focus of this ›open‹ edition of our journal is current research on the National Socialist era. Harriet Scharnberg's article on the cooperation between the photo agency Associated Press and the National Socialist regime in the years leading up to 1941 (see ZF 1/2016) attracted widespread international attention; Norman Domeier now draws on new sources to demonstrate that this cooperation continued even after the US entered the war. Every day, via circuitous routes through Lisbon and Stockholm, German pictures made their way into the United States and American pictures into the German Reich. Some of the background to this photo transfer has yet to be unravelled. The article involves readers in a search for clues about foreign reporting in World War II, a search which is sure to bring further findings to light as time goes on.

Jan-Hinnerk Antons also depicts a complex constellation in the late phase of the ›Third Reich‹: The retreat of the Wehrmacht from Eastern Europe was accompanied by the migration of hundreds of thousands of refugees from Ukraine and elsewhere seeking protection in Nazi Germany. Given the racial ideology of the Nazis, this seems at first sight paradoxical. Antons investigates the motives and circumstances of a flight that was by turns organized and improvised. The latter can also be said to some extent of an investigative commission set up in 1945, which Regina Fritz examines more closely in her article for the ›Sources‹ section. Immediately after the end of the war, efforts were undertaken in Hungary to document the atrocities of the National Socialists and the Arrow Cross Party – in order to clarify what happened and secure justice, as well as to exonerate the majority of the Hungarian population. Reading the collected records today, a complex picture emerges of denunciation, robbery, anti-Jewish violence and partial resistance.

A second focus of this issue deals with very different subject matter and a very different period of time. Uta G. Poiger, Philipp Dorestal, Christiane Reinecke and Mila Ganeva historicize fashion, beauty and practices of distinction. These texts range from the 1950s to the present day, from the two German states and France to the USA. One common element is the question of gender roles, body-based ›authenticity‹ and representation, and the political messages these imply.

Charlotte Joppien’s essay and the ›Literature Revisited‹ contribution by Michael Hagner have an even greater bearing on the present. With background information about the party political landscape in Turkey after the Second World War, Joppien provides the key for a better understanding of Erdoğan’s rule. Outrage and protest against the arbitrary imprisonment of journalists, scientists and officials (both men and women) are justified, indeed necessary. But they do not replace closer analysis of socio-economic structures, political power aspects, cultural traditions and their historical origins. We would welcome more contributions on contemporary Turkish history in the future – suggestions will be gratefully received. Hagner, meanwhile, makes it plain (in the light of current circumstances) that legitimate scepticism towards science and blanket criticism of it need to be clearly distinguished, and that the latter cannot justify itself by invoking Paul Feyerabend. ›Postmodernism‹ is not a suitable ›dummy target‹.[1] At the same time, the humanities should not merely withdraw to the comfortably uncomfortable position of supplying ›more disorientation‹.[2]

Finally, an editorial announcement: After 14 years on the ›Studies in Contemporary History‹ advisory board, Hannes Siegrist has now left the committee. The editorial team and publishers would like to take this opportunity to thank him for his important support. Iris Schröder, a member of the editorial team since the inception of our journal, has moved to the advisory board. Klaus Große Kracht and Peter Carrier, who have been involved since 2003 and 2005 respectively, have also left the editorial team. Both provided important ideas and inspiration for the ›Studies in Contemporary History‹; our heartfelt thanks go to them also. We hope to be able to introduce new members of the editorial team on our website in the near future.

Jan-Holger Kirsch for the editorial team
(Translated from the German by Joy Titheridge)

Notes:

[1] Sylvia Sasse/Sandro Zanetti, Postmoderne als Pappkamerad, in: Geschichte der Gegenwart, 11 June 2017.

[2] Jörg Scheller, Mehr Desorientierung: Wozu und worin die Geisteswissenschaften gut sind, in: Merkur-Blog, 19 May 2017. With a different emphasis: Pablo Dominguez Andersen, Mischen wir uns ein!, in: WerkstattGeschichte 73 (2017), pp. 85-92.