Zu diesem Heft
Anmerkungen
Das Coverfoto der vorliegenden Ausgabe, eines „offenen“ Hefts ohne übergreifenden Themenschwerpunkt, wirkt auf den ersten Blick unspektakulär: Drei Männer, ausgerüstet mit Kameras und vielleicht einem Fernglas, blicken in eine hügelige Landschaft. Doch wie der Wachturm in der Bildmitte signalisiert, auf den die drei Personen und mit ihnen wir heutigen Betrachter schauen, ist dies nicht irgendeine Landschaft, sondern ein kleiner Ort an der damaligen deutsch-deutschen Grenze (nämlich Lindewerra im thüringischen Eichsfeld). Das Foto verweist auf die ambivalente Alltäglichkeit der deutschen Teilung; zugleich wirft es die Frage auf, mit welchen Motiven westliche „Grenztouristen“ solche Orte vor 1989/90 besuchten. Diesem Thema geht Astrid M. Eckert nach, indem sie die touristische Infrastruktur entlang der deutsch-deutschen Grenze und die Interessen der verschiedenen Akteure genauer beschreibt.
Andere Facetten des Kalten Kriegs beleuchtet Claudia Weber, die den Umgang mit dem Massaker von Katyn analysiert. Im Jahr 1940 hatte der NKWD dort Tausende polnischer Kriegsgefangener erschossen – ein Gewaltakt, der seither immer wieder ein geschichtspolitisches Streitthema im polnisch-sowjetischen bzw. polnisch-russischen Verhältnis gewesen ist, weil die UdSSR das Verbrechen bis 1990 stets den Deutschen zuschrieb. Besondere internationale Aufmerksamkeit fand Katyn zuletzt im April 2010, als der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Mitreisenden ausgerechnet auf dem Flug zur ersten gemeinsamen polnisch-russischen Gedenkzeremonie bei Smolensk tödlich verunglückten. Die Autorin nimmt dies als Ausgangspunkt, um die Ereignisse von Katyn und ihre Folgen breiter zu kontextualisieren: in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Kriegs und der postsozialistischen Ära sowie in der sowjetrussischen, der polnischen und der deutschen Geschichte. Zudem rückt sie das Verhalten der Westmächte bei der Aufklärung oder eher Nicht-Aufklärung von Katyn in den Blick.
Der dritte Aufsatz dieses Hefts ist der Geschichte von Familienwerten, Geschlechterbeziehungen und Geschlechterdiskursen in den USA gewidmet. Isabel Heinemann untersucht für die Zeit von 1890 bis 1970, wie in Debatten um Frauenwahlrecht, Ehescheidung, Häuslichkeit, Frauenarbeit und Reproduktion zugleich allgemeinere normative Vorstellungen über die Ordnung der Gesellschaft verhandelt wurden. Populäre Ratgeber und Frauenzeitschriften erweisen sich dabei als ergiebige Quellen. Die Begründungen, warum Frauen und Mütter berufstätig sein sollten, wirken aus heutiger Sicht ebenso zeitgebunden und fragwürdig wie die gegenteiligen Positionen. Die historische Langzeitperspektive macht die zähe Kontinuität bestimmter biologistischer Deutungen kenntlich – sowie die gerade im amerikanischen Fall auffällige Vermeidung anders gelagerter Fragen nach sozialer Ungleichheit und Bildungschancen von Frauen.
In der Rubrik „Debatte“ finden sich zwei aktuelle Beiträge, die aus unterschiedlichen Richtungen das Interpretament der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ beleuchten – ein Konzept, das bekanntlich in der NS-Zeit selbst fundamental war, neuerdings aber auch in kritisch-analytischer Absicht zur Beschreibung und Erklärung der damaligen Herrschaftsmechanismen eingesetzt wird. Die Berliner Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“, die um den Jahreswechsel 2010/11 im Deutschen Historischen Museum zu sehen war, trug den Begriff „Volksgemeinschaft“ schon im Titel. Hans-Ulrich Thamer, der die Ausstellung maßgeblich konzipiert hat, erläutert inhaltliche und gestalterische Überlegungen und geht zudem auf die Rezeption der Ausstellung ein.1 Michael Wildt gehörte dem wissenschaftlichen Beirat der Ausstellung an und war Mitautor des Katalogs; vor allem aber hat er in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass der Begriff „Volksgemeinschaft“ auf neue Weise forschungsleitend geworden ist. Im vorliegenden Heft formuliert er eine Replik auf Ian Kershaw, der kürzlich eine eher kritische Zwischenbilanz dieser Forschungen gezogen hat.2
Ebenso aktuell ist Anne Kwaschiks Beitrag über die Streitschrift „Empört Euch!“ des ehemaligen Résistance-Kämpfers und französischen Diplomaten Stéphane Hessel. Ende 2010 avancierte das Büchlein zunächst in Frankreich und wenig später auch in vielen weiteren Ländern zum Bestseller. Die Autorin geht dieser breiten Resonanz nach und erläutert insbesondere die Kontexte in Frankreich, wo Hessels Ruf nach Empörung nicht zuletzt darauf abzielte, den geschichtspolitischen Strategien von Präsident Sarkozy entgegenzutreten. Kwaschiks Beitrag ist zugleich der Auftakt für die neue Rubrik „Essay“, die künftig in loser Folge historisch fundierte Kommentare zum Zeitgeschehen bieten wird.
Auf andere Weise aktuell – und für diese Zeitschrift von programmatischer Bedeutung – sind Fragen und Probleme, die mit der Überlieferung visueller und audiovisueller Quellen zusammenhängen. Christoph Classen, Thomas Großmann und Leif Kramp erläutern die Beweggründe und Ziele der im Herbst 2009 gestarteten interdisziplinären Initiative „Audiovisuelles Erbe“, bei der sich das Zentrum für Zeithistorische Forschung gemeinsam mit anderen Institutionen und Verbänden darum bemüht, die Erhaltung, Erschließung und wissenschaftliche Nutzbarkeit audiovisuellen Materials zu verbessern. Dies wird eine langfristige und durchaus mühsame Aufgabe sein, die für ein zeitgemäßes, nicht auf Schriftquellen beschränktes Verständnis von Zeitgeschichtsforschung aber essenziell ist. Erfreulicherweise findet diese Position zumindest innerhalb der Wissenschaft eine wachsende Zustimmung. Das gilt im Hinblick auf die Radio- und Fernsehgeschichte, aber auch für die Fotogeschichte. So baut die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen ihre fotografische Sammlung gezielt weiter aus. Beispielhaft dafür ist der visuelle Nachlass des tschechischen Fotografen Ivan Kyncl, den Heidrun Hamersky im vorliegenden Heft mit einigen charakteristischen Aufnahmen aus den 1970er-Jahren präsentiert.
Fragt man nach zentralen Ereignissen der 1970er-Jahre und überschreitet dabei den europäischen Raum, so sind für Asien etwa die genozidalen Verbrechen der Roten Khmer in Kambodscha zu nennen. Volker Grabowsky stellt einen 2009 produzierten, auf DVD verfügbaren Film vor, der die Geschichte und Gegenwart Kambodschas nicht nur zum Thema hat, sondern durch seinen partizipatorischen Ansatz auch wesentlich von kambodschanischen Dorfbewohnern verschiedener Generationen getragen und gestaltet wird.
Die drei Beiträge der Rubrik „Neu gelesen“ schließlich führen wieder in die Bundesrepublik zurück – genauer gesagt, in die Geistes-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte der 1950er-Jahre. Während Andreas Wirsching den für die westdeutsche Zeitgeschichte als Disziplin grundlegenden Aufsatz von Hans Rothfels kritisch würdigt, erinnert Thomas Pegelow Kaplan an das wenige Jahre später entstandene, hauptsächlich von Dolf Sternberger initiierte „Wörterbuch des Unmenschen“. Eine Ergänzung dazu bietet Christian Schneiders Relektüre von Theodor W. Adornos vielfach missverstandenem Aufsatz „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ aus dem Jahr 1959. Da dieser Text auf einem Vortrag basierte und das gesprochene Wort für Adorno generell eine eigene Dignität besaß, findet sich als Begleitmaterial auf der Website dieser Zeitschrift ein Auszug des Vortrags als Tondokument. Dies weist zugleich auf unser nächstes Heft voraus, dessen Leitthema „Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert“ lautet – und in dem Adornos Radiovorträgen ein allgemeinerer Beitrag gewidmet sein wird.
Zuletzt ein Hinweis in eigener Sache: Zum Jahresende 2010 hat Adelheid von Saldern ihre Tätigkeit in unserem Beirat beendet. Sie hat diese Zeitschrift seit 2003/04 mit Engagement und kritischer Sympathie begleitet. Herausgeber, Redaktion und Verlag danken ihr ganz herzlich für die stets anregende, kompetente und verlässliche Mitarbeit, die für den Aufbau und das Profil der „Zeithistorischen Forschungen“ mehr bedeutet hat, als sich an dieser Stelle sagen lässt.
Die Redaktion
1 Dieser Text knüpft indirekt auch an seinen früheren Beitrag an: Hans-Ulrich Thamer, Sonderfall Zeitgeschichte? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in historischen Ausstellungen und Museen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 167-176.
2 Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 1-17.
The cover photo of the present issue, an ‘open’ edition with no overarching theme, may at first glance seem unspectacular. Three men, equipped with cameras and maybe a pair of binoculars, gaze off into a hilly landscape. Yet the watchtower in the middle – which all three men are staring at and we, the present-day viewers, observe as well – signalizes that this is not just any old landscape, but a small town on the former East-West German border (to be more precise, Lindewerra, in the Eichsfeld region of Thuringia). The photo is indicative of the ambivalent normalcy of divided Germany. At the same time it begs the question of what motivated West German ‘border tourists’ to visit places like this before the fall of the Wall and German reunification. Astrid M. Eckert pursues this topic by investigating the tourist infrastructure along the inner-German border, shedding light on the interests of varied protagonists.
Claudia Weber illuminates other aspects of the Cold War, analyzing how the legacy of the Katyn massacre has been dealt with over the years. In 1940, the NKVD shot to death thousands of Polish prisoners of war – an act of violence that has been a recurrent historio-political bone of contention in Polish-Soviet and Polish-Russian relations ever since, the U.S.S.R. having consistently blamed the Germans for it up until 1990. Katyn again entered the international spotlight in April of 2010, when, curiously enough, the airplane carrying Polish President Lech Kaczynski and his entourage to the first joint Polish-Russian commemorative ceremony near Smolensk fatally crashed. Using this as her point of departure, the author puts the events of Katyn and their aftermath into a broader context, linking them to the history of World War II, the Cold War and the postcolonialist era, as well as to Soviet Russian, Polish and German history. Moreover, she takes a look at the Western powers’ attempts or, rather, non-attempts to shed light on the crime.
The third essay in this issue is devoted to the history of family values, gender relations and gender discourses in the U.S.A. Taking the period from 1890 to 1970 as her frame of reference, Isabel Heinemann examines how the debates around female suffrage, divorce, domesticity, women’s labor and reproduction included more general discussions and normative ideas about order and society. Popular self-helps books and women’s magazines proved to be quite insightful resources. Seen from today’s standpoint, their arguments for why women and mothers should be gainfully employed seem just as dated and questionable as the opposite point of view. A long-term historical perspective reveals the stubborn continuity of certain biologistic explanations – along with the conspicuous absence, in the American case, of other issues such as social inequality and educational opportunities for women.
Our ‘Debate’ column contains two new articles illuminating from different perspectives the National-Socialist Volksgemeinschaft – a fundamental concept in Nazi Germany, but one also used more recently in a critical-analytical way to describe and explain the mechanisms of rule in that era. The Berlin exhibition ‘Hitler and the Germans. Nation and Crime’ at the Deutsches Historisches Museum, running from October 2010 to February 2011, even used the word Volksgemeinschaft in the exhibition’s German title. Hans-Ulrich Thamer, one of the key figures behind the exhibit, explains some of the considerations involved, especially in terms of content and design, and talks about how the exhibit was received.1 Michael Wildt was part of its advisory committee and co-author of the catalog; more importantly, however, he has helped in recent years to revive the term Volksgemeinschaft in a constructive, scholarly context. In this issue he offers a reply to Ian Kershaw, who recently penned a rather critical assessment of the research conducted to date.2
Just as topical is Anne Kwaschik’s article about the pamphlet of former French resistance fighter and diplomat Stéphane Hessel entitled Time for Outrage! In late 2010 the booklet became a bestseller, first in France, then in many other countries. The author looks at the pamphlet’s wide echo and discusses, in particular, its context in France, where Hessel’s call for outrage not least of all aims to counter the historio-political strategies of President Sarkozy. Kwaschik’s essay also inaugurates our new section called ‘Essay’, which in future will offer a loose series of historically-based commentaries on current events.
Timely in a different sense – and of programmatic import for this journal – are questions and issues regarding the transmission of visual and audiovisual sources. Christoph Classen, Thomas Großmann and Leif Kramp explain the aims and motivations behind an interdisciplinary initiative started in the fall of 2009 called ‘Audiovisual Heritage’, in which the Center for Contemporary History in Potsdam (ZZF), together with other institutions and associations, is endeavoring to improve the preservation, accessibility and scholarly usefulness of audiovisual materials. This will be a long and formidable task, but an essential one for a proper understanding of contemporary history beyond the written sources. Fortunately, the position is gaining ground, at least in the academic and scholarly community. This goes for radio and television history, as well as for photographic history. The Research Center for East European Studies at the University of Bremen, for instance, is targeting the expansion of its photographic collection. A prime example is the visual legacy of Czech photographer Ivan Kyncl, presented in this issue by Heidrun Hamersky with a characteristic selection of his photos from the 1970s.
Beyond the sphere of Europe, we take a look at Asia, where a key event of the 1970s was the genocidal crimes of the Khmer Rouge in Cambodia. Volker Grabowsky presents a 2009 film, now available on DVD, about Cambodia past and present. The film, thanks to its participatory approach, has been largely supported and co-created by Cambodian villagers of various generations.
Finally, the three essays in our ‘Rediscovered Classics’ column take us back to the Federal Republic – to be more precise, to the 1950s, through the history of ideas and science. Whereas Andreas Wirsching pays tribute to the seminal essay by Hans Rothfels that was instrumental in establishing contemporary West German history as a discipline, Thomas Pegelow Kaplan reflects on the Wörterbuch des Unmenschen (Dictionary of Brutes) published shortly thereafter and authored chiefly by Dolf Sternberger. Added to this is Christian Schneider’s rereading of Theodor W. Adorno’s often misunderstood essay from 1959 ‘What Does Coming to Terms with the Past Mean’. Adorno’s text was based on a lecture, and since Adorno himself considered the spoken word to have a dignity of its own, we have included an excerpt of the original lecture on the magazine’s website as a bonus audio clip. This likewise points the way to our next issue with its theme of ‘Politics and Culture of Sound in the Twentieth Century’ – in which one of the articles will discuss Adorno’s radio lectures in more general terms.
Lastly, a little news of our own. Adelheid von Saldern has retired from her post on our advisory board. From 2003 until the end of 2010, she helped conduct the affairs of our journal with dedication and critical sympathy. The editors and publisher warmly thank her for her ever-inspiring, competent and reliable assistance, more valuable to the magazine’s founding and profile than can possibly be expressed here.
The Editors
(translation: David Burnett)
1 This article indirectly picks up an earlier one: Hans-Ulrich Thamer, Sonderfall Zeitgeschichte? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in historischen Ausstellungen und Museen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), pp. 167-176.
2 Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), pp. 1-17.