Alter(n) als Thema der Zeitgeschichte

Einleitung

Anmerkungen

 

Die Wanderausstellung „Zukunft leben: Die demografische Chance“ der Leibniz-Gemeinschaft wird 2013/14 an mehreren Standorten gezeigt – hier ein Bild von der ersten Station im Museum für Naturkunde Berlin, Frühjahr 2013.
(Foto: Museum für Naturkunde Berlin; siehe auch http://www.leibniz-gemeinschaft.de/ueber-uns/veranstaltungen/zukunft-leben-die-demografische-chance/)

Es waren nicht zuerst die Zeithistoriker, die das Thema Alter und Altern für die Geschichtswissenschaft erschlossen. Die Pioniere näherten sich dem Gegenstand aus dem 19. Jahrhundert oder griffen noch viel weiter aus.1 Diese Perspektive der longue durée ist vor allem der Sozialgeschichte eigen: Bezogen auf Alter und Altern flankierte sie die Historische Demographie, um Altersaufbau, Lebenserwartung und Familienstrukturen von Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg zu rekonstruieren. Ebenso lässt sich die Entwicklung von Rentensystemen und ihren Vorläufern in der Langzeitperspektive beschreiben. Die Kulturgeschichte folgte diesem Pfad; sie beleuchtete Altersbilder und -diskurse seit der Antike, wobei sie die Ambivalenz positiver und negativer Deutungen als Kontinuität entdeckte. Als dritter Strang der historischen Altersforschung hat sich die Medizingeschichte lange Zeit separat entwickelt.2

Gerade diese Perspektiven einer longue durée haben unser Wissen über Alter und Altern entscheidend erweitert: Erstens zeigt die Historische Demographie, dass Altenanteile von zehn Prozent nicht erst im 20. Jahrhundert gezählt wurden, sondern vereinzelt schon in Gesellschaften früherer Epochen.3 Zweitens steht mittlerweile fest, dass es ein „goldenes Zeitalter“ des Alters und der Alten, in dem Langlebigkeit automatisch Respekt und Bewunderung versprach, was mit der Modernisierung verloren gegangen sei, nie gegeben hat.4

Wenn sich Zeitgeschichte als „Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen“ (Hans Günter Hockerts) versteht, drängt sich die Erforschung von Alter und Altern als zeithistorisches Themenfeld auf. Angesichts der demographischen Alterung als Langzeittrend muss sich die zeitgeschichtliche Forschung jedoch der Frage stellen, inwieweit sie einen originellen Zugang zu diesem Phänomen beisteuern kann. Meine Antwort auf diese Frage verfolgt zwei Argumentationslinien:5 Neue Erkenntnispotentiale ergeben sich aus den Umwälzungen im Alterungsprozess selbst (1.). Zudem erweitern veränderte Entstehungskontexte und Arten von Quellen den historiographischen Blick auf Alter und alte Menschen (2.).

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1. Alter(n) im 20. Jahrhundert: Merkmale und Perspektiven
 

Der Alterungsprozess an sich war im 20. Jahrhundert zwar keine Neuheit, doch weist er im Vergleich zu früheren Jahrhunderten spezifische Merkmale auf. Erstens wurden immer mehr Angehörige eines Geburtsjahrgangs alt. Einkommens-, Bildungs- und Familienverhältnisse sowie Stadt-Land-Unterschiede beeinflussten kaum mehr den Zeitpunkt des Todes (hingegen wuchs die Bedeutung von Geschlecht als Differenzkategorie im Alter). In manchen Ländern, etwa in Frankreich, zeichnete sich diese „democratization of longevity“ bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab.6 Zweitens wurden mehr Menschen sehr alt. Nach 1945 gab es einen demographisch signifikanten Wandel: den Zugewinn an Lebensjahren im hohen Alter.7 In Westdeutschland und in Großbritannien konnten Menschen, die 1990 65 Jahre alt waren, damit rechnen, durchschnittlich noch gut 16 weitere Jahre zu leben, während Gleichaltrige 1950 nur etwa 13 Jahre vor sich gehabt hätten.

Welche Untersuchungsperspektiven ergeben sich daraus für die Zeitgeschichte? Drei Themenkomplexe drängen sich auf, wenn es darum geht, die besondere Entwicklungsdynamik der Alterung im 20. Jahrhundert zu fassen: „Alter im Lebenslauf“, „Partizipation und Repräsentation alter Menschen“ sowie „Alterung als globale gesellschaftliche Herausforderung“.

1.1. Die höhere Wahrscheinlichkeit, alt oder sogar sehr alt werden zu können, drückte sich in der Institutionalisierung des Alters als Phase im Lebenslauf aus. Die demographische Alterung stärkte die in diesem Heft thematisierte Bedeutung der Vorsorge, was sich im Ausbau staatlicher und privater Alterssicherungssysteme ebenso widerspiegelt wie an der eher späten Herausbildung gesundheitlicher Präventionsmaßnahmen.8

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Forscher haben bereits gezeigt, wie solche Strukturen individuelle Lebenszeit strukturierten sowie zur Etablierung des Ruhestands und der Figur des Rentners beitrugen.9 Doch mit einem „goldenen Herbst“ konnten nicht alle Menschen rechnen, schon gar nicht dauerhaft. Mit der Hochaltrigkeit stieg das Risiko von Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit, die umso deutlicher als Negativszenario hervortraten, je mehr das „aktive Alter“ von Medien, Politik und Wissenschaft als Ideal gefeiert wurde (wofür auch das Foto zu Beginn dieses Beitrags ein Beleg ist). In der Bezeichnung vom „dritten“ und „vierten“ Alter wird diese Dichotomisierung deutlich, wobei sich die Frage stellt, welche Interessen mit solchen Konzepten verbunden waren und wie sie auf die soziale Praxis einwirkten. Das positive Altersbild der aktiven und produktiven Senioren entsprach nicht nur der von Gerontologen und Praktikern der Altenhilfe geforderten Integration betagter Menschen, sondern betonte auch deren gesellschaftlichen Nutzen in Zeiten eines zunehmenden sozialpolitischen Kostendrucks.10 Die Disability Studies haben auf das generelle Problem binärer Konzepte und Differenzsemantiken hingewiesen, die Exklusion vorbereiten und Binnendifferenzen innerhalb sozialer Gruppen unterschlagen.11 Mit der Lebensphase des Alters, ins-besondere des „vierten Alters“, rücken Krankheit und Invalidität stärker ins Zentrum der historischen Gesellschaftsanalyse. Betrachtet man die Alten separat, so stellte Behinderung kein Minderheitenphänomen mehr dar. Zum Beispiel lag der Anteil der Behinderten bei den über 65-Jährigen in den USA während der 1970er- und 1980er-Jahre um die 40 Prozent (für die gesamte Bevölkerung bewegte er sich zwischen 12 und 16 Prozent).12 Dies wurde eine Herausforderung für den Wohlfahrtsstaat, führte zu einem Aufgabenzuwachs für die Familie als Sicherungsinstanz und schlug sich in der Entstehung neuer Berufsfelder sowie in der Herausbildung eines Pflegemarkts nieder. Nicht nur die „jungen Alten“ sind eine Konsumentenzielgruppe, sondern auch die Pflegebedürftigen – was die Betreiber privater Pflegeheime ebenso entdeckt haben wie Pharmaunternehmen oder aber Nahrungsmittelhersteller wie HIPP, die in Zeiten des Geburtenrückgangs dank der wachsenden Zahl betagter Kunden Rekordzuwächse verzeichnen.

Die Lebensphase des Alters rückt sodann auch den Tod in den Fokus der Zeitgeschichte, die sich zwar viel mit dem Sterben in Kriegen und Genoziden beschäftigt, die „zivile“ Dimension aber bisher wenig beachtet hat. Patientenverfügungen (in Westdeutschland 1978 eingeführt), Hospizbewegung und rechtliche Regelungen zur „Sterbehilfe“ liefern viel Stoff, um den gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod oder den Formwandel religiöser Praktiken zu untersuchen.

1.2. Partizipation ist schon lange eine Untersuchungsachse der historischen Beschäftigung mit dem Altern. Der Schwerpunkt hat sich dabei verlagert – von Themen wie der Integration durch Sozial- und Gesundheitssysteme bzw. Exklusion aus dem Arbeitsmarkt zur Untersuchung von Mitsprache und Interessenartikulation alter Menschen. Beide Perspektiven gehören zusammen, denn soziale Sicherungssysteme schufen wirksame Solidarisierungskontexte. In diese Richtung wirkte auch das Recht, dessen gesellschaftliche Prägekraft von der Zeitgeschichte meist zu wenig beachtet wird. In relativ neuen Gebieten wie dem Heim- und Betreuungsrecht, ebenso in bereits bestehenden Normensystemen wie dem Miet- und Verkehrsrecht traten alte Menschen als Rechtssubjekte hervor – eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist. Kathrin Brunozzi hat darauf aufmerksam gemacht, dass juristisch vor allem die Gruppe der Hochbetagten an Bedeutung gewann, die sich in Abhängigkeitsverhältnissen befanden und daher Schutz benötigten.13

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Plakat der „Grauen Panther“ aus dem Bundestagswahlkampf 2002. Die Partei erreichte damals nur 0,2 Prozent der Zweitstimmen; auch sonst blieb sie bei Bundestagswahlen stets unter 1 Prozent. Die Partei war erst 1989 aus dem „Senioren-Schutz-Bund Graue Panther“ hervorgegangen, der sich schon seit 1975 als Zusammenschluss lokaler Selbsthilfevereine bei Themen wie Altersarmut und Missständen in Pflegeheimen engagierte.
(Bundesarchiv, Plak 104-PM0975-002)

Das Thema der Partizipation fokussiert indes nicht nur auf die Fremddefinition, sondern auch auf die subjektive Dimension. Die Organisation betagter Menschen in Gruppen, Vereinen und Initiativen ist ein Kennzeichen der Entwicklung im 20. Jahrhundert. Die „Grauen Panther“, kommunale Seniorenbeiräte oder – wenn man über den Atlantik schaut – die 1958 gegründete „American Association of Retired Persons“, eine der mitgliederstärksten und mächtigsten Pressure Groups in den USA, bündelten Bemühungen um Interessenvertretung und Mitsprache. Gleichwohl war hier nur ein kleiner Teil organisiert, zumal sich Alte nicht allein über ihr Alter definierten. Politische Überzeugungen, Einkommens- und Vermögensunterschiede, aber auch Faktoren wie Migrationshintergrund zogen Scheidelinien durch die betagte Bevölkerung.

Wenn Jürgen Kocka vom zivilgesellschaftlichen Engagement der Alten spricht und auf die Funktion des Ehrenamts als Kompensation für entfallene Berufs- und Familienaufgaben hinweist,14 hat er weniger reine Seniorenvereinigungen im Blick als die Beteiligung in altersgemischten Vereinigungen. Hier kann die historische Altersforschung ebenfalls ihr Erkenntnispotential entfalten und die Bedeutung der Alten innerhalb der sozialen Bewegungen herausarbeiten sowie neue Einsichten über Lebenslauf und Engagement liefern. Auch vom „vierten Alter“ gingen zivilgesellschaftliche Effekte aus. Große Charity-Organisationen wie „Age UK“ oder „Carers UK“ sind zentrale Akteure einer „Voluntary Action History“, die in Großbritannien derzeit hoch im Kurs steht.15

1.3. Der Alterungsprozess wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weltweite gesellschaftliche Herausforderung. Dies bietet einen Ansatzpunkt für historische Vergleichsstudien, die sich auf den Pfaden der komparatistischen Wohlfahrtsstaatsforschung bewegen, diese aber entscheidend erweitern, wenn es um Ordnungsvorstellungen, kulturelle Dispositionen von familiären Generationenbeziehungen oder den Wandel von Praktiken der Altenhilfe geht (siehe auch Mayumi Hayashis Beitrag in diesem Heft).16

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Plakat im Rahmen des „International Meeting on Alzheimer's Disease and Related Disorders“ vom September 1985, finanziert von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Alzheimer's Disease International (ADI). Die 1984 gegründete ADI veranstaltet bis heute jährlich eine solche internationale Konferenz.
(National Library of Medicine)

Die Suche nach Transfer und Austausch führt zunächst in den Bereich der Wissenschaftsgeschichte. Nach 1945 waren es nicht zuletzt europäische und internationale Organisationen, die die grenzüberschreitende Ausrichtung der Alterswissenschaften förderten, häufig im Rahmen von Großprojekten mit Survey-Funktion. Der von den Zeitgenossen als ubiquitär wahrgenommene Alterungsprozess beschäftigte also auch zwischenstaatliche Organisationen und bietet daher einen thematischen Fluchtpunkt, um deren Funktionsweise und Einfluss zu untersuchen. Erst kürzlich hat Matthieu Leimgruber offengelegt, dass das Drei-Säulen-Modell als Kombination aus staatlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge, das OECD und Weltbank zur goldenen Lösungsstrategie der vermeintlichen Rentenkrise stilisierten, maßgeblich auf die Agitation privater Versicherungsunternehmer zurückging. Seinen Ursprung hatte das Modell in der Schweiz der frühen 1970er-Jahre. Das Drei-Säulen-Modell fand nur wenige Jahre später auch international Aufmerksamkeit, als private Versicherungsunternehmer Rentenangebote für multinationale Firmen kreierten.17 Eine solche historische Kontextualisierung setzt ein großes Fragezeichen hinter den in der politischen Diskussion häufig als alternativlos dargestellten Umbau zu kombinierten Rentensystemen.

Wenngleich die meisten Entwicklungsländer noch weit von der Alterungsproblematik der Industrieländer entfernt waren, lässt sich spätestens für die Phase „nach dem Boom“ durchaus globalhistorisch argumentieren. Die Privatisierung des Rentensystems in Chile 1981 unter Pinochet, die nicht nur in den Nachbarstaaten Nachahmer fand, sondern auch die Alterssicherungsdebatten in Europa dynamisierte,18 regt dazu an, für die Suche nach Ursachen und Formen von Wandlungsprozessen über den europäischen Tellerrand hinauszublicken. Ein weiteres Beispiel liefert die UNO, die die Rechte alter Menschen als Aufgabengebiet entdeckte und 1982 in Wien mit der „World Assembly on Aging“ die Globalität der Alterungsthematik behauptete. Noch ganz der Modernisierungstheorie verhaftet, erwartete man, dass sich die Alterungsrate auch in solchen Erdteilen rasch erhöhen werde, in denen sie damals noch eher gering war.19 Allerdings befanden sich viele Gesellschaften keineswegs auf dem Entwicklungspfad der Industriestaaten. In Ländern des subsaharischen Afrikas beispielsweise gewannen die Alten eine wichtige Care-Funktion für ihre Enkel, die aber ganz anders gelagert war als die Großelternrolle in Europa. Sie zogen die Waisen groß, die ihre Eltern vor allem durch Aids verloren hatten.20

2. In fremden Werkstätten:
Sozialwissenschaftliche Daten und zeithistorische Alternsforschung
 

Für das Thema Alter und Altern ist die Nähe, teils auch die Konkurrenz der Zeitgeschichte zu den Sozialwissenschaften zentral. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die Gerontologie in den USA und Europa einen enormen Ausbau erlebt. Die Auswertung der von ihr erhobenen Daten und die Auseinandersetzung mit ihren Interpretationen berührt die aktuelle Debatte über Chancen und Schwierigkeiten der Verwendung dieser Informationen durch Zeithistoriker.21 Ich möchte dafür plädieren, nicht nur den Umgang mit Deutungen wie „Wertewandel“, „Risikogesellschaft“ oder „Strukturbruch“ zu erörtern, sondern mehr als bisher auch die Möglichkeiten der „Zweitverwertung“ qualitativer und quantitativer Daten, die die Werkstätten der Soziologen bereithalten.

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Für die Sozialwissenschaftler selbst ist „Re-use“ seit Ende der 1990er-Jahre eine zunehmend praktizierte Forschungsmethode. Erste Studien, die auf älteres Datenmaterial Dritter zurückgriffen, haben gezeigt, dass es notwendig ist, mit der ursprünglichen Frage vertraut zu sein, um diese für neue Kontexte interpretieren zu können.22 Die „Zweitverwertung“ dient also auch einer Historisierung soziologischer Feldforschungen. Eine Auswertung für das seit Jahren wachsende Untersuchungsfeld der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) liegt nahe, doch sollte sich die zeithistorische Forschung nicht darin erschöpfen, herauszuarbeiten, wie Gerontologen das Altern beschrieben und kategorisierten. Die gesammelten Daten geben vielmehr auch Auskunft über tatsächliche Wahrnehmungen und Handlungen alter Menschen; sie erfassen deren ökonomische Lage, Gesundheitszustand, Familienbeziehungen, Wohnsituation, Konsum- und Freizeitverhalten, politische Einstellungen, aber auch Angaben über das Suizidrisiko und Medikamentenverhalten.

Was können wir heute beispielsweise aus Peter Townsends Studie von 1962 zur Situation alter Menschen in Heimen entnehmen? Der Soziologe und Pionier der Gerontologie in Großbritannien interessierte sich damals vor allem für den Zusammenhang von fehlenden Familiennetzen und dem Umzug in ein Heim sowie die dadurch beschleunigte Isolierung und den Verlust von Selbstständigkeit.23 Aus seinen politischen Zielsetzungen machte Townsend keinen Hehl: Er wollte das Fortbestehen von Workhouse-Traditionen im reformierten britischen Sozialstaat nachweisen und der Politik eine wissenschaftlich fundierte Empfehlung geben, ambulante Dienste statt Heime zu fördern. Townsends Altersstudien müssen im Kontext einer zu dieser Zeit politisch und medial unterstützten Besinnung auf vermeintlich traditionelle Familienmodelle gesehen werden. Die Hypothesen und Prämissen des Soziologen bestärkten ein positives Familienbild und blendeten negative Aspekte wie familiären Missbrauch, Überforderung der Pflegepersonen oder mangelnde Professionalität aus.

Allerdings lassen sich die erhaltenen Materialien auch quer zu Townsends Agenda lesen. Die Interviewaufzeichnungen mit Heimbewohnern gewähren Einsichten, die sich der Aufmerksamkeit des Soziologen entzogen – zum Teil auch deswegen, weil sie sich erst in der Retrospektive aufdrängen oder aber nur unter Einbezug anderer Quellenbestände sichtbar werden. Diese Möglichkeit der Kombination und Korrelation verschiedener Informationsbasen zeichnet die Geschichtswissenschaft aus. So beleuchten die Dokumente das Selbstbild alter, gebrechlicher Frauen als Mütter, die Vielfalt oft selbstgestalteter Lebensarrangements, aber auch die Auswirkungen der relativ hohen Mortalität im Kinder-, Jugend- und auch mittleren Alter auf diejenigen, die allein „weiterlebten“ (was erst im Rückblick auffällt, weil sich dies wenige Jahrzehnte später radikal änderte).24 Die Gesprächsaufzeichnungen mit Heimleiterinnen und Heimleitern sowie die Beobachtungsprotokolle aus den Einrichtungen erhellen zudem die Anfänge eines neuen Berufsfelds. Frauen hatten hier früh die Chance, in Leitungspositionen aufzusteigen. Schließlich erfährt man auch einiges über die Angehörigen. Bemerkenswert ist etwa, dass Männer, die statistisch weit weniger oft pflegten und daher weniger im Blickfeld der Forschung stehen, in den Erzählungen alter Menschen prominent vorkommen. Sie waren keine Hauptpflegepersonen, sondern meist nur als Ersatz oder Notfallbesetzung; daher erhielten sie aber umso größere Würdigung.

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Zwar gibt es auch für frühere Epochen bereits Überlieferungen, die alte Menschen als Individuen und Subjekte sichtbar machen. In der Zeitgeschichte jedoch handelt es sich um Massenquellen. Dies ist zugleich ein qualitativer Sprung: Mit der Zunahme ergibt sich auch eine breitere Streuung. Gerade die Repräsentativität als Produktionskriterium der Sozialwissenschaften trägt dazu bei, das Altern Einzelner über Schicht-, Geschlechter- und ethnische Grenzen hinweg untersuchen zu können. Wir erfahren nicht nur etwas über diejenigen, die selbst zur Feder griffen, oder über diejenigen, deren Fälle (meist Konfliktfälle) sich in Gerichts- oder Fürsorgeakten niederschlugen. Dem Zeithistoriker erschließt sich ein viel breiteres, besser durchmischtes Spektrum.

Wenn hier die Spezifik des (zeit)historischen Zugriffs betont wird, dann ist damit keine künstliche Abgrenzung von den Nachbardisziplinen intendiert. Die Auseinandersetzung mit deren Interpretationen und Begriffen ist ebenso selbstverständlich wie der Zugriff auf die von ihnen gesammelten Informationen. So verweist Antje Kampf im Folgenden auf die wichtigen Impulse soziologischer und kulturanthropologischer Studien, argumentiert aber für die Originalität der Medizingeschichte, die Alter, Geschlecht und Körper als Untersuchungsachsen verknüpfen kann. Mayumi Hayashi führt uns auf das Terrain eines Vergleichs, der den Umgang mit der Alterung in zwei sehr unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatskulturen thematisiert: die Unterbringung und Versorgung von Alten in britischen und japanischen Heimen. Hayashi integriert die gegenseitige Beobachtung der beiden Länder und betont die „case specifity“ als Stärke der Geschichtswissenschaft. Beide Autorinnen plädieren folglich für eine Zeitgeschichte, die sich der Langzeitentwicklungen bewusst ist.

Das Thema Alter(n) ist hochaktuell. Es begegnet uns in Form politischer Debatten um den Ausbau von Heimstrukturen oder die Ausbildung von Pflegekräften – sowie nicht zuletzt im Kino und Fernsehen, wo Sexualität und Krankheit im Alter den Stoff für Spielfilme liefern. Die Nähe zum Untersuchungsgegenstand ist der Zeitgeschichte eigen, ebenso die Aufgabe, sich von politischen und moralischen Fragen zu lösen, ohne diese zu ignorieren. Den Wert und die möglichen Wege des zeithistorischen Zugangs zu diskutieren ist ein Ansinnen der vorliegenden Beiträge – in der Hoffnung, damit weitere Forschungen und Debatten anzuregen.

Anmerkungen: 

1 George Minois, Histoire de la vieillesse en Occident: de l’Antiquité à la Renaissance, Paris 1987; Peter Borscheid, Geschichte des Alters, 16.–18. Jahrhundert, München 1987; Josef Ehmer, Sozialgeschichte des Alters, Frankfurt a.M. 1990; Pat Thane, Old Age in English History. Past Experiences, Present Issues, Oxford 2000.

2 Für die verschiedenen Zugänge der historischen Altersforschung vgl. Pat Thane, Social Histories of Old Age and Aging, in: Journal of Social History 37 (2003), S. 93-111; Bettina Blessing, Die Geschichte des Alters in der Moderne: Stand der deutschen Forschung, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2010), S. 123-150.

3 Josef Ehmer, Altersstrukturen im historischen Wandel. Demographische Trends und gesellschaftliche Bewertung, in: Brigitte Röder/Willemijn de Jong/Kurt W. Alt (Hg.), Alter(n) anders denken. Kulturelle und biologische Perspektiven, Köln 2012, S. 403-436, hier S. 407-415.

4 Zur Dekonstruktion des „gerontological golden age“ vgl. W. Andrew Achenbaum, Further Perspectives on Modernization and Aging. A (P)review of the Historical Literature, in: Social Science History 6 (1982), S. 347-368, hier S. 354.

5 Der vorliegende Beitrag entstand während eines Aufenthalts an der University of Nottingham, der durch ein Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert wurde.

6 Jérôme Bourdieu/Lionel Kesztenbaum, Surviving Old Age in an Ageing World. Old People in France, 1820–1940, in: Population 62 (2007), S. 183-211, hier S. 189.

7 Zu den Daten über die Lebenserwartung vgl. „The Human Mortality Database“ der University of Berkeley und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock: <http://www.mortality.org>.

8 Die Interessen der privaten Versicherer sind erst jüngst untersucht worden: Matthieu Leimgruber, Solidarity without the State? Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, 1890–2000, Cambridge 2008; Hans Günter Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente. Über den Einzug der Demografie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: ders./Ulrich Becker/Klaus Tenfelde (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 257-286.

9 Etwa Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994.

10 Silke van Dyk u.a., Die „Aufwertung“ des Alters. Eine gesellschaftliche Farce, in: Mittelweg 36 19 (2010) H. 5, S. 15-33.

11 Margit Shildrick, Critical Disability Studies. Rethinking the Conventions for the Age of Postmodernity, in: Nick Watson/Alan Roulstone/Carol Thomas (Hg.), Routledge Handbook of Dis-ability Studies, London 2012, S. 32-41.

12 H. Stephen Kaye u.a., Disability Statistics Abstract No. 17: Trends in Disability Rates in the United States, 1970–1994, November 1996, URL: <http://mn.gov/mnddc/parallels2/pdf/90s/96/96-DSA-DSC.pdf>.

13 Kathrin Brunozzi, Das Vierte Alter im Recht, Frankfurt a.M. 2012.

14 Jürgen Kocka, Chancen und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, in: Ursula M. Staudinger/Heinz Häfner (Hg.), Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin 2008, S. 217-236.

15 Einblicke in die gegenwärtige Forschung gibt die Website der Voluntary Action History Society: <http://www.vahs.org.uk>.

16 Außerdem etwa Cornelius Torp, Gerechtigkeitsprinzipien in der Konstruktion sozialer Sicherung, in: Hans Günter Hockerts/Winfried Süß (Hg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010, S. 117-137. Torp schreibt an einer Habilitation zu diesem Feld („Inequality and Social Justice. Old Age in the British and German Welfare States since 1945“).

17 Matthieu Leimgruber, The Historical Roots of a Diffusion Process: The Three-Pillar Doctrine and European Pension Debates (1972–1994), in: Global Social Policy 12 (2012), S. 24-44.

18 Sarah M. Brooks, Interdependent and Domestic Foundations of Policy Change: The Diffusion of Pension Privatization around the World, in: International Studies Quarterly 49 (2005), S. 273-294, hier S. 276f.

19 William E. Oriol/The National Council on the Aging, Aging in All Nations. A Special Report on The United Nations World Assembly on Aging, Washington 1982, S. 16-21.

20 Erick O. Nyambedha/Simiyu Wandibba/Jens Aagaard-Hansen, „Retirement Lost“. The New Role of the Elderly as Caretakers for Orphans in Western Kenya, in: Journal of Cross-Cultural Gerontology 18 (2003), S. 33-52, hier S. 39.

21 Diese Debatte wurde u.a. angeregt durch Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3., unveränd. Aufl. Göttingen 2012, S. 75f.

22 Vgl. Mike Savage, Identities and Social Change in Britain since 1940: The Politics of Method, Oxford 2011.

23 Peter Townsend, The Last Refuge. A Survey of Residential Institutions and Homes for the Aged in England and Wales, London 1962; zuvor bereits ders., The Family Life of Old People. An Inquiry in East London, London 1957.

24 Interview mit May P., 1958, UK Data Archive 4750; Interview mit Johanna S., 1958, ebd. Die Materialien der beiden Altersstudien Townsends sind im National Social Policy and Social Change Archive aufbewahrt. Mittlerweile werden sie z.T. auch digital vom UK Data Archive zur Verfügung gestellt. Diese vom Economic & Social Research Council finanzierte Einrichtung bereitet seit 1967 Daten soziologischer und humanwissenschaftlicher Studien für „Zweitverwertungen“ auf.

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