3/2009: Populäre Geschichtsschreibung

  • Zeitgeschichte und populäre Geschichtsschreibung

    Einführende Überlegungen

Aufsätze | Articles

Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
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How do media modify the objects of historiography, that is, the present and recent past? How is historiography itself changed by media? What exactly do we mean, from a historical perspective, when we talk about ‘media society’, which is so widely discussed in public and in research? This essay begins by distinguishing between different processes of ‘mediatisation’, explores structural shifts arising in the course of these processes, and draws particular attention to the changes undergone by different public spaces. The author urges us to recognise the ambivalence inherent in these developments rather than hastily claiming that they represent a paradigm shift. He also outlines what he means by the mediatisation of the writing of contemporary history. Thus the article attempts to break new ground and define new goals which do justice to the age of audiovisuality.

Jürgen Thorwalds „Die große Flucht“, erstmals 1949/50 in zwei Bänden erschienen und zuletzt 2005 wieder aufgelegt, ist eines der verbreitetsten Werke über das Ende des Zweiten Weltkriegs im Osten sowie Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung. In den 1950er-Jahren gehörte Konrad Adenauer zu den Lesern, und bis heute argumentiert Erika Steinbach mit Elementen aus Thorwalds Darstellung. Sehr früh hatte Thorwald (Pseudonym für Heinz Bongartz) exklusiven Zugriff auf eine Fülle von Dokumenten und Zeitzeugenberichten. Sein Erfolg lässt sich jedoch eher mit der besonderen Darstellungsweise erklären, die sich zugleich sachlich und emotional gibt. Historiographischer Anspruch und literarische Verdichtung sind in dem Werk eng verbunden. Ästhetisch knüpfte Thorwald an den Kriegsbericht an, zu dem er als Autor journalistischer Artikel und Bücher über Luftwaffe und Marine vor 1945 selbst beigetragen hatte. Gleichzeitig bilden Thorwalds Bücher spezifische diskursive Formationen der Nachkriegszeit ab.
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Jürgen Thorwald’s ‘The Great Flight’ (Die große Flucht), which appeared for the first time in two volumes in 1949/50 and was recently republished in 2005, is one of the most widely available works about the end of the Second World War in the east and about the flight and expulsion of the German population. Konrad Adenauer was among its readers during the 1950s, and to this day Erika Steinbach draws on elements of Thorwald’s work in her arguments. At a very early date, Thorwald (the pseudonym of Heinz Bongartz) had exclusive access to a whole range of documents and eyewitness accounts. However, his success can more readily be ascribed to the particular manner in which he presents his material, which is both factual and emotional at the same time. Historiographical qualities and a concise literary style go hand in hand in his work. In aesthetic terms, Thorwald drew on the genre of the war report, to which he contributed as an author of journalistic articles and books about the German air force and navy before 1945. At the same time, Thorwald’s books represent specific discursive formations characteristic of the postwar years.

Der Artikel widmet sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive der „televisiven Historiographie“ und speziell dem Format „Virtual History“, welches der Sender „Discovery Channel“ entwickelt hat. Dieses Sendeformat versucht mittels aufwändiger digitaler Techniken, Bildmaterial von historischen Ereignissen neu zu produzieren, das dennoch einer historischen „Realität“ entsprechen soll und als „authentisch“ deklariert wird. Ausgehend von der Annahme, dass das Fernsehen generell weniger dem Authentischen als dem Falschen und der Verfälschung verpflichtet ist, fragt der Artikel nach der „Indexikalität“ virtueller digitaler Fernsehbilder. Im Anschluss an Maurice Halbwachs’ Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis wird die These entwickelt, dass der klassische Film mit der Konstitutionslogik der Geschichte korrespondiert, während das Fernsehen ein paradoxes Gedächtnismedium ist: Indem es überall dabei (gewesen) sein will, unterläuft es die operative Gedächtnisfunktion, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden.
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This article adopts a media studies approach in its analysis of ‘television historiography’, in particular of the ‘virtual history’ format developed by ‘Discovery Channel’. This format attempts to produce, with the help of elaborate digital technologies, new visual materials depicting historical events – materials which should nonetheless be in keeping with historical ‘reality’ and be seen to be ‘authentic’. Beginning with the assumption that television is generally a source less of authenticity than of falsehood and distortion, the article enquires into the ‘indexicality’ of virtual digital television images. Drawing on Maurice Halbwachs’ distinction between history and memory, the author argues that classic film is commensurate with the structural logic of history, whereas television is a paradoxical medium of memory. For, insofar as television wants to be and to have been present at the action, it undermines the strategic function of memory, which is to distinguish between remembering and forgetting.

In Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens „vier Typen des historischen Erzählens“ (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) wird ein fünfter Idealtypus zu begründen versucht, der sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der Emergenz digitaler Medien ergibt. Das „situative Erzählen“ als neuer Modus der historischen Sinnbildung antwortet zum einen auf Formen der Identitätskonstruktion innerhalb einer „flüchtigen Moderne“, deren Kennzeichen die Absage an „große Erzählungen“ und die Auflösung stabiler Identitäten sind. Zum anderen wird diese Erzähl- und Sinnbildungspraxis durch hypertextuelle Kulturtechniken codiert, ausgestaltet und prämiert. Der Beitrag nennt einige historiographische Ansätze des „situativen Erzählens“ und fragt nach den Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.
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In his theory of historical culture in 1982, Jörn Rüsen developed four ideal types of historical ‘meaning formation’ (Sinnbildung). This article extends Rüsen’s approach with an additional type, which takes into account current cultural and societal changes as well as the emergence of digital media. On the basis of theoretical considerations of media and following a sketch of Rüsen’s typology, the article maps the parameters of a new, so-called ‘situative narrative’. This new type of historical ‘meaning formation’ correlates with and responds to forms of identity construction in ‘liquid modernity’, a period characterised by fluid identities and the rejection of master narratives. At the same time, web 2.0 as narrative praxis is coded and formed by hypertextual cultural techniques. The article concludes with remarks on historiographical approaches to this model of ‘situative narrative’ and points out possible consequences for the study of history.

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