»Auf den ersten Blick quer«.
Stress als flexible Regulierung und die Dis-Kontinuitäten des
20. Jahrhunderts

Positionen und Perspektiven

Anmerkungen

Stress ist als Begriff und Problem weit über die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinaus relevant; Stressdiskurse können als Sonde für breitere gesellschaftsgeschichtliche Konstellationen dienen. Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stress muss daher zum einen dem medizinisch-biologischen Konzept nachgehen, zum anderen dessen gesellschaftliche Funktionalität erfassen. Die Zeitgeschichte wird den Fokus besonders auf die sozioökonomischen Prozesse und die soziale Sinngebung richten. Gleichwohl gibt es ein nicht zu vernachlässigendes methodisches Grundproblem: Wie lässt sich eine Beziehung herstellen zwischen den biochemischen und psychologischen Dimensionen, die mit dem Stressbegriff verknüpft sind, sowie den komplexen sozialen Konfigurationen, die dieser Begriff rationalisieren soll? Was sind die Konstituenten und Selbstbeschreibungsmodi einer Gesellschaft, die sich durch Flexibilisierung und Regulierung gleichermaßen auszeichnet? In welchem Verhältnis stehen zudem die jüngere Entwicklung seit den 1970er-Jahren, in der Stress eine hohe Deutungsmacht erhalten hat, und die Überforderungsdiskurse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?

Zu diskutieren ist also, wie produktiv der Stressbegriff gerade im Hinblick auf zeithistorische Fragen zur Ära »nach dem Boom« seit den 1970er-Jahren sein kann – und wie er generell bei Versuchen zur Periodisierung des 20. Jahrhunderts einzusetzen ist. Um diesen Themenkomplex näher zu beleuchten, haben wir zwei Historikerinnen und zwei Historiker befragt, die sich auf je eigene Art mit den entsprechenden Veränderungen befasst haben:

Brigitta Bernet (ETH Zürich) hat in ihren neueren wissensgeschichtlichen Forschungen die Bedeutung von »Human Capital« und »Persönlichkeit als Ressource« für die Jahrzehnte seit 1950 untersucht;

Lutz Raphael (Universität Trier) hat durch sein zusammen mit Anselm Doering-Manteuffel verfasstes Buch »Nach dem Boom« ein markantes und einflussreiches Stichwort geliefert für die Erforschung der neuesten Zeitgeschichte;

Dietmar Süß (Universität Augsburg) hat im Kontext seiner Forschungen zur Zeitgeschichte der Arbeit auf die Bedeutung von Arbeitszeitmodellen und Wertewandel seit den 1970er-Jahren verwiesen;

Nina Verheyen (Universität zu Köln) geht in ihrem Habilitationsprojekt der Definition, Vermessung und Erfahrung von »Leistung« sowie den damit verbundenen Debatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach.

Aus den zunächst unabhängig voneinander entstandenen Antworten auf unsere Fragen haben wir in Absprache mit den Beteiligten die folgende Debatte konstruiert. Der Stressbegriff hat dafür den Ausgangspunkt geliefert, die Stellungnahmen weisen aber über ihn hinaus – sie reflektieren sozial-, wissenschafts- und technikgeschichtliche Deutungen rund um das Konzept des gestressten Selbst.

Lea Haller/Sabine Höhler/Heiko Stoff

 

Seit dem späten 19. Jahrhundert wird in modernen Gesellschaften das Krisenszenario ermüdeter und geschwächter Körper entworfen, von der Neurasthenie über diverse psychopathologische Zustände und »Zivilisationskrankheiten« bis zu Stress und Burnout. Haben wir es also mit einer longue durée der Suche nach Anpassung und Stabilität in einer sich verändernden modernen Welt zu tun? Oder unterscheiden sich die älteren Dekadenz- und Degenerationsängste strukturell von den jüngeren Stressphänomenen?

Lutz Raphael: Die Frage nach wechselnden Modi der Regulierung von Gesellschaft und Herrschaft gehört zweifellos zu den Kernproblemen einer Historiographie des 20. Jahrhunderts, und die beständige Auflösung etablierter Ordnungsmuster ist ein Phänomen, das jedem Historiker vertraut ist, der die »Neueste Geschichte« zu seinem Spezialgebiet gemacht hat. Aus der Perspektive eines Historikers, der sich sowohl mit epochalen Trends in der Geschichte Europas beschäftigt als auch nach den Spezifika eines möglichen Strukturbruchs am Ende des 20. Jahrhunderts fragt, erscheint die Einordnung eines Hefts zum Thema »Stress« in den weiteren Fragehorizont von Kontinuität und Brüchen im 20. Jahrhundert allerdings als ausgesprochen schwierig, ja irritierend! Es ist irritierend, ein medizin- und wissenschaftshistorisches Untersuchungsobjekt wie »Stress« in diesen mehr oder weniger vertrauten Fragekontext einzuführen. »Stress« liegt auf den ersten Blick quer zu ihm und scheint nur begrenzt anschlussfähig zu sein.

Dietmar Süß: Als Krankheitsdiagnose der Industriegesellschaft reiht sich der Stress ein in die seit dem späten 19. Jahrhundert diagnostizierten Zivilisationskrankheiten; nun als Folge des Anpassungsdrucks an die neuen Umweltbedingungen der digitalen Revolution bewertet. Die Politisierung der Diagnose »Stress« deutet einerseits auf die Kontinuitäten mikropolitischer Konflikte der industriellen Arbeitswelt über die gesundheitlichen Folgen kapitalistischer Produktionsweisen hin, andererseits verweist sie auf einige bemerkenswerte semantische Verschiebungen. Das gilt vor allem für den Begriff der Flexibilisierung. Seit den 1980er-Jahren verwandelte sich Flexibilisierung von einem Stressvermeidungsinstrument zu einem Stressproduzenten im Modus der »Beschleunigung«.[1] Dies deutet jene veränderten Zeitstrukturen der Gegenwart an, deren Wirkungskraft wohl auch durch gesetzgeberische »Anti-Stress-Verordnungen« kaum begrenzt werden kann.

Nina Verheyen: Geschichtswissenschaftlich erscheint es mir wichtig, Stress als Quellenbegriff auszuleuchten und nach dessen Semantiken sowie den Formen der Wortverwendung zu fragen. Darüber hinaus könnte man aber versuchen, sich von der Quellensprache punktuell zu lösen, um Stress ausgehend von der heutigen Verwendungsweise als lockeren Oberbegriff oder auch als Orientierungspunkt einer Geschichte des gesamten langen 20. Jahrhunderts zu nutzen, die nach der Beziehung fragt zwischen den vielfältigen Formen individueller Belastungen, die als Ursachen von Stress gelten (Beschleunigung, Flexibilisierung, Leistungsdruck, technologischer Wandel, Lärm, Konsum etc.), sowie den ebenfalls sehr unterschiedlichen Phänomenen, die als Effekte dieser Belastungen gedacht werden (Neurasthenie, Managerkrankheit, Burnout u.a.). Wichtig wäre es, den Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen nicht a priori zu unterstellen, sondern erst zu prüfen. Die schillernde Vagheit und heterogene Verwendung des Stressbegriffs sollte also nicht kaschiert oder künstlich reduziert, sondern im Gegenteil betont und fruchtbar gemacht werden. Dabei wäre der Stress weder bloß als Belastung zu verstehen noch als regelrechte Belastungskrankheit, sondern eher als ein Sinnstiftungsmodus, der gleichzeitig der Kritik an und der Einübung in die Ansprüche der Hoch- oder Spätmoderne diente. Wenn etwa, wie Patrick Kury erwägt, die Neurasthenie um 1900 ein »Stressphänomen avant la lettre« war, »das gewisse strukturelle Ähnlichkeiten zu Zivilisationserscheinungen wie der Managerkrankheit und der heute omnipräsenten Stressfolgeerkrankung Burnout aufweist«,[2] ließe sich fragen, inwiefern der Umgang mit oder das Reden über Neurasthenie auch dazu diente, sich mit den damals als modern gedeuteten Belastungen zu arrangieren. Ich berühre diesen Punkt in meinen derzeitigen Forschungen über Leistungsdruck und Leistungsstreben um 1900 – allerdings nur sehr vorsichtig, denn die Risiken liegen auf der Hand. Es besteht die Gefahr, Differenzen zwischen damaligen und heutigen Belastungen sowie Belastungsreaktionen, -aneignungen und -deutungen massiv zu unterschätzen.

Lutz Raphael: »Stress« als sprachliche Bezeichnungskonvention in der Kommunikation von gefährdenden, irritierenden Begleitphänomenen individueller oder kollektiver Leistungsanforderungen ist meines Wissens ein klassisches Produkt des späten 20. Jahrhunderts. Es wäre in dieser Hinsicht als Symptom vor allem für die Strukturbruchthese brauchbar, die Anselm Doering-Manteuffel und ich als Leitthema einer Zeitgeschichte »nach dem Boom« postuliert haben.[3] Nur für die Teildisziplinen Wissenschafts- oder Medizingeschichte ergibt sich ein besonderes Interesse, nach den »Ursprüngen« bzw. Vorläufern der Stress-Redekonvention zu fahnden. Ob und wann diese Konvention sich zu einem »Diskurs« verdichtet hat, wäre dann eine mögliche Anschlussfrage – und eine »Genealogie« dieses Diskurses für alle von Interesse, die etwas Sinnvolles aus Foucaults Ansätzen machen wollen. Zweifellos ist die soziale und mediale Ausbreitung der Stress-Redekonvention neueren Datums und ließe sich wohl ohne größere Schwierigkeiten an bestimmte Tendenzen zur zeitlichen und sachlichen Entgrenzung der Leistungsanforderungen in den verschiedensten Arbeitswelten europäischer Länder vor allem in den letzten drei Jahrzehnten anbinden. Die gegenwärtige Debatte um Veränderungen in der Gestaltung von Arbeitsplätzen und der Zuschreibung von Arbeitsaufgaben liefert hierzu vielfältige Belege.

Brigitta Bernet: Als ein unspezifisches und vielschichtiges Syndrom, das ebenso als Ausdruck wie auch als Ursache von Erkrankungen gilt, gehört Stress mit anderen psychosomatischen Störungsszenarien wie Depression und Burnout zu den zeittypischen Diagnosen, die mit der aktuellen Kultur in Verbindung zu stehen scheinen. Schlaflose Nächte, Herzrasen, Angstzustände, Müdigkeit, Magenschmerzen oder Antriebslosigkeit: Die relative Unbestimmtheit von Stress in der medizinischen Symptomatik wird in Massenmedien und Populärkultur von einem Narrativ orchestriert, das Stress mit (zu starker) Belastung am Arbeitsplatz, mit Leistungsgesellschaft, Flexibilität oder Neoliberalismus in Verbindung bringt – also mit Entwicklungen, die als Signaturen der Zeit »nach dem Boom« gelten. Wie zuvor schon der Degeneration, Neurasthenie oder Schizophrenie kommt Stress eine prominente Rolle in der Selbstproblematisierung moderner Gesellschaften zu. Stress lässt sich als ein kultureller Code beschreiben, der vieles auf einen Nenner bringt und damit in den Dunstkreis des Pathologischen rückt: Soziale Medien, Globalisierung, Patchwork-Familien oder Computerspiele werden mit Stress in Zusammenhang gebracht.

Solche Zeitdiagnosen weisen zwar eine große Bandbreite auf, kulminieren aber oft in einer Kritik am Neoliberalismus. Das liberale Selbstverständnis basiert auf der Forderung, dass die »gesunde« (demokratisch legitimierte, wirtschaftsorientierte etc.) Gesellschaftsordnung der Natur des Menschen entsprechen müsse. In der Nachkriegszeit erfuhren die ökonomische und die psychologische Seite eine stärkere Gewichtung: Wirtschafts- und Persönlichkeitswachstum war die Losung der Stunde. Die Krise der 1970er-Jahre und die damit einhergehenden Herausforderungen – neue Unternehmensformen, Qualifikationsprofile, Arbeitsmarktverfassungen, Leistungserwartungen etc. – setzten dieses Versprechen harten Belastungsproben aus. Wollte man Kontinuitäten zwischen Stress und Neurasthenie sehen, so wäre es gewinnbringend, diese in ihrem Bezug zum liberalen Fortschrittsideal zu sehen – einem Ideal notabene, das selber eine lange Geschichte hat und das in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten sehr unterschiedlich ausstaffiert wurde.

Ist Stress demnach ein Regulierungs- oder ein Deregulierungsprinzip?

Lutz Raphael: Deregulierung und Flexibilisierung irritieren den zeithistorischen Generalisten als übergreifende Bezugspunkte einer Debatte um »Stress« insofern, als sie suggerieren, Geschichte ließe sich als eine Sequenz von Phasen der Regulierung/Deregulierung, Erstarrung/Verflüssigung beschreiben. Nun spricht vieles dafür, solche übergreifenden Gegensatzpaare im Sinne von Reinhart Koselleck (oder noch früher Jacob Burckhardt) als Wiederholungsstrukturen zu begreifen, die hinter dem Schaum der geschichtlichen Einzelereignisse und den Konjunkturwellen in Rechnung zu stellen sind. Sie sind demnach Möglichkeitsbedingungen von konkretem historischem Wandel. Historisch-anthropologisch bzw. geschichtstheoretisch sind sie in ihrer doppelten Rolle zu sehen – als Denkvoraussetzungen für die historiographischen Deutungen und als konkret wiederkehrende nachweisbare Abläufe (die dann aber jeweils unterschiedliche »Geschichten« generieren). Damit wäre aus meiner Sicht für die Spezifika des 20. Jahrhunderts auch schon alles, nämlich nichts gesagt. Steigt man in die Debatte ein, wie viel marktförmige und wie viel staatliche Regulierung zum Beispiel die europäischen Gesellschaften im »langen« 20. Jahrhundert, also seit etwa 1880, geprägt hat, kommt man zu national und regional sehr unterschiedlichen Befunden. Bislang haben sich jedenfalls alle großen linearen Modelle als untauglich erwiesen, die konkrete Entwicklungsdynamik einigermaßen angemessen abzubilden. Dies scheint mir auch für die Prozessbegriffe »Flexibilisierung« oder »Deregulierung« zu gelten.

Brigitta Bernet: Will man psychopathologische Deutungsmuster in eine Relation zu kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen bringen, so stellt sich die Frage, wie sich jene problematischen Verhaltensweisen soziokulturell konstituieren, die von der Medizin zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als Symptome in neue Krankheitsbilder übersetzt werden. Abnormität ist stets in Bezug zu setzen zu Normen und Leitbildern, die selber nicht schon dem Bereich der Medizin angehören. Erst in zweiter Linie stellt sich die Frage nach der Symptominterpretation, die im Fall des hier zur Debatte stehenden Symptompools mit Konzepten wie Stress und Burnout sowie dem ätiologischen Szenario der Deregulierung beantwortet wird. Bevor man sich in die Diskussion verstrickt, inwiefern Stress als Deregulierungsphänomen zu interpretieren ist, wäre zu fragen, in Bezug auf welche Normen und Leitbilder, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbindlich wurden, sich der Symptompool Stress als »Pathologie des Ideals«[4] konstituierte. Insofern Stress und Burnout in die Tradition des öffentlichen Nachdenkens über die »Pathologien der Moderne« eingebaut sind, muss man das Reden über diese Störungen auch – wenn nicht vor allem – als Versuche der Regulierung bezeichnen.

Nina Verheyen: Ja, es greift aus verschiedenen Gründen zu kurz, Stress primär als ein Deregulierungsprinzip der letzten Dekaden zu deuten. Auch wenn der Stressdiskurs im deutschen Sprachraum erst später einsetzte, gehen die ersten wissenschaftlichen Konturierungsversuche bis in die Jahrhundertmitte zurück. Zu den Ursachen von Stress wurden nicht nur deregulierte Arbeitsverhältnisse gezählt, sondern auch ganz andere Phänomene wie Beschleunigung, familiäre Konflikte und vieles mehr. Zudem ist zu fragen, was der intensive Stressdiskurs seit den 1970er-Jahren, der Stress als Reaktion auf Deregulierung am Arbeitsplatz und die damit einhergehenden Unsicherheiten beschreibt, alles verdeckt: Die »gestresste« Krankenschwester leidet möglicherweise weniger unter Deregulierung als schlichtweg unter enormer Arbeitsbelastung. Außerdem hat das Reden über Stress – jedenfalls Kury zufolge – eine Doppelfunktion, »da es dem Individuum ermöglicht, Belastungen zu verbalisieren, und es zugleich befähigt, sich daran anzupassen«.[5] In Verlängerung dieser Perspektive geht es auch um die Abfederung von sowie gleichzeitige Einübung in Deregulierung. Regulierung und Deregulierung erscheinen dann aber nicht als sich wechselseitig ausschließende oder aufeinander folgende Prozesse, sondern eher als ineinandergreifende Operationen.

Lutz Raphael wandte ein, Flexibilisierung als übergreifender Bezugspunkt einer Debatte um »Stress« suggeriere, dass Geschichte als eine Sequenz von Phasen der Erstarrung und Verflüssigung erzählt werden könne. Inwieweit kann Flexibilisierung als ein Leitbegriff im Stressdiskurs angesehen werden? Was ermöglichte der Begriff, was versperrte er?

Dietmar Süß: Am Beginn der Flexibilisierungsdebatten stand gerade die »Stressvermeidung«. Die Neuverteilung zeitlicher Ressourcen durch autonome Subjekte sollte dazu dienen, Arbeit und Leben besser aufeinander abzustimmen, damit Beschäftigte produktiver, gleichzeitig aber auch »gesünder« arbeiten könnten. In der alten Bundesrepublik wurde Flexibilisierung zunächst immer mit den Debatten über die Reduzierung der Arbeitszeit und die Einführung der 35-Stunden-Woche verwendet. In der »ZEIT« erschien erstmals im Januar 1983 ein Artikel, der »Flexibilisierung« zum Leitmotiv machte: Ein Soziologe des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hielt darin ein flammendes Plädoyer dafür, endlich »alte Trampelpfade« zu verlassen.[6] Arbeitszeitflexibilisierung führe keineswegs »in jenes Chaos, das die Verfechter starrer Zeitordnungssysteme immer so gerne als Horrorvision an die Wand malen«. In der Regel sei das über eine Flexibilisierung erreichte Gleichgewicht in der Praxis wesentlich stabiler, da es von den Beteiligten mitgetragen und mitgelebt werde. »In starren und total fremdbestimmten Arbeitsstrukturen [dagegen] ist die Gefahr groß, daß das Personal im wahrsten Sinne des Wortes zu Arbeitnehmern gemacht wird.« Flexibilisierung als Gegenbegriff zur Entfremdung innerhalb des Arbeitsprozesses, als Form der individuellen Selbstermächtigung – das war die Botschaft. Ende der 1970er-Jahre ging es damit nicht mehr ausschließlich um eine mögliche Reduzierung der Arbeitszeiten, sondern um einen Autonomiegewinn der Beschäftigten und ihren Ausbruch aus der Klammer des fordistischen Achtstundentages. Flexibilisierung ermöglichte es gerade, neuen Bedürfnissen gerecht zu werden, die sich nicht an »traditionellen Erwerbsbiographien« orientierten. Sie galt ihren Verfechtern als Teil eines »Lebensgefühls« und Ausdruck des Wertewandels in der Gesellschaft, zu dem auch ein neues Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit gehörte.

»Flexibilisierung« erschien nicht nur als Option für die Probleme des Arbeitsmarkts, sondern als Antwort auf die Wucherungen des Wohlfahrtsstaats. Richard Sennett war nicht der erste, wohl aber einer der einflussreichsten Kritiker, als er Ende der 1990er-Jahre in seinem Buch über den »flexiblen Menschen« den Begriff der Flexibilisierung als »Epochencharakterisierung« für den grundsätzlichen Wandel der Arbeitswelt nutzte – und ihn nicht mehr nur auf Fragen der »flexiblen Arbeitszeit« beschränkt wissen wollte. Sennett verwies dabei auf das dreifache Machtsystem, das sich im System der Flexibilisierung verberge: der Abbau institutioneller Ordnung, die flexible Spezialisierung der Produktion und die »Konzentration der Macht ohne Zentralisierung«.[7] Sennetts Diagnose lautete: »Flexible Arbeitszeiten« sind eingewoben in eine neue Machtordnung, sie sind nicht etwa ein »Recht« der Beschäftigten, sondern sind an ein spezifisches Belohnungssystem gekoppelt. Was sich hinter dem Begriff der »Flexibilität« verbarg, war damit mehr als nur der Formenwandel kapitalistischer Produktion. Sennett – und nicht nur er – zielte auf die neuen Formen individueller Inanspruchnahme, auf die Neuverteilung von Arbeits- und Investitionsleistungen.

»Flexibilisierung« ist damit aber nicht nur Ausdruck des veränderten Machtgefüges nach dem Ende des Fordismus, sondern in ihrer Uneindeutigkeit und Attraktivität auch eine Form der semantischen Neucodierung des Kapitalismus. Zugleich transzendiert der Begriff den unmittelbaren Produktionsbereich. Denn mit dem Siegeszug der Flexibilisierung gerieten nicht nur traditionelle Arbeitsroutinen unter Druck, sondern auch auf Dauer angelegte Sozialbeziehungen. Weit über die Rücknahme sozialstaatlicher Garantien hinaus bedeutete dies die Neujustierung des Verhältnisses von Arbeit und Leben sowie den gesteigerten Stellenwert individueller Ressourcenaneignung. »Flexibilisierung« und »Flexibilität« gelten als neue postfordistische Schlüsselkompetenzen, als Fähigkeiten, die der Einzelne benötige, um schnell auf neue Produktionsformen und Arbeitsbedingungen zu reagieren – und damit mobil und verfügbar zu sein.

Lutz Raphael: In diesem Sinn ist »Stress« ein aufschlussreicher »Diskurs« im Zeichen der »Beschleunigung« von Produktionsabläufen und der »Vermarktlichung« von Unternehmen bzw. Organisationen.[8] Auch die individuelle Seite der Medaille ist für eine solche Problemgeschichte der Gegenwart aufschlussreich. Hier geht es um die zunehmende Ausrichtung von Individuen an solchen Anforderungen flexibler Handlungskompetenz und entgrenzter Mobilisierbarkeit. Kritisch formuliert geht es also um die Verinnerlichung entsprechender Zwänge bzw. Zumutungen in Form von Selbstbewertung, Leitbildern für eigenes Tun und Sein, und umgekehrt: um Selbstabwertung und Unzulänglichkeitserfahrung. Fragt man weiter nach der sozialen und regionalen Verbreitung des hier strikt als Kommunikationskonvention gefassten »Stress«-Syndroms, wird man mangels Vergleichsstudien vorerst wohl wenig Präzises sagen können. In zeitlicher Hinsicht wird man von der beobachtungsgestützten Intuition ausgehen dürfen, dass vor allem die Verbreitung des PC, später dann die Netz-gestützte Kommunikation beschleunigende Wirkungen erzeugt hat – deren geschichtswissenschaftliche Erforschung aber noch aussteht.

Welches sind Orte des Stresses im 20. Jahrhundert? Sind es arbeitsweltliche Kontexte wie der Betrieb oder lebensweltliche Zusammenhänge außerhalb der Arbeit? Welche Rolle spielen Medizin, Arbeitswissenschaft und Psychologie in der Einordnung von Stress?

Lutz Raphael: Eine zeithistorische Reflexion sollte den Stand der gegenwärtigen medizinischen Stressforschung berücksichtigen, die ein kulturübergreifend-universelles Verhaltensmuster als Fundament kulturspezifischer Deutungsvarianten postuliert. In den Begriffsdefinitionen und Zugangsweisen der lebenswissenschaftlichen Disziplinen gewinnt »Stress« den Charakter einer anthropologischen Universalie. Die in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis gängige Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge zwischen somatischen Reaktionsmustern, Erschöpfungszuständen, spezifisch emotionalem Belastungserleben und individuellen Bewertungen irritierender (externer) Zustände weitet den Horizont zum Beispiel über den engeren Bereich der Arbeitswelt erheblich aus. Angst und damit zusammenhängenden Reaktionen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Typische Orte, an denen im Verlauf des 20. Jahrhunderts – jenseits verfügbarer »Stress-Diskurse« – »Stress«-Situationen anfielen bzw. von Individuen »bewältigt« werden mussten, waren Kriege, Vertreibung sowie familiäre und eheliche Gewalt. Eine streng konstruktivistische Sichtweise mag vermeiden, eine solche »realistische« Öffnung der Büchse der Pandora vorzunehmen – ich empfehle aber, diesen breiteren Denkhorizont im Kopf zu behalten, wenn es darum geht, große Bögen zu schlagen und über epochenprägende Zusammenhänge zu spekulieren. Immerhin münden alle Kommunikationskonventionen, die sich mit der öffentlichen Anerkennung posttraumatischer Belastungsstörungen (Post-Traumatic Stress Disorder) etabliert haben, am Ende des 20. Jahrhunderts nicht zufällig in das breitere Diskursfeld von Stress und seinen Symptomen. Außer-alltägliches Angsterleben und wiederkehrender Zwang zur Angstverarbeitung gehören für eine große Zahl von Menschen, ja für größere Kollektive in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhundert, zu einer wiederkehrenden Tatsache mit nicht trivialen Folgen. Darüber wissen Historiker heutzutage immerhin mehr,[9] aber noch längst nicht genug, um etwa eine dichte Erfahrungsgeschichte dieses Jahrhunderts schreiben zu können. Auf diesem Gebiet sind Kunst und Literatur nach wie vor artikulationsfähiger und differenzierter.

Brigitta Bernet: Stress und Burnout sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu medizinischen Angeboten geworden, um über Leistungsdruck in der westlichen Arbeitswelt zu sprechen. Es sind neue Konzepte, die auf die gesundheitsschädigende Wirkung der postindustriellen Arbeitswelt aufmerksam machen. In diesen Krankheitsbildern geht es nicht mehr um Unfallrisiken oder um den Umgang mit giftigen Stoffen, sondern um die psychischen Folgen der Arbeitsbelastung. Dieser Koppelung mit der psychischen Gesundheit verdankt Stress seine enorme Resonanz im öffentlichen Diskurs des Westens. Denn nicht alle so genannten Berufskrankheiten erhielten eine ähnliche Aufmerksamkeit. Nehmen wir das Beispiel der Silikose (Staublunge): Wie Paul-André Rosental gezeigt hat, kämpft diese unter Bergbau- und Minenarbeitern verbreitete und mit extremen körperlichen Schäden einhergehende Krankheit bis heute um die ihrer Tragik und Häufigkeit entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit und versicherungstechnische Anerkennung.[10] Es ist keineswegs so, dass die Schwere oder die Verbreitung einer Berufskrankheit hinreichende Bedingungen für ihre öffentliche Thematisierung bilden würden. Vergleicht man die Thematisierungskonjunkturen von Stress und Silikose, so liegt der Verdacht nahe, dass sich hier klassenspezifische Aufmerksamkeitsstrukturen reproduzieren. Der Eindruck verstärkt sich, wenn man berücksichtigt, dass Silikose eine körperbezogene Erkrankung ist, die in der Regel Arbeiter trifft, während die psychischen Gesundheitsstörungen Stress und Burnout vor allem unter Angestellten verbreitet sind. Stress hat immer auch etwas von einer »fashionable disease«; hierin ist er der Neurasthenie ähnlich. Es handelt sich um eine wenig stigmatisierende Diagnose, die zur Selbstbeschreibung und nicht vor allem zur Fremdbeschreibung rege benutzt wird.

Dietmar Süß: Die IG Metall bilanzierte in ihrem ersten Entwurf zu einer gesetzlichen »Anti-Stress-Verordnung« vom Juni 2012: »Psychische Belastungen in der Arbeitswelt haben ein Besorgnis erregendes Ausmaß angenommen. Arbeits- und Zeitdruck sind allgegenwärtig, Arbeitszeiten laufen aus dem Ruder, Restrukturierungen werden zum Dauerzustand, prekäre Beschäftigung mit all ihren Unsicherheiten und Diskriminierungen verdrängt reguläre Arbeitsverhältnisse, und viele Beschäftigte klagen über schlechtes Betriebsklima und defizitäres Führungsverhalten. Die Folgen sind deutlich sichtbar und vielfach belegt: Psychische Erkrankungen nehmen zu. Sie sind inzwischen auch die häufigste Ursache für Frühberentungen. Zugleich ist die Zeitbombe Arbeitsstress für zahlreiche körperliche Erkrankungen verantwortlich.«[11] »Stress« bezeichnet in dieser Diagnose stellvertretend all jene Verwerfungen, die die Liberalisierung des Arbeitsmarkts hervorgebracht habe, ja der globale Finanzmarkt-Kapitalismus insgesamt. Mit dieser Einschätzung stehen die Gewerkschaften keineswegs alleine. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) persönlich präsentierte Anfang 2013 den »Stressreport 2012«, den die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erstellt hatte.[12] Das Ergebnis: Von den rund 18.000 interviewten Erwerbstätigen sahen sich 58 Prozent durch Multitasking, 52 Prozent durch Termin- und Leistungsdruck und 44 Prozent durch wiederholte Störungen ihrer Arbeitsvorgänge belastet. Bei 35 Prozent der Befragten dauerte die Arbeitswoche länger als 40 Stunden, und 64 Prozent gaben an, auch samstags arbeiten zu müssen. Für die Arbeitgeber waren diese Ergebnisse indes weniger eindeutig als für die Gewerkschaften. Sie verweigerten deshalb zunächst ihre Unterschrift unter eine gemeinsame »Erklärung zur psychischen Gesundheit bei der Arbeit«, mit der Begründung, nicht primär die Arbeitsbedingungen seien für psychische Erkrankungen verantwortlich, sondern vielfach der Umstand, keine Arbeit zu haben. Deshalb lehnten sie auch die Pläne für eine gesetzliche »Anti-Stress-Verordnung« mit dem Hinweis auf die bereits geltenden rechtlichen Arbeitsschutzbestimmungen ab.[13] Deutlich wird hier erneut: Das Stresskonzept reicht über die Arbeitswelt hinaus, bleibt aber mit den jeweiligen Arbeitsbedingungen und dortigen Machtbeziehungen eng verbunden.

Gibt es Gegenorte, an denen Stress unterlaufen, ignoriert oder gar sabotiert wurde? Welche Bedeutung haben soziale Gemeinschaften, zum Beispiel das trotz gesellschaftlicher Veränderungen und hoher Scheidungsraten intakte Modell der Kleinfamilie, als Lebenszusammenhalt im Stressdiskurs?

Nina Verheyen: Gegenbewegungen, Saboteure und Nischen der Leistungs- oder vielleicht auch Stressgesellschaft hat es im gesamten 20. Jahrhundert in vielfältiger Form gegeben, aber gerade das »Modell der Kleinfamilie als Lebenszusammenhalt« sollte man nicht dazu zählen. Das Bild der Familie als einer von ökonomischen Ansprüchen befreiten Gegenstruktur der Gesellschaft geht bekanntlich ins 19. Jahrhundert zurück und ist hochgradig ideologisch. Tatsächlich sind Familien in all ihrer Vielfältigkeit eng verzahnt mit gesellschaftlichen, auch ökonomischen Ansprüchen – und sie gelten ihrerseits als ein großer Produzent von Stress. Zu bedenken ist nicht nur der mit Hausarbeit oder Kindererziehung verbundene »Stress«, sondern etwa auch, dass Familientreffen als »stressig« empfunden werden oder dass Eltern die kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder schon sehr früh zu fördern versuchen und sich gleichzeitig sorgen, den Nachwuchs damit zu überfordern bzw. umgangssprachlich: zu »stressen«.

Kommen wir auf die Praktiken zu sprechen: Welche Technologien und Verfahren erlaubten den Übergang vom arbeitenden Individuum als »Kraftmaschine« zur Vorstellung des Menschen als ökonomischer Ressource – also vom »Human Motor«[14] zum »Human Capital«?[15] Und wie hat sich damit das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit gewandelt?

Lutz Raphael: Die Frage nach den Zusammenhängen von medizinischen Leitbildern des Menschen (Beispiel »Human Motor«) und dem soziologischen Konzept des »Human Capital« ist ausgesprochen interessant. Die Hypothese, erst der Abschied von der Energieverbrennungs-Arbeitsmaschine Mensch habe den Weg geebnet für den Einsatz des breiter angelegten, ja alle menschlichen Eigenschaften in den Blick nehmenden Verwertungsmodells »Humankapital«, klingt auf den ersten Blick verführerisch, hat aber, so vermute ich, keine interne, ideengestützte Stringenz. Die dichotome Engführung beider Ideenwelten verschließt den Blick für die Vielzahl der Optionen, die als Realmöglichkeiten von Modellen bereitstanden, um die jeweils vorherrschenden medizinischen Menschenbilder mit der ökonomischen bzw. politischen Nutzung ganz vielfältiger menschlicher Leistungen und Eigenschaften zu verbinden. Die Nutzung von Intelligenz, Wissen oder Bildung als genuin menschlichen Ressourcen von möglicherweise hohem ökonomischem Gebrauchswert hat nicht auf die Erfindung des Konzepts »Human Capital« warten müssen. Aus meiner Sicht ist die Erfolgsgeschichte des »Human Capital«-Konzepts seit den 1960er-Jahren nicht so sehr an parallele Veränderungen des medizinischen Menschenbilds gebunden, sondern mit anderen Faktoren zu erklären: spezifischen politökonomischen Rahmungen (Stichwort »neoliberaler« Marktfundamentalismus), weiterentwickelten Subjektivierungsformaten (der Mensch als Kreativitätsoptimierer) und vor allem spezifischen technologischen Entwicklungen (Computerisierung).

Wolfsburg, im Januar 1973: VW-Werksangehörige stempeln am Ende der Frühschicht ihre Zeitkarten ab
(Bundesarchiv, B 145 Bild-F038809-0007, Foto: Lothar Schaack)
In den 1970er-Jahren begannen sich die Arbeitszeitgestaltungen und zugleich die technischen Möglichkeiten ihrer Erfassung zu wandeln. Das Bild zeigt einen der ersten »Zeitcomputer« auf dem deutschen Markt, hergestellt von der Schweizer Firma Hasler (ab 1973). Dieses vollelektronische Gerät diente unter anderem der Messung von Gleitzeit mit Hilfe codierter Ausweiskarten. Die Buchungen wurden auf einem Thermodrucker protokolliert und am Monatsende automatisch abgerechnet. Den radikaleren Schritt, Zeiterfassung nicht nur zu flexibilisieren, sondern weitgehend aufzuheben (und damit ein wiederum neues Kontrollregime selbstverantworteter Arbeitszeit einzuführen), wagten allerdings nur wenige Unternehmen.
(TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, Foto: Klaus Luginsland)

Dietmar Süß: Als Modell für das neue Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit galten die Arbeitsbedingungen bei der deutschen Niederlassung von Hewlett-Packard. Als ein »ZEIT«-Reporter im Herbst 1976 den amerikanischen Elektronikkonzern im schwäbischen Böblingen besuchte, leuchteten seine Augen. Nicht nur, dass man sich dort von der Empfangsdame bis zum Chef duzte und damit auch die üblichen deutschen Titelhierarchien in den Hintergrund rückte. Vor allem fiel auf, was in der Böblinger Hauptverwaltung fehlte: nämlich die Stechuhren, die man sonst in deutschen Verwaltungen und Betrieben gewohnt war. »Gleitende Arbeitszeiten« – den Begriff schien sich der Journalist beinahe andächtig zu notieren. Diese Arbeitsplatzkultur jedenfalls kannte nur flache Hierarchien, legere Kleidung, offene Büros, Konferenzen im Stehen. Auch was inzwischen mit dem Begriff des »unternehmerischen Selbst« als relativ neuer Subjektivierungsprozess beschrieben wird,[16] kannte man in Böblingen im Jahr 1976 schon sehr genau – und zwar als Hoffnungszeichen fortschrittlicher und humaner Selbstorganisation. Der Produktionschef fasste den Arbeitsprozess so zusammen: »In der Metallbearbeitung bekommt beispielsweise jeder Mitarbeiter seine Aufträge, in denen drinsteht, was hergestellt werden soll und welche Werkzeuge dazu gebraucht werden. Er muß sich dann erkundigen, welche Maschine frei ist, und sich überlegen, wie er die Sache am besten anpackt. Wenn er alles eingerichtet hat, mißt er das erste Stück selber nach. Die fertigen Teile gehen dann ins Lager. Eine Kontrolle durch andere gibt es nicht. Stellt sich später heraus, daß er Murks gemacht hat, muß er die Stücke selber nachbessern. Natürlich wird auch das bezahlt.« Das sei, wie der Artikel festhielt, »also nur eine moralische Verantwortung«. Gleichwohl bemerkte ein Ingenieur, der für den Bereich »Tischrechner« verantwortlich war: »Jeder ist sein eigener Kontrolleur.« Und dazu gehörte bei Hewlett-Packard auch der »Grundsatz der Eigenverantwortung und des Vertrauens« – und damit die Abschaffung der Stechuhren.[17] »Flexible Arbeitszeiten« galten als Bestandteil einer spezifischen Unternehmenskultur, die mehr als bisher auf die Aktivierung der Mitarbeiter, auf die Übernahme von Verantwortung im Produktionsprozess und auf »Projektarbeit« setzte.

Nina Verheyen: Die im 19. Jahrhundert geprägte, mechanistische Vorstellung des Menschen als »Human Motor« und die jüngere Perspektivierung des Individuums im Hinblick auf sein »Human Capital«, sein personengebundenes Wissen, korrespondierten zum Beispiel mit je eigenen Praktiken der Erhebung individueller Leistungskraft – etwa durch die exakte Vermessung von innerbetrieblichen Arbeitsabläufen im Sinne der wissenschaftlichen Betriebsführung oder durch Teamgespräche, in denen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen über ihre Erfolge und Misserfolge aussprechen sollen. Unter welchen Bedingungen solche Verfahren Stress produzieren oder als »stressig« wahrgenommen werden, ist aber offen. Zudem ist nicht von einem linearen Prozess auszugehen, in dessen Verlauf die Figur des »Human Capital« sowohl auf der Ebene wissenschaftlicher Diskurse wie im Hinblick auf Selbsttechnologien jene des »Human Motor« ersetzte. Zu beachten sind vielmehr Phasen der Koexistenz, Arenen der Konkurrenz sowie Formen der Verschränkung der beiden Konzepte. Beispielsweise finden sich in der heutigen Alltagssprache immer noch Anklänge an die Figur des »Human Motor« (»Der Akku ist leer«),[18] und auch in der mit »Burn-Out« assoziierten Vorstellung des »Ausgebranntseins« lebt die alte Vorstellung eines Versiegens der Energie bei falscher Inbetriebnahme von Körper und Geist fort.

Dietmar Süß: Der Kampf um die Formen der Arbeitszeitgestaltung berührt ganz unmittelbar die Schwerpunktverlagerung vom »Human Motor« zum »Human Capital«, weil er den Blick auf die neuen Techniken der Selbststeuerung lenkt, wie sie bei Hewlett-Packard beobachtet werden konnten. Offenkundig verstanden aber keineswegs alle Beschäftigten diese Entwicklung als eine »Verlustgeschichte« oder eine getarnte Form der Ausbeutung. Die Auseinandersetzungen um die Zeiterfassung verdeutlichen die Ambivalenz des Transformationsprozesses, zu dem der Autonomiegewinn genauso gehörte wie das »unternehmerische Selbst« der Beschäftigten. Die Gewerkschaften taten sich aus diesem Grunde auch besonders schwer mit dem Begriff der Flexibilisierung, weil er einerseits ein Bedürfnis der Belegschaften aufzugreifen schien, aber gleichzeitig den Unternehmern ein gefährliches Instrument bot, die erkämpften Mitbestimmungsmöglichkeiten auszuhebeln. Dass die neuen Arbeitszeitmodelle »Stress« bedeuten könnten, ist indes erst seit den späten 1990er-Jahren Thema gewerkschaftlicher Debatten und der sozialwissenschaftlichen Forschung geworden. Die gewerkschaftliche Humanisierungspolitik seit den 1970er-Jahre zielte vor allem auf einen veränderten Einsatz von Technik und auf die Frage, wie die Beschäftigten vor den negativen Folgen der Rationalisierung bewahrt werden könnten. Im Zentrum stand die »saubere Fabrik«, die vor allem nicht »krank« machen sollte. Mit dem Thema »Stress am Arbeitsplatz« richteten sich die Gewerkschaften nicht nur gegen die aus ihrer Sicht zunehmende Vermarktlichung des Produktionsprozesses, sondern vor allem gegen die immer weitergehende Durchdringung von Arbeits- und Lebenswelt, für die die Ausweitung des Stresses eines der sichtbarsten Zeichen war. Insofern unterscheidet sich der »Stress« der Gegenwart auch von der »Managerkrankheit« der 1950er-Jahre. Denn er ist keineswegs mehr sozial exklusiv auf die höheren Führungsetagen beschränkt, sondern ein Massenphänomen, gleichsam eine »demokratische Volkskrankheit«, die alle Erwerbstätigen betrifft.

Nina Verheyen: Vor allem aber galt die Managerkrankheit tatsächlich als eine – wenngleich diffuse – Krankheit: Sie wurde zuerst als eine Erkrankung der Herzgefäße gedeutet und dann erst als psychosomatisches Leiden vor dem Hintergrund von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Stress hingegen galt als zwar möglicher – aber nicht notwendiger – Krankmacher sowie als potentielles Element von Krankheit, jedenfalls nicht als die Krankheit selbst. Das begrenzte den Einfluss der medizinischen Experten. Unabhängig vom ärztlichen Urteil konnte und kann jeder für sich in Anspruch nehmen, gestresst zu sein. Diese Aussage musste nicht validiert werden – im Gegenteil: Da dem Stress ein subjektives Moment konzediert wurde, galt als gestresst, wer sich als gestresst beschrieb. Dieser weitgehende Verzicht auf medizinische Begutachtung und Beglaubigung hatte weitreichende Folgen – etwa für das Distinktionspotential von Stress, seine sozialen Funktionen, aber auch seine Behandlungsmethoden. Es ist wenig erstaunlich, dass die vorgeschlagenen Gegenstrategien – etwa Versuche der Stressreduktion durch Yoga, Meditation, autogenes Training, Jogging, aber auch Zeitmanagementkurse oder »Success Kalender« – nicht von Ärzten oder Stressforschern verordnet werden. Anhand der Geschichte des Stresses zeigt sich, wie die »Verwissenschaftlichung des Sozialen«,[19] inklusive des Psychischen und Emotionalen, seine eigenen Gegenläufigkeiten produzierte oder diese zumindest hinnehmen musste, nämlich eine partielle Entwissenschaftlichung. Die Hierarchie zwischen Experten und Nicht-Experten in jüngsten Stressdeutungen ist entsprechend umkämpft.

Nach der heute gängigen Vorstellung ist Stress nicht nur etwas Negatives; wer Stress hat, beweist einen dynamischen Lebenswandel und ein durch nicht-monotone Arbeit gefordertes Selbst. Wirkt Stress als soziales Distinktionsmittel, oder ist er tatsächlich die »demokratische Volkskrankheit«, von der Dietmar Süß gesprochen hat?

Nina Verheyen: Zur Geschichte von Stress liegen bislang fast nur wissenschafts- und diskursgeschichtliche Studien vor; über die Funktionen von Stress als soziales Distinktionsmittel lässt sich also nur spekulieren. Es spricht aber einiges dafür, die Verwendung der Stressformel in den letzten Dekaden als ein sozial übergreifendes Phänomen zu verstehen, mit dem sich der Einzelne als gefragt, beschäftigt und gefordert beschreibt und sich gleichsam in die dynamische, auch hektische Leistungsgesellschaft integriert – ausgeschlossen sind damit etwa Arbeitslose und Rentner bzw. Rentnerinnen, während sowohl Hausfrauen als auch Kindern durchaus Stress konzediert wird. Weitere soziale Differenzen treten beim Umgang mit Stress zutage: Das Erlernen komplexer, aber auch zeitintensiver, teurer Bewältigungsstrategien zeichnet vermutlich eher die Eliten aus als Niedriglohnarbeiter. Der Fülle an Managerratgebern stehen keine vergleichbaren Arbeiterratgeber gegenüber. Das verweist freilich nicht auf mehr oder weniger Stress, sondern auf einen bestimmten Umgang damit, etwa auf die ostentative Bereitschaft, sich Stress zu stellen und an ihm beziehungsweise durch ihn zu wachsen, in diesen produktiven Umgang mit Stress auch finanziell zu investieren und natürlich: ihn nach außen sichtbar zu machen. Ob man passiv-hilflos unter Stress leidet oder vermeintlich aktiv-souverän mit ihm arbeitet, von ihm beflügelt wird, durch ihn zu Höherem wächst, das wirkt sich auf das Distinktionspotential von Stress erheblich aus.

Brigitta Bernet: In der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart gibt es viele Formen von Belastung, die sozial beschwiegen, akzeptiert oder hypostasiert wurden bzw. werden. Mit Blick auf Distinktion stellt sich die Frage, welchen sozialen Gruppen es gelang, ihre Belastung in medizinische Kategorien zu überführen und wessen Erfahrungen diese Akzeptanz nicht oder vergleichsweise spät zuteil wurde. Hier gäbe es noch interessante Geschichten zu erzählen, zum Beispiel die verdeckte Psychopharmakologisierung und Selbstmedikation der Haus- und Familienarbeit durch Valium, für welche die Rolling Stones mit »Mother’s Little Helper« bereits 1965 ein Outline verfasst haben.

Lutz Raphael: Offensichtlich entwickelte sich »Stress« schon bald zu einem Krankheitszustand bzw. Handlungsmodus, der nicht allein Managern zuzurechnen war. Diese »Demokratisierung« hat die Redekonvention sehr rasch als soziales Distinktionsmerkmal entwertet. Vermutlich ließe sich auch aufzeigen, dass »Stress« mit großem Gewinn in Anspruch genommen werden kann, um Zumutungen von Verantwortlichkeit und Leistungserbringung von sich fernzuhalten, lange bevor in irgendeiner »messbaren« Form psychosomatische Spuren von »Stress« für die betreffenden Individuen bzw. Gruppen beobachtet werden können. Stress ist also auch ein flexibel einsetzbares Instrument geworden, um externe Leistungsanforderungen subversiv zu unterlaufen.

Anmerkungen:

[1] Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.

[2] Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt a.M. 2012, S. 39.

[3] Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3. Aufl. 2012.

[4] Alain Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2011.

[5] Kury, Der überforderte Mensch (Anm. 2), S. 16.

[6] Bernhard Teriet, Weg von den alten Trampelpfaden, in: ZEIT, 7.1.1983; dort auch die folgenden Zitate.

[7] Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 59.

[8] Anm. der Red.: Zur »Vermarktlichung« ist für Ende 2015 ein Themenheft dieser Zeitschrift geplant (inzwischen erschienen: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015>).

[9] Vgl. als breiten neueren Überblick etwa Lars Koch (Hg.), Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013.

[10] Paul-André Rosental, De la silicose et des ambiguïtés de la notion de »maladie professionnelle«, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 56 (2009), S. 83-98; Jean-Claude Devinck/Paul-André Rosental, »Une maladie sociale avec des aspects médicaux«: la difficile reconnaissance de la silicose comme maladie professionnelle dans la France du premier XXe siècle, in: ebd., S. 99-126.

[13] Arbeitgeber blockieren Anti-Stress-Verordnung, 29.1.2013, URL: <http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/stressreport-streit-um-burnout-vorbeugung-a-880314.html>. Einige Monate später konnten sich die Tarifpartner und die Bundesregierung nach längeren Verhandlungen auf eine gemeinsame Erklärung einigen, nicht aber über eine »Anti-Stress-Verordnung« im Sinne der Gewerkschaften. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände/Deutscher Gewerkschaftsbund, Gemeinsame Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt, September 2013.

[14] Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990; dt.: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001.

[15] Im Sinne der von Gary S. Becker 1964 beschriebenen Wertschöpfung durch differenzierte Kompetenzen einer wachsenden Armee von Angestellten; siehe Gary S. Becker, Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, New York 1964 (und öfter).

[16] Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007 (und öfter).

[18] Vgl. Ulrich Bröckling, Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Metaphern im Burnout-Diskurs, in: Merkur 67 (2013), S. 400-411.

[19] Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.

 

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