3/2017: Mobilität und Umwelt

Aufsätze | Articles

Spanien hat sich seit den 1950er-Jahren zu einem der wichtigsten Urlaubsziele in Europa entwickelt. Für die Regionen, in die Touristen aus der ganzen Welt reisten und noch heute reisen, bedeutete dies eine fundamentale Neugestaltung von sozialen Strukturen und Lebensgewohnheiten sowie auch von Landschaft und Umwelt. Der Aufsatz beleuchtet das Verhältnis zwischen Umwelt und Tourismus anhand der Beispiele Mallorca und Costa Brava – ausgehend von den Wahrnehmungen und Handlungen spanischer Akteure, die seit den frühen 1970er-Jahren mit dem Tourismus zusammenhängende Probleme diagnostizierten. Im Zentrum der Analyse stehen zunächst Politiker, die aus ökonomischen Gründen die Bedeutung von Umweltfragen für die langfristige Sicherung des Tourismus erkannten, sowie dann Naturschutzgruppen und Bürgerinitiativen, die sich gegen den weiteren Ausbau des Massentourismus engagierten. Die umweltpolitische Argumentation dieser Gruppen verband sich mit regionalen Identitätsentwürfen und Autonomieansprüchen; sie führte zu Teilerfolgen wie der Ausweisung von Schutzgebieten. Der Beitrag stützt sich auf Quellen aus spanischen Lokal- und Regionalarchiven, auf Material der Umweltinitiativen sowie auf Pressedebatten über den Tourismus.

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Holidays and their Impact on the Environment. Criticism of the ›Prosperity Through Tourism‹ Paradigm in Spain during the 1970s

Spain started to become one of Europe’s major tourist destinations in the 1950s. For regions that attracted and continue to attract tourists from all over the world, this meant a fundamental rearrangement of social structures and lifestyle habits as well as of the landscape and the environment. The article illuminates the relationship between environment and tourism with particular reference to Majorca and the Costa Brava. Drawing on the perceptions and actions of the Spanish locals, the article analyses their criticism of the negative influence of tourism on the environment since the beginning of the 1970s. First, the focus is on politicians who recognised the importance of environmental matters for economic reasons and in order to secure earnings from tourism in the long term. Second, the article takes a closer look at local environmental movements and citizens’ groups that protested against further touristic exploitation. Their environmental arguments were mixed up with regional identity concepts and claims to autonomy. The protests led to partial success when protected areas were established. The research is based upon files from Spanish local and regional archives, sources from the environmental movements and discussions about tourism in the press.

This article examines the rise of aeromobile sprawl, which is defined here as aviation’s socio-environmental impact on people, places, and things, in Canada during the 1970s. It links aeromobile sprawl largely to state-led airport development and the effect that upgrading, expanding, and building new airports had on communities and landscapes. Accordingly, it shows that while aeromobile sprawl was to some extent an outcome of postwar developments not limited to aviation, the Canadian government and its partners also contributed to sprawl by endorsing various policies and strategies that shifted over the period in question. At the same time, these actions did not go unnoticed. Public critiques of aeromobile sprawl emerged as people increasingly objected to larger and busier airports operating near populated and non-industrial areas. This article demonstrates that debates in Canada about airport development and the rapid growth of aviation revealed sharply diverging views about how to best accommodate the mobility requirements of mass air travel within the country’s natural and built environments in the 1970s.

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Die Ausdehnung der Aeromobilität. Der Massenflugverkehr und seine sozial-ökologischen Effekte im Kanada der 1970er-Jahre

Dieser Aufsatz untersucht für Kanada in den 1970er-Jahren die gesteigerte Ausdehnung der Aeromobilität, verstanden als Gesamtheit der sozialen und ökologischen Wirkungen der Luftfahrt für Menschen, Orte und Dinge. Die Expansion des Flugverkehrs war vornehmlich ein Resultat des staatlich geförderten Aus- und Neubaus von Flughäfen – mit gravierenden Effekten für Gesellschaften und Landschaften im jeweiligen Einzugsgebiet. Zwar hing der Anstieg des Flugverkehrs auch mit generellen Trends der Nachkriegszeit zusammen, doch verstärkten die kanadische Regierung und ihre Partner dies noch durch verschiedene Strategien, die sich im Untersuchungszeitraum änderten. Zugleich blieb diese Politik nicht unbeobachtet und nicht unumstritten. Öffentliche Kritik richtete sich vor allem gegen Großflughäfen in der Nähe dicht besiedelter Gebiete. So zeigt der Aufsatz, dass in Kanada stark gegensätzliche Sichtweisen zu der Frage vertreten wurden, wie man die Anforderungen des Massenflugverkehrs mit den natürlichen und gebauten Umwelten intelligent verbinden könne.

Since the 1950s, cycling policy in China has gone through three phases: from active encouragement (1955–1994) and systematic discouragement (1994–2008) to neglect and ambivalence (since the 2010s). Parallel to the expansion of automobility, the country has been unique in its development of innovations in electric-powered two-wheelers and a vibrant e-cycling practice since the 1980s. Electric bikes have given over 300 million low-status commuters and peddlers access to jobs and housing, even though planners have dismissed them as a problematic ›floating population‹ and remnants of the past. Given China’s current urban sustainable mobility challenges and ambition to become the world’s first ›Ecological Civilization‹ (2013), China’s bicycle industry, e-vehicle manufacturers, and the e-commerce sector may offer an alternative to the US-based ›car civilization‹ if ecological (e-cycles) and social (low-status workers) sustainability are brought into one analytical frame.

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Relikt der Vergangenheit oder Versprechen für die Zukunft? Radfahren in China und die Herausforderung der Nachhaltigkeit, 1955 bis heute

Seit den 1950er-Jahren hat die chinesische Fahrrad-Politik drei Phasen durchlaufen: von aktiver Förderung (1955–1994) über systematische Behinderung (1994–2008) bis zu Vernachlässigung und Ambivalenz (ab etwa 2010). Parallel zur Expansion der Autoindustrie und des Autoverkehrs seit den 1980er-Jahren hat die besondere Entwicklung Chinas – die dynamische Innovation bei Fahrrädern und Motorrollern mit Elektroantrieb – für über 300 Millionen Pendler aus unteren Schichten und Kleinhändler einen besseren Zugang zu Arbeits- und Wohnmöglichkeiten geschaffen. Zwar haben Stadt- und Verkehrsplaner solche sozialen Gruppen oft als problematische Überbleibsel der Vergangenheit gesehen. Doch in Anbetracht der Herausforderungen für nachhaltige urbane Mobilitätskonzepte, vor denen China steht, und dem 2013 formulierten Anspruch des Landes, die weltweit erste »ökologische Zivilisation« zu werden, bieten die Fahrradindustrie und die Elektromobilität möglicherweise eine Alternative zur »Autozivilisation« des US-amerikanischen Typs. Ökologische und soziale Gesichtspunkte müssen dabei in einem gemeinsamen analytischen Rahmen betrachtet werden.

Research on the commons, and its historical enclosure, has largely restricted itself to rural areas and the frontier. This article examines the declining access to Rio de Janeiro’s urban commons, its streets and its squares. Into the nineteenth century, residents perceived Rio’s streets as remnants of nature, left intact to give access to the built environment. The streets served as a diverse human habitat, a place for community, play, work, and commerce. With the arrival of the automobile, Rio’s public spaces began to be transformed into spaces set aside largely for movement. The automotive class, which in Brazil remained a tiny minority, captured most of the streets’ spaces for driving and its squares and sidewalks for parking, in a sense closing the street off to many of its former functions. In fact, automotive movement justified – and its violence enforced – the elimination of street behaviors which the elite had been decrying unsuccessfully for decades. Compared to the developed world, the pace of automobilization in Rio was slow, but it had a profound impact from as early as the second decade of the century.

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Automobile Einhegung. Das »natürliche« Erscheinungsbild der Straßen Rio de Janeiros und die Elitenherrschaft über die Urban Commons, 1900–1960

Forschungsarbeiten zur Allmende haben sich hauptsächlich mit ländlichen Gegenden und Grenzregionen beschäftigt. Dieser Beitrag untersucht, wie in Rio de Janeiro der Zugang zu den Urban Commons, besonders Straßen und Plätzen, eingeschränkt wurde. Bis ins 19. Jahrhundert sahen die Einwohner Rios die Straßen als einen Überrest der Natur an, der intakt gelassen wurde, um den Zugang zu bebauten Quartieren zu ermöglichen. Straßen galten als Allgemeingut, das für eine Vielzahl menschlicher Aktivitäten genutzt werden konnte: vom sozialen Austausch über Spiele bis hin zu Arbeit und Handel. Als sich das Auto in Rio verbreitete, änderte sich die Bedeutung des öffentlichen Raumes. Schnelle Fortbewegung entwickelte sich nun zum prägenden Kriterium. Die kleine Klasse der Autobesitzer übernahm die Kontrolle über einen Großteil des städtischen Raumes, um auf den Straßen zu fahren oder auf den Plätzen und Gehwegen zu parken. Die Autobesitzer hegten die Straßen mit ihren spezifischen Nutzungsformen ein und schotteten sie so gegenüber den vormals dominierenden Verwendungszwecken ab. Mehr noch: Die Dominanz der Automobilität diente als Rechtfertigung, um alternative, von den Eliten zuvor lange erfolglos bekämpfte Formen der Straßennutzung mit Gewalt zu verdrängen. Im Vergleich zu weiter entwickelten Weltregionen verbreitete sich die Automobilität in Brasilien nur langsam, aber ihre Effekte waren schon seit den 1920er-Jahren enorm.

Essays

  • Peter Itzen

    Aus Verkehrsunfällen lernen?

    Der Tod auf deutschen Straßen und die vergangenen Träume des 20. Jahrhunderts

  • Christoph Bernhardt

    Längst beerdigt und doch quicklebendig

    Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«

Quellen | Sources

  • Christopher Neumaier

    Vom Gefühl zum Kalkül?

    Autowerbung in Westdeutschland und den USA während der 1970er-Jahre

  • Anke Ortlepp

    Jenseits von Zeit und Raum

    Flugreisewerbung in den USA und Westdeutschland während der 1970er-Jahre

Besprechungen | Reviews

Neu gesehen

  • Massimo Moraglio

    Time, Speed and Western Movies

    Revisiting Koyaanisqatsi (1982)

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