Materielle Kultur – und dann?

Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu einem aktuellen Trend in der Zeitgeschichtsforschung

  1. Dinge als Quellen in den Geschichts- und Kulturwissenschaften
  2. Das Materielle in der historischen Forschung
  3. Materielle Kultur und Zeitgeschichtsforschung: Perspektiven
  4. Fazit

Anmerkungen

Nachdem das Interesse an Dingen und damit an Materieller Kultur[1] im Forschungsalltag mancher Disziplinen lange Zeit eher gering war, erlebt die Auseinandersetzung mit Dingen seit etlichen Jahren auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft eine Renaissance. Das gilt nicht nur für Fächer, die sich schon seit jeher mit Materieller Kultur beschäftigen – etwa die archäologischen Wissenschaften, die Ethnologie und die Volkskunde/Europäische Ethnologie –, sondern zunehmend auch für solche Wissenschaften, deren genuiner Forschungsgegenstand keine materiellen Hinterlassenschaften sind, wie die Geschichtswissenschaft, die Philosophie, die Germanistik und verschiedene sozialwissenschaftliche Fächer.[2] Zu denjenigen Fächern, die die Dinge für sich entdeckt haben, gehört seit wenigen Jahren auch die Zeitgeschichtsforschung. Auf den ersten Blick mag das zunehmende Interesse verwundern, verfügt die Zeitgeschichte doch über andere Quellenarten (Schriftdokumente, audiovisuelle Quellen, mündliche Zeugnisse), die deutlich mehr Aussagekraft als gegenständliche Objekte zu haben scheinen. Den Dingen wird von der Zeitgeschichtsforschung heute offenbar ein Erkenntniswert zugemessen – befördert unter anderem auch durch die Studien Bruno Latours und seine Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) –, der ihnen zuvor abgesprochen bzw. nicht zuerkannt worden war.

Diese Hinwendung von Fächern wie der Zeitgeschichte zur Materiellen Kultur und damit zu den vielfältigen Aspekten der Mensch-Ding-Beziehung ist eine positive Entwicklung. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist dennoch zu fragen, ob die Zeitgeschichtsforschung das Feld in methodologischer und theoretischer Hinsicht noch einmal aufrollen muss – im Sinne des Zugangs zum Material wie auch der theoretischen Fundierung des Forschungsansatzes, gerade wenn es um Fragen der Mensch-Ding-Beziehung geht. Ist das, was und wie es derzeit in der Neueren und Neuesten Geschichte bis hin zur Zeitgeschichte erforscht wird, wirklich so innovativ? Welchen Erkenntniswert besitzen Dinge und ihre Materialität, ihr Gebrauch und das Reden über sie vor dem Hintergrund einer Vielzahl anderer zur Verfügung stehender Quellen? Kann die Analyse von Mensch-Ding-Beziehungen ohne Dinge betrieben werden, also ohne zentrale Aspekte ihrer Materialität und ihres Quellenwerts zu verhandeln? Wo ist das Neue der Zeitgeschichtsforschung, wenn es um Fragen der Mensch-Ding-Beziehung geht, wo reicht sie über Erkenntnisse etwa der Europäischen Ethnologie/Volkskunde und Soziologie hinaus?

1. Dinge als Quellen
in den Geschichts- und Kulturwissenschaften

Bevor im Folgenden auf den Wert materieller Hinterlassenschaften in der bzw. für die Zeitgeschichtsforschung näher eingegangen wird, erscheint ein knapper Überblick zum Quellenbegriff in den historisch-archäologischen Wissenschaften im Allgemeinen sowie zum empirischen Quellenzugang in den Geschichts- und Kulturwissenschaften im Speziellen angebracht. In der wissenschaftlichen Umgangssprache wird bisweilen etwas vereinfacht von »historischen Quellen« und »archäologischen Quellen« gesprochen und damit eine Trennung in zwei unterschiedliche Quellengattungen aufgemacht – »schriftlich« versus »nicht-schriftlich«. Dieser Sprachgebrauch ist insofern problematisch, als zum einen unter die Bezeichnung »historische Quelle« nach Johann Gustav Droysen bekanntlich alle möglichen Quellenarten fallen, sowohl schriftliche (und mündliche) Zeugnisse als auch (audio)visuelle und materielle Hinterlassenschaften. Zum anderen sind archäologische Quellen nicht per se »nicht-schriftlich«; vielmehr versteht man darunter die Gesamtheit aller Zeugnisse archäologischer Fächer und damit auch solche Sachgüter, die Schriftträger sind.[3] Dessen ungeachtet bildet die Beschäftigung mit dem Materiellen eine conditio sine qua non aller archäologischen Fächer, gewinnen diese ihre Quellen doch in der Regel durch Ausgrabungen.[4] Die Archäologie, so könnte man sagen, ist nach ihrer Forschungstradition auf die materiellen Überreste der Vergangenheit bezogen.

Diese Forschungstradition steht in einem Gegensatz zur Geschichtswissenschaft im engeren Sinne,[5] zur Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft/Volkskunde und zur Ethnologie. Materielle Zeugnisse stellen in diesen Fächern lediglich eine Quellengruppe unter mehreren dar, weshalb sie im Erkenntnisprozess vielfach eine ergänzende Funktion einnehmen.[6] Auch in methodischer Hinsicht unterscheidet sich der Umgang mit der Quellengattung »Ding«: Während Fächer wie die Europäische Ethnologie/Empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde und die Ethnologie einen direkten empirischen Zugang zum Forschungsgegenstand besitzen (z.B. über teilnehmende Beobachtung), der eine soziale Einbettung des Materiellen und seine über den Objektcharakter hinausführende Deutung ermöglicht, ist den Archäologien dieser Zugang zu den materiellen Hinterlassenschaften verschlossen. Sie können die Gesellschaften, die sie untersuchen, eben nicht mehr beobachten[7] – die Bedeutung der meisten Objekte kann somit nicht über den direkten Zugang zu den Dingen erschlossen werden. Aus diesen Gründen erscheint es mehr als fraglich, ob die Bedeutung der Dinge tatsächlich »aus ihrer materiellen Umgebung, aus ihrer räumlichen Anordnung und aus dem Handlungs- und Wahrnehmungszusammenhang ihrer Verwendung« abgeleitet werden kann, wie der Prähistoriker Tobias L. Kienlin optimistisch postuliert hat.[8] Die Erfassung der einstigen Lebenswirklichkeit ist mit den der Archäologie zur Verfügung stehenden Methoden nur äußerst begrenzt möglich (z.B. über analogisches Deuten); Aussagen über religiöse, soziale und politische Vorstellungen sind kaum zu treffen.

Hinzu kommt der polyseme Charakter von Dingen – diese Mehrdeutigkeit erschwert ihre Interpretation. Der Ethnologe Hans Peter Hahn hat prägnant beschrieben, worin die Deutungsproblematik der Dinge liegt, vor allem wenn – wie in der Prähistorischen Archäologie – keine Schriftzeugnisse zur Verfügung stehen: »In der Tat gibt es bedeutungsvolle Objekte, aber es gibt auch Objekte ohne spezifische Bedeutung. Es gibt Kontexte des Alltags, in denen eine mögliche Bedeutung unwichtig ist und nicht als handlungsleitendes Kriterium herangezogen wird. Es ist ein grundlegender Fehler, jedes Handeln und jeden Umgang mit Dingen unter die Logik der Objektbedeutung zu stellen. Ein solches Interpretationsmonopol ginge am Verständnis der alltäglichen Praxis vorbei. [...] Neben bedeutungsvollen Objekten gibt es stets auch solche, die – wenigstens im Bezug auf die Gruppe – keine besondere Bedeutung haben.«[9] Dinge sind Zeichen, Semiophoren[10] – ihre Bedeutung zu dechiffrieren ist allerdings äußerst schwierig. Das betrifft in ganz besonderem Maße Relikte aus der Vergangenheit, zu denen wir keine parallele schriftliche Überlieferung besitzen. Es mutet daher bisweilen kurios an, wenn Wissenschaftler aus anderen Fächern die Archäologie als Leitwissenschaft für die Analyse und Deutung Materieller Kultur betrachten.

2. Das Materielle in der historischen Forschung

Das Interesse der Geschichtswissenschaft an Dingen ist ein recht junges Phänomen.[11] Erste Ansätze einer Einbeziehung der Materiellen Kultur finden sich zwar seit den 1980er-Jahren vor allem in der aufkommenden Alltagsgeschichte und der Neuen Kulturgeschichte;[12] beide Forschungsrichtungen haben die Beschäftigung der in erster Linie auf Schriftquellen zurückgreifenden historischen Wissenschaften mit den Dingen zweifellos befördert. Doch bis heute besitzt die Materielle Kultur als Quellengattung, so hat Andreas Ludwig in den letzten Jahren mantrahaft, aber zu Recht festgestellt, in der Geschichtswissenschaft immer noch einen nachrangigen Charakter. Empirische Studien, die Dinge in eine historische Analyse einbezögen, bilden eher die Ausnahmen – abgesehen von Forschungsfeldern wie der Technik-, Design-, Wirtschafts-/Konsum- und Wissenschaftsgeschichte, in denen Dinge immer schon präsenter waren als in anderen Subdisziplinen.[13]

Möchte man die derzeitige Hinwendung zur Materiellen Kultur in der Geschichtswissenschaft »epochal« verankern, so zeigt sich, dass neben der Zeitgeschichts- besonders die Frühneuzeitforschung eine Vorreiterrolle einnimmt.[14] Beide treiben nicht nur die Diskussion voran, sondern stellen auch die zentrale Frage nach der spezifischen Qualität von Dingen als Quellen für die klassisch auf Schriftquellen fußende historische Forschung[15] – es geht also um den epistemischen Wert der Materiellen Kultur in historischen Analysen. Und in der Tat: Worin liegt der »Mehrwert« etwa für die Zeitgeschichtsforschung, die sich vor schriftlichen und audiovisuellen Quellen kaum retten kann, wenn sie sich (zusätzlich) der Dinge annimmt? Diese Frage ist bis heute weder befriedigend noch abschließend beantwortet worden. Es heißt, Dinge öffneten den Blick für Details und somit für mikrogeschichtliche Studien;[16] sie besäßen eine individuelle Dimension, indem sie auf den Nutzer verwiesen;[17] sie böten trotz ihrer Polysemie einen »informativen Mehrwert«;[18] und sie erlaubten es, die »Historizität von Gesellschaft jenseits sprachlicher Äußerungen zu fassen«.[19] Aus diesen Gründen sei es notwendig, Objektanalysen durchzuführen, wie man sie aus der Archäologie kenne.[20] Schließlich gebe es »keine ›eigene‹ historische Methode der Geschichte der materiellen Kultur, wohl aber eine zusätzliche Erkenntnisoption durch die Objekte, bei der archäologische, material- und museumskundliche oder kunsthistorische Methoden zur Anwendung kommen können«.[21]

Man wird diesen Antworten zustimmen können – nur: Sie sind erstens aus kulturwissenschaftlicher Sicht nicht neu, sondern folgen dem gegenwärtigen Materialitätsdiskurs, dessen wesentliche Fragen sich auf die Ebene der kulturellen und sozialen Integration von Dingen aller Art beziehen sowie auf die Wirkkraft, die Dinge in diesem Kontext entfalten.[22] Zweitens werden die Skeptiker unter den Historikern, die in der Einbeziehung von Dingen in den Forschungsprozess keinen Erkenntniszuwachs ausmachen können, mit den genannten Antworten kaum zufriedenzustellen sein. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Reine Objektgeschichten – Untersuchungen also, die vom Objekt ausgehen und seine »Geschichte« und Eigenart beschreiben (z.B. Stoff, Gestalt, Alter, Abnutzung), aber auch seine Verwendung, Wahrnehmung und Bedeutung in den verschiedenen Phasen des Daseins – sind in Einzelfällen sicher wichtig und erkenntnisfördernd, weil sie verschiedene Gebrauchsweisen und Bedeutungsebenen sichtbar machen können. Dennoch bleibt offen, was eine detaillierte Objektbeschreibung beispielsweise des »Senftenberger Sitzeis«[23] – eines in der DDR produzierten Möbelstücks – an »zusätzlicher Erkenntnisoption« hinsichtlich dieses Gartenmöbels oder gar der (Alltags-)Geschichte der DDR zu leisten imstande ist und welcher Art der »informative Mehrwert« sein mag. Zahlreiche Schriftzeugnisse und Interviews mit Zeitzeugen liefern uns deutlich mehr Erkenntnisse zu diesem Objekttyp und seiner Bedeutung, als wir sie mit einem materialkundlichen und kontextuellen Zugang, wie er der Archäologie zur Verfügung steht, je entnehmen könnten. Dies gilt besonders, wenn der Kontext eines solchen Möbelstücks – nicht mehr im Garten der Besitzerin oder des Besitzers liegend, sondern jetzt im Museum ausgestellt – verlorengegangen ist.

»Senftenberger Sitzei« (1971–1974)
(Haus der Geschichte Wittenberg,
museum digital, CC BY-NC-SA 4.0)
»Beistellmöbel« auf der Leipziger Messe 1973 –
rechts im Bild das »Senftenberger Sitzei«. Der als Gartenmöbel gedachte Kunststoff-Sessel, entworfen vom in der Bundesrepublik lebenden ungarischen Designer Peter Ghyczy, wurde in der DDR für ein westdeutsches Unternehmen hergestellt; auf den ostdeutschen Markt gelangten nur rund 1.000 überzählige oder fehlerhafte Exemplare.
(Bundesarchiv, Bild 183-M0312-0105, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild, Foto: Waltraud Raphael [verehel. Grubitzsch]; Informationen nach Haus der Geschichte Wittenberg, museum digital)

Es soll keineswegs einer Hierarchisierung oder Konkurrenz der Quellen das Wort geredet werden – das wäre fatal und könnte im schlechtesten Fall zu einer »Tyrannei der Schriftquellen« führen, worauf die Mittelalterarchäologin Barbara Scholkmann im Zusammenhang mit der fehlenden Verknüpfung von materieller und schriftlicher Überlieferung des Mittelalters hinwies.[24] Wichtig ist – und das ist letztlich eine banale Feststellung –, alle Quellen gleichberechtigt in die historische Analyse einzubeziehen und den jeweils eigenen Quellencharakter in der wechselseitigen Interpretation zu berücksichtigen.

3. Materielle Kultur und Zeitgeschichtsforschung:
Perspektiven

Momentan sehe ich verschiedene Optionen, wie sich die Zeitgeschichtsforschung über reine Objektgeschichten hinaus an der kulturwissenschaftlichen Diskussion zu Aspekten der Materiellen Kultur beteiligen kann und zugleich von ihr in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu profitieren vermag. Ein erster Punkt wäre das Hervorrufen von Irritationen durch die Einbeziehung von Dingen in die historische Analyse; dadurch könnten andere und neue Perspektiven generiert werden. Zu denken ist aber auch an die Frage, welchen dinglichen Quellen man zukünftig vermehrt Aufmerksamkeit zuteil werden lassen sollte und welchen Erkenntnisgewinn sie ermöglichen.

Ein wichtiges Forschungsfeld stellt sicher die Auseinandersetzung mit Museumsdingen dar, bzw. die Präsentation von Materieller Kultur der Zeitgeschichte in Museen und Ausstellungen.[25] Schon 2007 hat der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann gefordert, zeithistorische Ausstellungen »vom Objekt her« zu denken[26] und damit das Potential, das Dinge gerade als Vermittlungsobjekte besitzen, stärker auszuschöpfen. In den letzten Jahren hat es zu diesem weiten Themenfeld einschlägige Beiträge aus zeithistorischer Feder gegeben, wobei der Fokus – bedingt durch den Zusammenbruch der DDR – vor allem auf der ostdeutschen Dingkultur lag;[27] er wäre künftig auf alle anderen Forschungsgebiete der Zeitgeschichte auszudehnen. Gerade hier ist eine fachübergreifende Zusammenarbeit mit der Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft/Europäischen Ethnologie vielversprechend. Die Europäische Ethnologie hat einen weiten Kulturbegriff und beschäftigt sich – vereinfacht gesagt – mit alltagskulturellen Phänomenen sowohl in gegenwartsbezogener und allgemeiner historischer als auch in sozial- wie kulturhistorischer Perspektive. Im Zentrum volkskundlicher Dingforschung stehen heute aber weniger das Material, die Form und die Funktion der Objekte, sondern die Handlungen der Akteure mit Bezug auf die zu untersuchenden Objekte – also die Wechselbeziehungen von Mensch und Ding – und damit immer auch die Frage nach den kulturellen und symbolischen Bedeutungen der Dinge. Die Empirische Kulturwissenschaft hält daher nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch interessante Zugänge für die Zeitgeschichtsforschung bereit. Zwischen den beiden Fächern dürfte ein intensiverer Kontakt als bisher lohnend sein. Darauf hat auch Monika Dommann verwiesen, die etwa die erfolgreichen Austauschbeziehungen zwischen Volkskunde und Sozialgeschichte in der Schweiz hervorhebt.[28]

Für die noch kaum vorhandene Zusammenarbeit von Zeitgeschichtsforschung und Archäologie gilt ähnliches. Seit einigen Jahren gibt es eine rege Diskussion innerhalb der Prähistorischen und Mittelalterlichen Archäologie um die zeitliche Ausdehnung ihres Arbeitsgebiets. Eine »Archäologie der Neuzeit«, »Archäologie der Moderne«, »Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts« bzw. – mit negativem Unterton – eine »Archäologie der Nazi-Zeit« beginnt sich mehr und mehr zu etablieren.[29] Stellungnahmen von Zeithistorikern zu dieser Diskussion, bei der es auch um erkenntnistheoretische Fragen und um den Stellenwert der Sachkultur der Zeitgeschichte geht, sucht man allerdings vergeblich;[30] dabei gehören die Kaiserzeit und damit die Zeit des Ersten Weltkriegs sowie die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Zeitgeschichtsforschung zu zentralen Forschungsfeldern. Die Verwirklichung gemeinsamer Vorhaben auf diesem Gebiet vermag die Zeitgeschichte nicht nur an die Materielle Kultur und den kulturwissenschaftlichen Materialitätsdiskurs heranzuführen, sondern auch mit den praktischen Herausforderungen der Überlieferungsbedingungen, der Kontextualisierung und Deutung von Dingen zu konfrontieren. Es fehlt noch immer eine Methodologie, in der schriftliche sowie nicht-schrifttragende materielle, bildliche und mündliche Quellen systematisch miteinander kombiniert werden.[31] Daran gemeinsam zu arbeiten wäre eine lohnende Aufgabe.

4. Fazit

Die Hinwendung der Zeitgeschichte zum Materiellen geht mit einem allgemeinen Trend der letzten Jahre einher, der Dinge wieder mehr ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt hat. Die Zeitgeschichte beschäftigt sich neben sozial-, wirtschafts- und politikhistorischen Fragen unter anderem auch mit der Alltagsgeschichte; das sollte die Zusammenarbeit mit Fächern wie der Empirischen Kulturwissenschaft und der Archäologie erleichtern, die sich beide ebenfalls mit alltagskulturellen Fragen auseinandersetzen. Leider wird bisher nur selten aufeinander Bezug genommen. In dieser Situation wäre es sicher verfehlt, zur Fortführung der Moltke’schen Maxime »Getrennt marschieren, vereint schlagen« aufzurufen. Vielmehr erscheint es an der Zeit, die jeweils beschränkte disziplinäre Perspektive auf die Materielle Kultur zugunsten einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu erweitern. Wie bei jeder Form interdisziplinärer Arbeit könnte auch auf diesem Gebiet im Idealfall eine produktive Reibung einsetzen, die zunächst anstrengend sein mag, aber letztlich neue Fragen und neue Antworten hervorbringt.

Anmerkungen:

[1] Im Folgenden werden die Begriffe »Dinge«, »Materielle Kultur« etc. synonym verwendet; zu diesen und anderen Termini siehe Hans Peter Hahn/Manfred K.H. Eggert/Stefanie Samida, Einleitung: Materielle Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, S. 1-12.

[2] Selbstverständlich beschäftigen sich die genannten Fächer auf die eine oder andere Art und Weise mit gegenständlichen Objekten, aber die Materialität der Zeugnisse und die Bedeutung des Objekts an sich spielt in der Regel keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Für Historiker steht zunächst einmal der Text z.B. in amtlichen Dokumenten oder auf Monumenten im Vordergrund und weniger die Materialität des Tagebuchs oder des Monuments. Als ein Beispiel für die Hinwendung zur Materialität und zur Materiellen Kultur verweise ich auf den Heidelberger Sonderforschungsbereich 993 »Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften«: <http://www.materiale-textkulturen.de>.

[3] Manfred K.H. Eggert, Über archäologische Quellen, in: Stefan Burmeister/Nils Müller-Scheeßel (Hg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, Münster 2011, S. 23-44, hier S. 23f.

[4] Unter dem Oberbegriff »Archäologie« werden gewöhnlich verschiedene archäologische Einzelfächer mit ganz unterschiedlichem regionalen oder zeitlichen Forschungsschwerpunkt zusammengefasst. So ist etwa zwischen Prähistorischer, Klassischer und Mittelalterlicher Archäologie zu unterscheiden – um nur drei archäologische Fächer anzuführen. Was alle Archäologien eint – neben ihrem Selbstverständnis als Historische Kulturwissenschaften –, sind ihre Quellen: materielle Hinterlassenschaften. Zu den verschiedenen Einzelarchäologien siehe Manfred K.H. Eggert, Archäologie. Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft, Basel 2006.

[5] Die Archäologien sind hier auszunehmen, wenngleich sie zu den historischen Wissenschaften im weiteren Sinne zählen.

[6] Ausführlicher dazu Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert, Das Materielle in den Kultur- und Sozialwissenschaften: Metatheoretische Reflexionen, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 143 (2013), S. 329-349.

[7] Das gilt in gewisser Hinsicht auch für die Zeitgeschichte – ihr stehen allerdings deutlich mehr Quellen zur Verfügung. Während sich beispielsweise die Urgeschichtsforschung ausschließlich auf materielle Zeugnisse stützen kann, greift die Zeitgeschichte auf Schriftdokumente, audiovisuelle Quellen und solche der Oral History zurück – das ist nicht nur in quantitativer, sondern zweifellos auch in qualitativer Hinsicht ein erheblicher Unterschied.

[8] Tobias L. Kienlin, Die Dinge als Zeichen: Zur Einführung in das Thema, in: ders. (Hg.), Die Dinge als Zeichen. Kulturelles Wissen und materielle Kultur, Bonn 2005, S. 1-20, hier S. 8.

[9] Hans Peter Hahn, Stil und Lebensstil als Konzeptualisierungen der Bedeutungen materieller Kultur, in: Kienlin, Dinge als Zeichen (Anm. 8), S. 41-52, hier S. 47.

[10] Dazu Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 2001; Stefanie Samida, Semiophoren, in: Samida/Eggert/Hahn, Handbuch Materielle Kultur (Anm. 1), S. 249-252.

[11] Selbstverständlich gab es schon immer historische Fächer (z.B. Alte Geschichte, Frühe Neuzeit) und Forschungsrichtungen (z.B. Annales-Schule), die sich durchaus produktiv der Dinge angenommen haben – das soll hier nicht in Abrede gestellt werden; die gegenwärtige Auseinandersetzung scheint mir aber anders geartet zu sein und mit mehr Verve geführt zu werden. Für das derzeit wachsende Interesse seien pars pro toto die verschiedenen, vornehmlich wirtschafts- und sozialhistorische Fragen ins Zentrum rückenden Workshops des Arbeitskreises Geschichte + Theorie angeführt: <http://www.geschichteundtheorie.de>.

[12] Beispielsweise Wolfgang Ruppert (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a.M. 1993; Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt a.M. 2005, hier S. 101ff.

[13] Siehe Andreas Ludwig, Materielle Kultur, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.5.2011; ders., Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 604-613; ders., Geschichtswissenschaft, in: Samida/Eggert/Hahn, Handbuch Materielle Kultur (Anm. 1), S. 287-292.

[14] Für die Frühe Neuzeit siehe zuletzt Kim Siebenhüner, Things that matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), S. 373-409; für die Zeitgeschichte siehe vor allem die verschiedenen Beiträge von Andreas Ludwig, von denen einige hier zitiert sind. Vgl. auch den Beitrag von Katja Böhme und Andreas Ludwig in diesem Heft.

[15] Ludwig, Geschichtswissenschaft (Anm. 13), S. 290; ähnlich Siebenhüner, Things (Anm. 14), S. 386f.

[16] Ludwig, Geschichtswissenschaft (Anm. 13), S. 291.

[17] Andreas Ludwig, Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle, in: Historische Anthropologie 23 (2015), S. 431-445, hier S. 440f.

[18] Siebenhüner, Things (Anm. 14), S. 395.

[19] Ludwig, Geschichte ohne Dinge? (Anm. 17), S. 445.

[20] Ebd., S. 444.

[21] Siebenhüner, Things (Anm. 14), S. 396.

[22] Hier sind unter anderem die Arbeiten des britischen Kulturanthropologen Daniel Miller zu nennen, die den Materialitätsdiskurs seit den 1980er-Jahren prägen; für den deutschsprachigen Raum waren vor allem die Bücher zum Fetischismuskonzept von Hartmut Böhme und Karl-Heinz Kohl zentral; siehe hierzu auch Manfred K.H. Eggert/Stefanie Samida, Menschen und Dinge. Anmerkungen zum Materialitätsdiskurs, in: Herbert Kalthoff/Torsten Cress/Tobias Röhl (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016, S. 123-140.

[23] Mehr zum »Gartenei« bei Andreas Ludwig (Konzeption), Alltag: DDR. Geschichte/Fotos/Objekte, 2. Aufl. Berlin 2014, S. 285ff.

[24] Barbara Scholkmann, Die Tyrannei der Schriftquellen? Überlegungen zum Verhältnis materieller und schriftlicher Überlieferung in der Mittelalterarchäologie, in: Marlis Heinz/Manfred K.H. Eggert/Ulrich Veit (Hg.), Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen archäologischer Interpretation, Münster 2003, S. 239-257.

[25] In diesen Kontext gehört auch die zunehmende Beschäftigung mit den historischen Akteuren selbst und deren Sammlungen, die uns heute z.T. unverhofft in die Hände fallen – wie Opas Kiste auf dem Dachboden. Hier stellen sich im erinnerungskulturellen Kontext etwa folgende Fragen: Was sammeln wir, und warum? Was erscheint uns sammlungs- und damit erinnerungswürdig? Was zeigen wir, was nicht? Welche Bedeutung hatten diese Dinge für den einstigen Besitzer, welche Bedeutung haben sie heute?

[26] Detlef Hoffmann, Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt her, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 200-210.

[27] Abgesehen von Ausstellungskatalogen z.B. Ludwig, Musealisierung (Anm. 13); Irmgard Zündorf, Vitrine oder Wühltisch? Zur Objektkultur der DDR-Geschichte im Museum, in: Martin Sabrow (Hg.), ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2008, Göttingen 2009, S. 211-219; dies., Dingliche Ostalgie? Materielle Zeugnisse der DDR und ihre Präsentation, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Schwierige Orte. Regionale Erinnerung, Gedenkstätten, Museen, Halle (Saale) 2013, S. 77-95.

[28] Monika Dommann, Die Lust an Überresten und Überlieferungsmedien. Materielle Kulturen und Historiografien der Schweiz seit 1850, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 19 (2012) H. 1, S. 261-276, hier S. 269.

[29] Reinhard Bernbeck/Susan Pollock, »Archäologie der Nazi-Zeit«. Diskussionen und Themen, in: Historische Archäologie 2/2013, S. 1-15; Natascha Mehler, Die Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Akzeptanz und Relevanz, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 28 (2015), S. 23-28; Rainer Schreg, Archäologie der frühen Neuzeit. Der Beitrag der Archäologie angesichts zunehmender Schriftquellen, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 18 (2007), S. 9-20; Claudia Theune, Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2014; dies., Bedeutung und Perspektiven einer Archäologie der Moderne, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 28 (2015), S. 11-22.

[30] Dass Museen und Gedenkstätten in diesem Feld aktiv sind, ist unbestritten; es geht hier vielmehr um die akademische Beschäftigung.

[31] Ähnlich schon Schreg, Archäologie der frühen Neuzeit (Anm. 29), S. 13. – Christiane Wienand (Heidelberg) und Manfred K.H. Eggert (Tübingen) danke ich sehr für ihre Anregungen.

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