»Heuristics and Biases« als Quelle und Vorstellung

Verhaltensökonomische Forschung in der Zeitgeschichte

  1. »Heuristics and Biases«
  2. Quelle und Vorstellung

Anmerkungen

In seiner Geschichte der jüngsten Vergangenheit Amerikas, die 2011 unter dem Titel »Age of Fracture« erschien, begreift der Historiker Daniel T. Rodgers die wirtschaftlichen Veränderungen, die sich seit den 1970er-Jahren vollzogen, in ideengeschichtlicher Perspektive als »Wiederentdeckung des Marktes«. Paradoxerweise sei die Idee und Rhetorik des Marktes, als eines abstrakten und dekontextualisierten Prinzips, das auf eine Vielzahl menschlicher Lebensbereiche angewendet werden könne, gerade zu dem Zeitpunkt populär geworden, als allenthalben Marktversagen zu beobachten gewesen sei.[1] Die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte, die sich im Bereich der akademischen Wirtschaftswissenschaften vollzogen habe, fasst Rodgers als »an effort to turn away from macroeconomics’ aggregate categories and try to rethink economics altogether from microeconomic principles outward«.[2] Mit der Erklärung makroökonomischer Phänomene auf der Basis mikroökonomischen Verhaltens sei zugleich versucht worden, immer weitere Gesellschaftsbereiche über die Prinzipien individueller Nutzenmaximierung zu erklären.

Genau in Rodgers’ »Age of Fracture« fällt auch der von ihm nur am Rande angesprochene Aufstieg der Verhaltensökonomie als einer wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplin, die insofern die Grenzen der Nutzenmaximierung auslotet, als sie sich empirisch mit menschlichen Entscheidungen beschäftigt, die systematisch von diesem Prinzip abweichen. Nachdem schon in den 1950er-Jahren in den USA, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland, die Adäquatheit der Figur des Homo oeconomicus für die wirtschaftswissenschaftliche Analyse in Frage gestellt worden war, setzte der eigentliche Boom der Verhaltensökonomie – nach einigen vorbereitenden Arbeiten in den 1970er-Jahren – erst in den 1980er-Jahren ein.[3] Von zentraler Bedeutung hierfür waren die Arbeiten der israelisch-amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman (geb. 1934) und Amos Tversky (1937–1996), die 1974 sehr grundsätzliche Überlegungen zur systematischen Fallibilität menschlicher Urteilskraft in der renommierten Zeitschrift »Science« veröffentlichten.[4] Dieser Aufsatz mit dem Titel »Judgment under Uncertainty. Heuristics and Biases« war exzeptionell erfolgreich: Zu Beginn des Jahres 2015 verzeichnet die Aufsatzdatenbank JSTOR 3.296 Texte, in denen die Worte »Kahneman«, »Tversky«, »Heuristics« und »Biases« vorkommen, und der Social Sciences Citation Index weist 7.915 Zitationen nach, die vor allem ab 2003 noch einmal stark anstiegen und seit 2011 in jedem Jahr weit über 500 lagen.

Während die Bedeutung von Kahnemans und Tverskys »Heuristics and Biases« für ein Themenheft zur »Vermarktlichung« auf der Hand liegt – schließlich hängt sowohl die Funktionsfähigkeit wie auch die Legitimität des Marktes als Ordnungsprinzip davon ab, dass die an ihm Teilnehmenden dies auf kompetente Weise tun können –, ist die Diskussion eines wissenschaftlichen Aufsatzes in der Rubrik »Quellen« erklärungsbedürftig. Denn gängige Einführungen zur Interpretation historischer Quellen verzeichnen zwar eine Vielzahl verschiedener Quellenarten von Briefen über Gerichtsakten, Überwachungsberichte, Meinungsumfragen, Tagebücher, Romane, Autobiographien, Zeitungen, Reden, Zeugenaussagen bis zu Fotografien und Filmen, gehen aber meist nicht gesondert auf wissenschaftliche Aufsätze ein.[5] Dies mag zunächst einmal daran liegen, dass wissenschaftliche Texte aufgrund ihrer unterschiedlichen disziplinären Hintergründe zu heterogen sind, als dass allgemeine Ratschläge für ihre Interpretation gegeben werden könnten, die immer auch davon abhängt, sich mit den jeweiligen Grundlagen der Fächer zu beschäftigen. Jenseits ihrer Vielfalt bergen wissenschaftliche Texte aber, zumindest wenn sie im weiteren Sinne sozialwissenschaftlicher Provenienz sind, doch eine gemeinsame Schwierigkeit, nämlich dass sie als zeitgenössische Literatur unsere Perspektive auf die untersuchte Zeit stark prägen und, wenn sie der jüngeren Zeitgeschichte entstammen, die in ihnen geäußerten Vorstellungen unseren eigenen oft gar nicht so unähnlich sind.[6] Diese Problematik versuche ich im Folgenden anhand des Aufsatzes »Heuristics and Biases« zu verdeutlichen, um so zugleich einige grundsätzliche Erwägungen zu Bedeutung und Quellenwert des seit den 1970er-Jahren rasant zunehmenden verhaltensökonomischen Schrifttums für die Zeitgeschichte zu entwickeln.

1. »Heuristics and Biases«

Der Aufsatz in »Science« weist Kahneman und Tversky als Psychologen der Hebrew University in Jerusalem aus. Beide hatten ebendort studiert und ihre Dissertationen in den USA geschrieben: Kahneman an der University of California in Berkeley und Tversky an der University of Michigan, die in den 1950er-Jahren ein Forschungszentrum der mathematischen Psychologie und Entscheidungstheorie war.[7] 1968/69 trafen sie sich nach ihrer Rückkehr an die Hebrew University und begannen, gemeinsam an Fragen der Wahrscheinlichkeitsabschätzung zu arbeiten, woraus mehrere kleinere Aufsätze in psychologischen Fachzeitschriften hervorgingen – und dann nach einem gemeinsamen Forschungsaufenthalt am Oregon Research Institute in Eugene der grundsätzlichere, ihre bisherigen Forschungen zusammenfassende Aufsatz »Judgment under Uncertainty«.[8] Nach Kahnemans autobiographischer Erinnerung anlässlich der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2002 war ihre Zusammenarbeit in den 1970er-Jahren derart symbiotisch, dass man bei ihren Texten tatsächlich von einer gemeinsamen Autorschaft ausgehen muss und die jeweilige intellektuelle Urheberschaft einzelner Gedanken kaum festzustellen ist.[9] Nichtsdestoweniger lassen sich verschiedene Einflüsse feststellen, die zum einen aus den Diskussionen der mathematisierten Entscheidungstheorie stammen, mit der Kahneman erst durch Tversky in Kontakt kam, und zum anderen aus der Arbeit über kognitive Fehlleistungen, für die sich Kahneman vor dem Zusammentreffen mit Tversky interessiert hatte.[10]

Worum ging es Kahneman und Tversky in »Judgment under Uncertainty«? Gleich zu Beginn fassten die Autoren ihre Kernidee in nuce zusammen: »This article shows that people rely on a limited number of heuristic principles which reduce the complex tasks of assessing probabilities and predicting values to simpler judgmental operations. In general, these heuristics are quite useful, but sometimes they lead to severe and systematic errors.«[11] »Science« als multidisziplinäres Organ der American Association for the Advancement of Science war also insofern gut gewählt, als Kahneman und Tversky hier zwar als Psychologen auftraten, aber keine These im Rahmen einer bestimmten Fachdiskussion mehr formulierten, sondern eine grundsätzliche Aussage über das Verhalten von Menschen machten, die für viele Bereiche relevant sein sollte. Denn die Wahrscheinlichkeitskalkulationen, um die es ihnen ging, betrafen sowohl alltagspraktische als auch wissenschaftliche Verhaltensweisen und beeinflussten nicht zuletzt das Marktverhalten von Individuen. Kahneman und Tversky wollten zeigen, dass Menschen bei diesen Kalkulationen auf Techniken der Komplexitätsreduktion zurückgriffen, die zwar hilfreich sein konnten, zugleich aber selbst systematische Fehler nahelegten, die nicht auf Nachlässigkeit oder Beeinflussung zurückzuführen seien. Auf der Basis eigener und fremder empirischer Studien und ohne Anspruch auf Vollständigkeit machten sie in diesem Zusammenhang drei grundsätzliche Heuristiken aus: Repräsentativität (»representativeness«), Verfügbarkeit (»availability«) und die Anpassung von einem Ankerpunkt aus (»adjustment and anchoring«).

Kahneman und Tversky sprachen in ihrem Aufsatz von Menschen (»people«) und deren Wahrscheinlichkeitsabschätzungen, sagten aber sehr wenig darüber, wer die konkreten Menschen waren, deren Untersuchung sie zu ihrem Urteil geführt hatte. Grundsätzlich arbeiteten sie zu diesem Zeitpunkt mit einzelnen Entscheidungsfragen, die sie einer überschaubaren Gruppe von nicht mehr als 100 Personen vorlegten, zumeist ihren Studenten oder Kollegen, um deren Wahrscheinlichkeitsintuition zu testen. Die Pointe der Fragen bestand darin, dass sie darauf angelegt waren, starke Intuitionen sichtbar zu machen, die den elementaren Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechen bzw. dazu führen, dass diese Regeln in konkreten Entscheidungsoperationen nicht berücksichtigt werden. Damit schlossen sie an eine längere Tradition der Verhaltensforschung an, die darauf abzielte, Aufmerksamkeit durch einprägsame, weil kontraintuitive, Beispiele zu erreichen. Der Bias der Repräsentativität bezeichnet die Tendenz, die Wahrscheinlichkeit, ob ein Objekt zu einer bestimmten Klasse gehört, danach zu beurteilen, wie ähnlich es der eigenen Vorstellung von dieser Klasse ist. Dies demonstrierten Kahneman und Tversky anhand von Personenbeschreibungen und Berufsbezeichnungen: »Steve is very shy and withdrawn, invariably helpful, but with little interest in people, or in the world of reality. A meek and tidy soul, he has a need for order and structure, and a passion for detail.«[12] Angesichts dieser Beschreibung tendierten die Probanden dazu, Steve eher für einen Bibliothekar als für einen Landwirt zu halten, ohne zu reflektieren, dass letztere in der Population viel häufiger seien als erstere. Unter Verweis auf ihre früheren Arbeiten argumentierten Kahneman und Tversky, dass Menschen nicht nur dazu neigten, diese zugrundliegenden Wahrscheinlichkeiten zu vernachlässigen, sondern auch die Größe des Samples nicht ausreichend reflektierten. Schon bei kleinen Samples glaubten sie, die Wahrscheinlichkeitsverteilung müsse gleichmäßig oder »gerecht« sein. Dieser »Glaube an das Gesetz der kleinen Zahl« bringe auch den Roulette-Spieler dazu, Schwarz für wahrscheinlicher zu halten, nachdem die Kugel mehrmals auf Rot liegen geblieben sei.[13]

Als Bias der »availability« bezeichneten Kahneman und Tversky das Phänomen, dass die Kenntnis eines konkreten Ereignisses wie zum Beispiel eines Autodiebstahls oder eines Einbruchs die Einschätzung beeinflusst, wie wahrscheinlich das Eintreten von Ereignissen eines solchen Typs ist. Gerade dieser Bias, den Kahneman und Tversky empirisch unter anderem an der Vergegenwärtigung von Worten mit Buchstaben an erster und einer beliebigen anderen Stelle demonstrierten, ist essenziell für die Abschätzung von Lebensrisiken und daraus resultierende Marktentscheidungen wie zum Beispiel den Kauf von Alarmanlagen oder den Abschluss von Versicherungsverträgen. Auch die Relevanz des dritten Bias, des »Anchoring«, für Marktverhalten liegt auf der Hand. Kahnemans und Tverskys Untersuchungen zeigten hier, dass der Startpunkt einer Berechnung deren Endprodukt beeinflusst; ein Effekt, den man sich leicht daran verdeutlichen kann, dass die Abschätzung einer Summe als groß oder klein davon abhängt, ob man zuvor mit größeren oder kleineren Summen zu tun hatte.

Neben der Beschreibung dieser systematischen Verzerrungen der Wahrscheinlichkeitskalkulation, wie zum Beispiel auch der regelmäßigen Unterschätzung der Komplexität und des Zeitaufwands anstehender Aufgaben (»planning fallacy«), faszinierte Kahneman und Tversky vor allem, dass einige Fehler relativ immun gegen Korrekturen zu sein schienen. Zwar sahen sie eine Ursache für den Bias der Repräsentativität in der lebenslangen Erfahrung, dass Elemente großer Gruppen leichter vergegenwärtigt werden können als Elemente kleiner Gruppen, dass wahrscheinliche Ereignisse einfacher vorstellbar sind als unwahrscheinliche und dass assoziative Verbindungen vor allem dann zwischen Ereignissen bestehen, wenn diese auch tatsächlich zusammenhängen. Für einige ihrer Beispiele schien es ihnen auch kaum alltagspraktische Situationen zu geben, in denen man die Unangemessenheit der eigenen Intuition vor Augen geführt bekommt. Überraschend fanden sie aber, dass trotz vielfältiger alltäglicher Erfahrungen elementare statistische Prinzipien wie das der »regression to the mean« (nach sehr guten Leistungen sind etwas schlechtere wahrscheinlicher, genauso wie nach sehr schlechten etwas bessere Leistungen wahrscheinlicher sind) oder der oben vorgestellte Effekt der Samplegröße auf die Variabilität innerhalb des Samples trotz häufiger Irrtumserfahrungen offenbar nicht erlernt würden, sondern stattdessen eine falsche Intuition erhalten bleibe.[14]

2. Quelle und Vorstellung

Der Aufsatz »Heuristics and Biases« formuliert sehr allgemeine Vorstellungen über die Natur und kognitive Ausstattung des Menschen. Inwiefern handelt es sich bei dem Text aber auch um eine spezifische historische Quelle? Alles, was aus der Vergangenheit im Hier und Jetzt noch unvergangen ist, kann unter einer bestimmten Perspektive zur Quelle werden. Ob es sich um eine aussagekräftige Quelle handelt, kann nicht im Vorhinein entschieden werden, sondern nur unter Bezugnahme auf eine Frage, im Rahmen derer die Quelle etwas sichtbar macht oder eben nicht. Im Hinblick auf Kahnemans und Tverskys »Judgment under Uncertainty« lassen sich verschiedene Zusammenhänge denken, in denen der Text historische Aussagekraft gewinnt. Deren Auswahl wird allerdings beeinflusst von seiner erfolgreichen Wirkungsgeschichte und dem Aufstieg der Verhaltensökonomie in den letzten 30 Jahren, für die der Aufsatz als ein wichtiger intellektueller Bezugspunkt oder gar Gründungsdokument gilt.[15] Noch in dem 2011 erschienenen Buch »Thinking, Fast and Slow« druckte Kahneman den »Science«-Aufsatz wieder ab.[16] Mit seiner Publikation ging es Kahneman und Tversky aber nicht darum, Einfluss auf die mikroökonomische Diskussion um die deskriptive Angemessenheit des Modells des Homo oeconomicus zu nehmen. Dies war erst das Ziel ihrer fünf Jahre später in der Zeitschrift »Econometrica« vorgestellten »Prospect Theory«.[17] Lokalisiert werden muss »Heuristics and Biases« vielmehr zunächst in der allgemeineren Diskussion um die Rationalität menschlichen Entscheidungsverhaltens, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv geführt und gerade in der Psychologie zunehmend empirisiert wurde.

Kahnemans und Tverskys Überlegungen fügen sich hier einerseits in die wachsende Kritik an den zu hohen Ansprüchen des idealisierten Rationalitätsideals ein, das sich vor allem in den hypertrophen Konstruktionen der Planspiele des Kalten Krieges geäußert hatte. Schon in den 1950er-Jahren hatte Herbert A. Simon gefordert, die tatsächlichen Entscheidungsprozesse von Individuen zu untersuchen, die immer in begrenzter Zeit und mit beschränkten intellektuellen Ressourcen erfolgten und daher den Bedingungen der »bounded rationality« unterlägen, statt mit dem abstrakten Ideal des Homo oeconomicus zu arbeiten.[18] Kahneman und Tversky sowie die an sie anschließende verhaltensökonomische Schule folgten diesem Plädoyer mit der Untersuchung pragmatischer Entscheidungsheuristiken und halfen so, die »strange career of Cold War rationality« zu beenden.[19] Zugleich waren sie Teil einer umfassenderen wissenschaftlichen Bewegung in verschiedenen Disziplinen, die ausgehend von den Vereinigten Staaten dazu antrat, menschliches Verhalten insgesamt der empirischen Analyse zugänglich und damit auch beschreib- und prognostizierbar zu machen.[20] Diese Bewegung erreichte in den 1970er-Jahren auch die Ökonomie: Waren psychologische Elemente im 19. Jahrhundert noch selbstverständlich in ökonomischen Theorien anzutreffen gewesen, wurden sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunächst eliminiert. Nachdem sich die Wirtschaftswissenschaften der von der Ford Foundation in den 1950er-Jahren angestoßenen Reorganisation der Sozialwissenschaften unter dem Label des Verhaltens noch verweigert hatten, waren die Behavioral Sciences in den 1970er-Jahren so erfolgreich geworden, dass die Psychologie mit Versuchen, Entscheidungsverhalten empirisch zu untersuchen und die Ergebnisse in überkommene Theorien zu integrieren, in die Ökonomie zurückkehrte.[21]

Die Wiederentdeckung von Simons »bounded rationality« und den Aufstieg der Verhaltensökonomie mit der Betonung der systematischen Fehlerhaftigkeit von Wahrscheinlichkeitskalkulationen und des menschlichen Entscheidungsverhaltens insgesamt gegen die hypertrophen Kontroll- und Steuerungsfantasien des Kalten Krieges in Stellung zu bringen greift aber andererseits insofern zu kurz, als die Untersuchung der Irrationalitäten menschlichen Verhaltens diese gerade wieder in den Bereich des Verfüg- und Beeinflussbaren bringen sollte. Der Anspruch der Verhaltensökonomie bestand und besteht schließlich darin, die Erklärungskraft der Ökonomie durch eine realistischere psychologische Grundlage zu erweitern.[22] Die Untersuchung der tatsächlichen Entscheidungsprozesse und ihrer Irrationalitäten in Anwendungsbereichen wie Finanzmärkten, dem Marketing, der Sozialpolitik und Altersvorsorge oder auch der Gesundheitspolitik versprach zugleich, Techniken bereitzustellen, genau diese Irrationalitäten wieder zur – ökonomisch effizienten – Verhaltensbeeinflussung zu nutzen.

Am wirkmächtigsten war hier bisher Richard Thalers und Cass Sunsteins Konzeption eines »libertären Paternalismus«, die vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und inzwischen in der Bundesrepublik politischen Einfluss gewonnen hat.[23] Im Unterschied zu Theoretikern des freien Marktes, die davon ausgehen, dass die Entscheidungen der individuellen Marktteilnehmer nur ihren Interessen folgen und nicht beeinflusst werden dürfen, damit die »unsichtbare Hand« ihre Wirkung tun könne, argumentieren Thaler und Sunstein, dass für Marktteilnehmer mit begrenzten zeitlichen und intellektuellen Ressourcen immer Einflussfaktoren vorliegen, die verhindern, dass diese gemäß ihrer Interessen entscheiden. Vielmehr lege in allen Bereichen des menschlichen Lebens eine bereits vorhandene Entscheidungsarchitektur bestimmte Entscheidungen nahe, andere aber nicht. Eine Veränderung dieser Entscheidungsarchitektur, zum Beispiel der Anordnung von Lebensmitteln in einer Cafeteria im Sinne der angenommenen Interessen der Individuen, ein möglichst langes, gesundes und materiell sorgenfreies Leben zu führen, sei also keine unzulässige Bevormundung, sondern versetze die Individuen überhaupt erst in die Lage, ihren Interessen entsprechend zu handeln.[24] Dass die Grenze zwischen legitimer Verhaltensermöglichung und illegitimer Verhaltenssteuerung fließend und zumindest teilweise eine Frage der Perspektive ist, zeigen die bisweilen heftigen Debatten über die Implementierung eines libertären Paternalismus. Auch der Erfolg populärwissenschaftlicher Bücher von Verhaltensökonomen auf dem Markt der Ratgeberliteratur deutet weniger auf die Akzeptanz der »bounded rationality« und die Fallibilität der eigenen Wahrscheinlichkeitsabschätzung als vielmehr auf die Kontrollfantasie, typische Denkfehler bei der Risikokalkulation durch ihre Vergegenwärtigung einhegen und sich damit selbst zu kompetenten Marktteilnehmern machen zu können.[25]

Kahnemans und Tverskys Aufsatz »Heuristics and Biases« sperrt sich aber aufgrund seiner zeitlichen Nähe und seines Inhalts der rein historisierenden Lektüre als Quelle innerhalb einer Geschichte von Rationalitäts- und Verhaltenskonzeptionen. Denn die im Text präsentierten Vorstellungen, wie Entscheidungen unter den Bedingungen von Unsicherheit bzw. wie Wahrscheinlichkeitskalkulationen funktionieren, erheben nicht nur einen zeitgebundenen Geltungsanspruch, sondern weisen weit darüber hinaus auf das Verständnis der menschlichen Natur insgesamt. Dabei sind es weniger die empirischen Verfahren, mittels derer die Aussagen gewonnen wurden, als vielmehr die intuitive Plausibilität der Beispiele, die, wenn man sie selbst durchspielt, noch immer den Eindruck der Validität erzeugen. Indem »Heuristics and Biases« Aussagen darüber macht, wie sich Menschen in Entscheidungssituationen verhalten, betreffen der Text und die an ihn anschließende Strömung der Verhaltensökonomie auch grundsätzliche theoretische Fragen der Geschichtswissenschaft, die nur selten expliziert werden, nämlich wie Menschen Entscheidungen treffen und welche Rationalitätsmaßstäbe wir anlegen dürfen und können, um sie richtig zu verstehen.

Dementsprechend haben Hansjörg Siegenthaler und Jakob Tanner schon vor einigen Jahren im Rahmen der Diskussion um das Verhältnis von Wirtschafts- und Kulturgeschichte festgestellt, dass die mikro- und handlungstheoretische Wende der Geschichts- und der Wirtschaftswissenschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren koinzidierten und »dass innerhalb des rational choice-Ansatzes theoretische Innovationen festzustellen sind, die einen interdisziplinären Dialog anregen könnten«.[26] Dabei könnte es zum einen darum gehen, sich auch in der historischen Analyse von überzogenen Rationalitätsvorstellungen zu verabschieden und stärker auf die Beschränkung von Entscheidungsprozessen durch zeitliche, kognitive und soziale Faktoren zu achten. Zum anderen kann die verhaltensökonomische Literatur aber auch für den grundsätzlichen Missstand sensibilisieren, dass Historikerinnen und Historiker zwar permanent vom Verhalten ihrer Untersuchungsobjekte sprechen, zumeist aber ohne den Begriff des Verhaltens theoretisch zu elaborieren. Gleiches gilt für die Begriffe der »Entscheidung« und in geringerem Maße der »Handlung«, der zumindest in Opposition zur »Struktur« expliziert wurde. Verhaltensökonomische Arbeiten können hier eine Inspirationsquelle liefern und helfen, den Blick vor allem auf die nicht den Normvorstellungen entsprechenden Bereiche menschlichen Verhaltens zu richten. Dabei kann es allerdings schon aufgrund ihres Abstraktionsgrades nicht darum gehen, die Ergebnisse der Verhaltensökonomie einfach zu übernehmen, sondern sie müssen vielmehr immer auch als zeitgebundene Antworten auf die grundsätzlichere Frage nach der Konstitution und Interpretation menschlichen Handelns begriffen und als solche sichtbar gemacht werden.

Anmerkungen:

[1] Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge 2011, S. 41-44.

[2] Ebd., S. 63.

[3] Matthias Klaes/Esther-Mirjam Sent, A Conceptual History of the Emergence of Bounded Rationality, in: History of Political Economy 37 (2005), S. 27-59; Floris Heukelom, A Sense of Mission: The Alfred P. Sloan and Russell Sage Foundations’ Behavioral Economics Program, 1984–1992, in: Science in Context 25 (2012), S. 263-286.

[4] Amos Tversky/Daniel Kahneman, Judgment Under Uncertainty. Heuristics and Biases, in: Science 185 (1974), S. 1124-1131. Siehe als Einführung in die Entwicklung der ökonomischen Theoriebildung Floris Heukelom, Behavioral Economics. A History, Cambridge 2014. In den 1950er-Jahren kritisierte in den USA vor allem Herbert A. Simon das Prinzip des Homo oeconomicus, und in der Bundesrepublik entwarf Günter Schmölders eine »ökonomische Verhaltensforschung«. Herbert A. Simon, Behavioral Model of Rational Choice, in: Journal of Economics 69 (1955), S. 99-118; Günter Schmölders, Ökonomische Verhaltensforschung, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 5 (1953), S. 203-244.

[5] Siehe zum Beispiel die ausgezeichnete Einführung von Miriam Dobson/Benjamin Ziemann (Hg.), Reading Primary Sources. The Interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-Century History, London 2009, oder Gunilla Budde/Dagmar Freist/Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichte. Studium, Wissenschaft, Beruf, Berlin 2008.

[6] Siehe dazu ausführlicher Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 1-30; Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293-304; Jörg Neuheiser, Der »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis. Die Untersuchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. 141-167; Lutz Raphael/Jenny Pleinen, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 172-195.

[7] Heukelom, Behavioral Economics (Anm. 4), S. 78-82.

[8] Amos Tversky/Daniel Kahneman, Belief in the Law of Small Numbers, in: Psychological Bulletin 76 (1971), S. 105-110; Daniel Kahneman/Amos Tversky, Subjective Probability. A Judgment of Representativeness, in: Cognitive Psychology 3 (1972), S. 430-454; dies., On the Psychology of Prediction, in: Psychological Review 80 (1973), S. 237-251.

[10] Siehe dazu ausführlich Heukelom, Behavioral Economics (Anm. 4), S. 96-132.

[11] Tversky/Kahneman, Judgment Under Uncertainty (Anm. 4), S. 1124.

[12] Ebd.

[13] Dies., Belief in the Law of Small Numbers (Anm. 8).

[14] Dies., Judgment Under Uncertainty (Anm. 4), S. 1130.

[15]David Laibson/Richard Zeckhauser, Amos Tversky and the Ascent of Behavioral Economics, in: Journal of Risk and Uncertainty 16 (1998), S. 7-47.

[16] Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, New York 2011, S. 419-432; dt.: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 521-544.

[17] Heukelom, Behavioral Economics (Anm. 4), S. 119; Daniel Kahneman/Amos Tversky, Prospect Theory. An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica 47 (1979), S. 263-292.

[18] Herbert A. Simon, Behavioral Model of Rational Choice, in: Journal of Economics 69 (1955), S. 99-118, hier S. 114: »We substitute for ›economic man‹ or ›administrative man‹ a choosing organism of limited knowledge and ability. This organism’s simplifications of the real world for purposes of choice introduce discrepancies between the simplified model and the reality; and these discrepancies, in turn, serve to explain many of the phenomena of organizational behavior.«

[19]Paul Erickson u.a., How Reason Almost Lost Its Mind. The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago 2013, S. 159-182.

[20] Bernard Reuben Berelson, Behavioral Sciences, in: David Sills/Robert K. Merton (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 2, New York 1968, S. 41-45; Heukelom, Sense of Mission (Anm. 3), S. 264.

[21] Esther-Mirjam Sent, Behavioral Economics: How Psychology Made Its (limited) Way Back into Economics, in: History of Political Economy 36 (2004), S. 735-760.

[22] So Colin Camerer/George Loewenstein, Behavioral Economics. Past, Present, Future, in: dies./Matthew Rabin (Hg.), Advances in Behavioral Economics, New York 2004, S. 3-52, hier S. 3.

[23] Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness, London 2009; dt.: Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2009. Das von David Cameron gegründete Behavioral Insights Team ist inzwischen zu einem nur noch lose mit dem Cabinet Office verbundenen Think Tank geworden; siehe <https://www.bi.team>; ppl./hbe., Kanzlerin sucht Verhaltensforscher. Psychologische Lenkung für »wirksames Regieren«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.8.2014, S. 15.

[24] Thaler/Sunstein, Nudge (Anm. 23).

[25] Kahneman, Thinking, Fast and Slow (Anm. 16); siehe auch mit deutlich anderer Akzentuierung als Kahneman: Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2013.

[26] Jakob Tanner, »Kultur« in den Wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 195-224, hier S. 196; Hansjörg Siegenthaler, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 276-301.

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