Antiliberale Europäisierung?

Autoritäre Europakonzeptionen im Polen der Zwischenkriegszeit

Anmerkungen

Kaum hatten die Geburtswehen der jungen polnischen Republik, ausgelöst durch den Schock des Ersten Weltkriegs, nachgelassen und das so lange ersehnte Kind das Licht der Welt erblickt, begannen die vielen Hebammen nach der passenden politischen Familie für das Kind zu suchen. Denn die vielen Fehlgeburten des 19. Jahrhunderts hinterließen politisch und wirtschaftlich sehr unklare Familienverhältnisse, in denen sich eigentlich nur Abgrenzungen scharf konturierten und der Wunsch geäußert wurde, das Kind im Alleingang großziehen zu wollen – ohne Einmischung der vielen Verwandten. Dass es bald groß und stark sein sollte, ergab sich aus dem elterlichen Bedürfnis, die bislang verpassten Entwicklungsmöglichkeiten wiedergutzumachen.

Und noch eine metaphorische Bemerkung: Die meisten Geburtshelfer waren sich einig, auf seine Großmutter1 Europa dürfe das Kind nicht verzichten, denn nur in ihrem (Europas) Schoß ließen sich die Zukunftspläne realisieren. Somit waren die meisten Entwürfe außenpolitischer Situierung Polens sehr stark europäisch verankert.2 Allerdings bedarf diese europäische Ausrichtung polnischer Pläne einer gehörigen Portion an ideen- und erfahrungsgeschichtlicher Präzisierung. Den polnischen Konzepten eines föderierten oder konföderierten Europa lag ein anderes, zu westeuropäischen Entwürfen vielleicht in mancher Hinsicht komplementäres, auf jeden Fall in der eigenen Geschichte verankertes und durch sie tradiertes Verständnis eines europäischen Zusammenschlusses zugrunde.

Dazu passt der Einstiegssatz im programmatischen Beitrag von Borodziej, Brzostek und Górny im ersten Band einer Publikation deutscher, polnischer und ungarischer Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts: „Das polnische politische Denken entwickelte sich im 19. Jahrhundert unter ganz spezifischen Bedingungen.“3 Diese Aussage bezieht sich gewissermaßen als Entschuldigung darauf, dass Pläne europäischer Föderation(en) aus der Feder polnischer Autoren seit dem 19. Jahrhundert nicht die erwarteten und in den konstruierten Narrativen vertretenen offenen, weit gen Europa blickenden Würfe waren, sondern sich eher bescheiden, konservativ, ja rückständig auf Positionen zurückzogen, die als Ziel europäischer Vereinigungsbestrebungen den Wiederaufbau eigenständiger polnischer Staatlichkeit mit Bewahrung der Rechte der polnischen Nation definierten. Utopisch seien die Entwürfe für ein neues föderatives Polen und ein neues föderiertes Europa gewesen – fern jeglicher Realität. Sie hätten eher „im Bereich des Phantastischen“ gelegen und die „Frage nach der künftigen Verfassung und dem Verhältnis zu anderen europäischen Nationen […] beiläufig“ thematisiert.4 Die Autoren des Aufsatzes lenken ihren Blick dann in erster Linie auf die „positiven“, proeuropäischen Stimmen polnischer Teilnehmer dieses Diskurses: auf die panslawischen Motive des polnischen Föderationsgedankens, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend von Adam Czartoryski stammten, dem Außenminister im Kabinett des Zaren Alexander I.; auf die wiedererweckte mittelalterliche Idee der multinationalen Jagiellonischen Union; auf den Gedanken des föderalen Intermare, der in der Zwischenkriegszeit eine ideelle Fortsetzung der Jagiellonischen Idee war – eines Vielvölkerstaats unter polnischer Führung, der von der Ostsee zum Schwarzen Meer reichen sollte. Mit diesen drei Begriffen umschreiben die Autoren der genannten Publikation (Vor-)Formen einer europäischen Integration, die zwar in ihrem Kern Nationskonzepte waren, trotzdem aber als Entwürfe einer ostmitteleuropäischen Föderation interpretiert werden können. Im Gegensatz dazu war die so genannte Piasten-Idee ein Konzept eines starken und einheitlichen polnischen Staats, der sich hauptsächlich durch antideutsche Ressentiments definierte und kaum als ein europäischer Entwurf bezeichnet werden kann. Auf die Person Bolesław Chrobrys, des ersten polnischen Königs aus der Piastendynastie, berief sich in der Zwischenkriegszeit der führende polnische Nationaldemokrat Roman Dmowski.5

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Wollen wir aber die Europapläne aus einer anderen Perspektive werten, sie gegen den Strich bürsten, so fällt ein antiliberaler, antidemokratischer, ja autoritärer Strang auf. Sucht man im Gedankengut polnischer Politiker und kulturpolitischer Publizisten der Zwischenkriegszeit nach Europakonzeptionen, wird man mit einem ungewöhnlichen und aus der westeuropäischen Perspektive nicht immer verständlichen Spagat konfrontiert. Denn es bestand nicht nur eine enge Verbindung zwischen den sich am politischen Diskurs beteiligenden Intellektuellen und den aktiven Politikern,6 die alle mehr oder weniger aus denselben gesellschaftlichen Milieus kamen oder die Zugehörigkeit zu diesen anstrebten. Beide Gruppen (die Intellektuellen und die politischen Aktivisten) waren aufeinander angewiesen; sie befanden sich in einem ständigen Prozess der Beobachtung und der Konfrontation – eine Art konstante Selbstevaluation. Die polnische Europadiskussion in der Zwischenkriegszeit war ein innenpolitisches Gespräch, das nach außen in Form einer Botschaft verkündet wurde. Deren Kern war die Souveränität des polnischen Staats als conditio sine qua non aller Diplomatie und sonstiger politischer Handlungen (Kriegführung eingeschlossen).

Diese Erkenntnis muss man als Arbeitshypothese für den vorliegenden Beitrag festhalten: Die Basis aller politischen, ethnischen und kulturellen Überlegungen im Polen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erfahrung der verlorenen Staatlichkeit im 18. Jahrhundert, verbunden mit der Tradition des Kampfes um ihre Wiedergewinnung im 19. Jahrhundert. Dies wurde zu einem stets präsenten Argument, das unterschiedliche (manchmal widersprüchliche) Lösungsvorschläge begleitete, wie sich der polnische Staat mit all seinen – wiederum aus historischen Gründen für legitim gehaltenen7 – Ambitionen und Führungsansprüchen in einem Europa zu positionieren habe, das sich mittlerweile von den liberalen Vorstellungen entfernte, die im historischen Narrativ des 19. Jahrhunderts stark präsent gewesen waren.

Es gab grundsätzlich zwei Optionen, die den politischen Diskurs nicht nur in außenpolitischen, europäischen Fragen bestimmten, sondern auch in der Innenpolitik: den Blick nach Westen und den Blick nach Osten – beide vertreten von national und parteipolitisch anerkannten, starken Persönlichkeiten, denen man nachsagt, dass sie neben der politischen Konkurrenz zugleich privat miteinander rivalisierten.8 Die beiden Optionen werden im Folgenden anhand der politischen Ansichten und Aktivitäten dieser zwei einflussreichen Persönlichkeiten der polnischen Politik in der Zwischenkriegszeit vorgestellt: Roman Dmowski (1864–1939), Wortführer der polnischen Nationaldemokraten, und Józef Piłsudski (1867–1935), Staatschef des unabhängigen Polens (1918–1923), Marschall der Zweiten Polnischen Republik und Anführer des Maiputsches 1926.

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1. Roman Dmowski – ein Nationaler, den man im Westen nicht verstand
 

Man hatte Dmowski des „Imperialismus“ bezichtigt, und der spätere polnische Außenminister Konstanty Skirmut (in den Jahren 1921/22) musste sich sehr bemühen, um den auf der Pariser Konferenz 1919 entstandenen Eindruck einer national-politischen Arroganz zu korrigieren.9 Es erstaunt allerdings nicht, dass ihm das kaum gelang, denn die Position Dmowskis war im Westen schwer vermittelbar. Aus heutiger Perspektive erscheint seine sich sehr stark gegen die deutsche Hegemonie in Europa richtende und eine Zusammenarbeit mit (dem zaristischen) Russland avisierende Konzeption einer europäischen Anbindung Polens an den Westen in zweifacher Hinsicht problematisch.

Zum einen wurden Dmowskis Pläne schon damals in Polen von vielen Seiten kritisiert. Die Vertreter aller politischen Kräfte – von links nach rechts – stellten sich vor allem gegen die polarisierende Person Dmowski als Verhandlungsführer in Paris, nicht zuletzt aufgrund seiner kompromisslosen antisemitischen Haltung.10 Nachdem sich Dmowski die britischen und später auch noch die amerikanischen Sympathien verscherzt hatte (ganz zu schweigen von den französischen11), erlegten die Westmächte Polen einen Minderheitenschutzvertrag auf und brüskierten die Nationaldemokraten mit Territorialvorschlägen bezüglich der Grenzen in Westeuropa, indem sie nicht auf den polnischen Vorschlag der Verkleinerung Deutschlands und territorialen Stärkung Polens eingingen.

Zum anderen war die genannte Konzeption einseitig pro-westlich. Es ist eine absolute Fehleinschätzung Dmowskis gewesen, dass Frankreich, Großbritannien und die USA seiner Idee der radikalen „Entmachtung“ Deutschlands zustimmen würden.12 Der Entwurf basierte auf der Annahme, dass die Westmächte (in erster Linie Frankreich und die Vereinigten Staaten) die polnischen Territorialvorstellungen im Osten akzeptieren und darüber hinaus Dmowskis Ideen einer Neugestaltung des polnischen Staats als nationaler Einheit anerkennen würden. Dass diese Annahme falsch war, machte die Folgen der pro-westlichen Haltung für Dmowski noch schmerzlicher,13 denn spätestens während des polnisch-sowjetischen Kriegs (1920) musste seine Absicht, als Garant der internationalen Friedensordnung gelten zu wollen, dem Westen schmackhaft gemacht werden. Dies gelang dem Anführer der polnischen Nationaldemokratie nicht. Im Klartext heißt das wiederum, dass der im Westen verschmähte und in Polen selbst aus diesem Grund politisch nur schwer akzeptable Dmowski seine in Paris so vehement vertretenen Grenzvorschläge im Osten paradoxerweise durchsetzen konnte, allerdings auf Kosten seiner zweiten – womöglich für ihn viel wichtigeren – Idee der nationalstaatlichen Einheit.

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Die Gestaltung der polnischen Ostgrenze ergab sich auch nicht aus der Befürwortung der Vorschläge Dmowskis, sondern vielmehr aus der Tatsache, dass die Westmächte (in erster Linie Frankreich) Russland als Gegenpol zu Deutschland nicht schwächen wollten.14 Es folgte zudem nicht die von Dmowski geforderte (auch im Inland umstrittene) „Inkorporation“ der weißrussischen und ukrainischen Gebiete, deren Bevölkerung im Einklang mit Dmowskis Idee des national einheitlichen polnischen Staats polonisiert werden sollte. Die Idee einer Föderation mit den Partnern der alten Rzeczpospolita (polnische Adelsrepublik 1569 bis 1795) lehnte er ab. Die Begründung dafür findet sich in seinem programmatischen Text „Kwestia polska i przebudowa środkowej Europy“ („Polen und der Umbau Mitteleuropas“) aus den frühen 1920er-Jahren. Dort formulierte Dmowski ausführlich seinen Plan einer Neuordnung Europas. Dieser zielte dezidiert auf die Bildung nationaler, ethnisch einheitlicher Staaten. So plädierte Dmowski für die Teilung der K.u.K.-Monarchie und die Gründung eines ungarischen Staats – allerdings auf das ethnische magyarische Gebiet eingegrenzt. Weiter schlug er einen tschechisch-slowakischen Staat vor – gleichwohl unter tschechischer Hegemonie (hier nach dem Vorbild der polnisch-litauischen Union, mit einem politisch beschränkten Selbstbestimmungsrecht des kleineren Partners: der Slowakei bzw. Litauens). Die verbleibenden Gebiete der Habsburgermonarchie wollte er unter Polen, Rumänien, Serbien, Italien und auch Deutschland verteilt sehen. Diesen letztgenannten Staat hätte Dmowski gern nach Südwesten verlagert. Vergrößert um kernösterreichische Territorien (Nieder- und Oberösterreich, Tirol, Steiermark und Kärnten), sollte Deutschland von Elsass und Lothringen im Westen, von Schleswig im Norden wie auch von Oberschlesien, Großpolen, West- und Ostpreußen sowie Pommern mit der Kaschubei im Osten abgekoppelt werden. Der Aufbau eines unabhängigen polnischen Staats müsse vor allem auf dem Gebiet der vereinigten – durch die Teilungen zerrissenen – polnischen Territorien geschehen. Dazu gehörten alle von Russland abgetrennten Gebiete (Dmowski schlug keine endgültige Grenzziehung vor), Galizien und das Teschener Schlesien im Süden, im Westen alle Gebiete östlich der neuen deutschen Grenze – also im Groben das alte preußische Teilungsgebiet. Im Nordosten sollte sich Ostpreußen mit Königsberg als Königsberger Republik mit Polen zu einer Zollunion zusammenschließen. Das katholische Ermland, das Memelland und das Tilsiter Weichbild würden ebenfalls Polen zufallen.15

Dmowski glaubte, dass sein Konzept in erster Linie von kleinen Nationen unterstützt würde. Tschechen (oder wie er schrieb: Tschechoslowaken) wollte er auf seiner Seite sehen. Dabei war ihm klar, dass weder Tomáš Masaryk noch Edvard Beneš einem Anschluss Teschens an Polen zugestimmt hätten. Hier setzte er ganz geschickt auf einen latenten Konflikt zwischen Tschechen und Slowaken. Die polnisch-tschechischen Animositäten, das Erbe einer semikolonialen Debatte aus dem 19. Jahrhundert, erlaubten keine wirkliche politische Annäherung. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass sich dieses polnisch-tschechische Misstrauen – da es weder diplomatisch noch publizistisch je ausdiskutiert worden war – über die Zeit des Völkerbunds und der tschechischen Besetzung des Olsagebiets 1919, über die polnische Annexion dieser Territorien 1938 und über die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg hinweg hielt. Dies zeigte sich sowohl bei den Gesprächen über die polnisch-tschechoslowakische Konföderation in den 1930er- und 1940er-Jahren16 wie auch bei der Politik der kommunistischen Regierung Polens im schicksalhaften Jahr 1968.

Weitere Unterstützung erhoffte sich Dmowski für sein Konzept von den Jugoslawen (dabei meinte er hauptsächlich die Serben), Italienern und Rumänen.17 Sein Vorschlag war zwar nach Westen orientiert, ergab sich jedoch mitnichten aus pro-westlichen und demokratischen Ansichten: Für die Innenpolitik vertrat Dmowski eine antidemokratische Haltung, für die Außenpolitik einen hegemonialen Anspruch Polens. Dieses Konzept einer Neuordnung Europas lässt sich in die Struktur der liberalen bzw. antiliberalen Europa-Entwürfe nur schwer einordnen. Es ist hermetisch und liegt außerhalb von Gedanken der Protagonisten eines Mittel- oder Paneuropa. Dmowski bezog sich geographisch auf dasselbe Gebiet wie früher Naumann und später Coudenhove, stellte jedoch nicht das europäische, sondern das nationalpolnische Interesse in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.

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Dmowskis Entwurf einer mitteleuropäischen Föderation speiste sich – im Gegensatz zu den Entwürfen westlicher Autoren – aus zwei Ideen: Erstens ging es um eine neue territoriale Gestaltung Europas, die die Entstehung eines starken Deutschland verhindern sollte. Stattdessen wollte er zweitens den kleineren Partnern einer osteuropäischen Föderation die Hegemonie eines starken polnischen Staats oktroyieren. Hier berief er sich auf die besondere Rolle Polens als antemurale.18 In den abschließenden Formulierungen seines Manifests „Kwestia Polska“ bedauerte Dmowski, dass das Schicksal der Nation ungnädig gewesen sei. Die Schuld daran trügen die Polen selbst, da es ihnen nicht gelungen sei, die Gunst des europäischen Kriegs für sich auszunützen.

2. Jozef Piłsudski – ein Nationaler, der nach Osten wollte
 

Mit Polen als antemurale konnte Piłsudski nichts anfangen. Eine Instrumentalisierung im Sinn der Westmächte lehnte er ab, ebenso wie die polnischen Sozialisten.19 Allerdings war er nicht ganz abgeneigt, Polen eine Vermittlerrolle in Mittel- und Osteuropa zuzusprechen. Wenn er über Polen als Vormauer des Westens sprach, dann im Zusammenhang mit einer mission civilisatrice im Osten.20 Dass sich seine Ansichten in manchen Punkten mit denen der polnischen Sozialisten trafen, war eher Zufall oder – wie in den frühen Jahren – politisches Kalkül. Wenn ihm die Richtung seiner Mitstreiter nicht passte, änderte er den Kurs.21

Seine Stärke verdankte Piłsudski seinem Einsatz auf dem Kriegsfeld: als Unabhängigkeitskämpfer, Soldat und oberster Befehlshaber der polnischen Streitkräfte. Darauf baute auch seine Legende: der starke Mann, in einer grauen Uniform der von ihm gegründeten polnischen Schützenregimente, auf seinem Pferd mit einem Säbel aus Stahl in den Kampf ziehend, der ewige Kommandant.22 Dieses Bild wurde von den Kommunisten in der Volksrepublik Polen zum Vergessen verurteilt, blieb im kollektiven Gedächtnis jedoch präsent. Dass sich hinter der legendären Fassade ein Vollblutpolitiker verbarg, der konsequent für seine politischen Ziele eintrat, drang zu seinen Landsleuten nie richtig durch.

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Piłsudskis Konzept einer neuen Gestaltung Ostmitteleuropas beruhte auf seiner Erfahrung mit den Teilungsmächten, vor allem mit dem zaristischen Russland. Der Sieg der Bolschewiki im Jahre 1917 änderte nichts an der Grundlage seiner Einschätzung.23 Russland – ganz gleich in welcher politischen Ausrichtung – bleibe für Polen eine Konkurrenz. Es vertrete nach wie vor eine Machtposition, bilde somit auch eine reale Bedrohung.24

In seinem Entwurf eines neuen Polen wollte Piłsudski vor allem die Wiederherstellung (wenn nicht eine Erweiterung) der Grenzen aus der Zeit vor den Teilungen erreichen. Wohlgemerkt: in einem Entwurf, in dem grundsätzlich die politischen Interessen des polnischen Staats Vorrang haben sollten. Denn Piłsudski war kein überzeugter Anhänger föderaler Strukturen. Sein „föderales“ Projekt, das Ignacy Paderewski in Paris 1919 dargestellt hatte und seitdem förderte, unterstützte er selbst kaum.25 Auch die von seinen Mitarbeitern forcierten Ideen der polnisch-litauischen Union und des Intermare verstand Piłsudski lediglich als Mittel zur Stärkung des unabhängigen polnischen Staats. Emotional mochte er an der Vorstellung hängen, dass Polen und Litauen in einer Union zueinander finden sollten.26 Realpolitisch – sollten die Litauer mit der ihnen vorgeschlagenen rein kulturellen Autonomie nicht einverstanden sein – vertrat er eher die Meinung, dass man den vermeintlichen Bruder dazu zwingen müsse.27

Sein Vorschlag, den er auch militärisch durchzusetzen bereit war, sollte den Litauern, Weißrussen und Ukrainern eine Option auf eine Föderation mit Polen bieten, allerdings wiederum unter restriktiven politischen Bedingungen. Die neuen „Pufferstaaten“ sollten ihre kulturelle Autonomie behalten; politisch jedoch würden sie immer von Polen abhängig bleiben. Als Gegenleistung – so die Vorstellung aus dem Kreis der Piłsudski-Anhänger – wären sie vor Russland geschützt.28

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War die polnisch-litauische Union mit den Anrainer-Staaten Weißrussland und Ukraine eine Option auf Wiedergeburt des Jagiellonischen Reichs, sollte die Idee des Intermare eine Erweiterung dieses Gedankens bilden.29 Als Taufpate fungierte Witold Kamieniecki, ein polnischer Historiker, Diplomat, Senator in der Zweiten Republik, Professor der Warschauer Universität. Er war vor allem ein Kenner der historischen Verhältnisse in Litauen und Chef des föderalistischen Litauischen Komitees (1917/18).30

Das Intermare sollte sich von Skandinavien über die baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer erstrecken: ein mächtiges Unternehmen, das zwischen Russland und Deutschland eine Föderation der unabhängigen slawischen Staaten bilden und sie für Frieden und Sicherheit des Kontinents garantieren lassen sollte. Die Rolle des Begründers und Schutzherrn dieses Staatenbunds sollte Polen übernehmen.31 Das Ziel eines Schutzwalls zwischen Deutschland und Russland war unabhängig von der ideologischen Zugehörigkeit ihrer Befürworter eine idée fixe der polnischen Politik. Es wurde mit gleichem Hochdruck sowohl von Wincenty Lutosławski verfolgt, einem Philosophen mit nationaldemokratischer, messianistischer Orientierung,32 als auch vom Sozialis-ten Mieczysław Niedziałkowski. Da sich letzterer allerdings bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs für die Gründung eines Bundesstaats mit parlamentarischer Ordnung aussprach,33 kam es zum politischen Bruch mit Piłsudski. Obwohl die Sozialisten Piłsudskis Politik der Abwehr der bolschewistischen Gefahr 1919/20 unterstützten – und für diesen Zweck sogar die Einschränkung parlamentarischer Vertretungen in der „Litauisch-Polnisch-Ruthenischen Republik“ (Bolesław Limanowski) in Kauf nahmen34 –, konnten sie nicht akzeptieren, dass sich das Konzept der Union mit östlichen Staaten auf einer antidemokratischen Grundlage entwickelte.35

Auf ein weiteres großes Handicap des Projekts Intermare, das aber zugleich insgesamt ein Problem der Föderations- oder Zusammenschlussideen in Bezug auf Osteuropa (Weißrussland und die Ukraine) blieb, verwies ein Paneuropa-Anhänger, Aleksander Lednicki. Die Schöpfer des Großraumgedankens polnischer Prägung vergaßen gern, was Polen von den Völkern in den östlichen Gebieten der Adelsrepublik (1569 bis 1795) trennte, nämlich die Konfession. Die Orthodoxen würden – so Lednicki – Russland immer als einen geborenen Partner betrachten. Polen solle eher in Litauen und Lettland Verbündete suchen, die, militärisch mit Zusagen der Häfen an der Ostsee gelockt, zuverlässige Bundesgenossen sein könnten.36

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Dass Polen und Litauen die Bewältigung der – aus polnischer Sicht ruhmreichen, nach litauischer Auffassung kolonialen – Vergangenheit erst bevorstehe, hat die polnische Politik der Zwischenkriegszeit in Anbetracht ihrer Vereinigungspläne gern übersehen. Im Streit um Wilna vertrat Piłsudski keine klare Position. Auf der einen Seite betonte er die Freiwilligkeit der polnisch-litauischen Union, andererseits distanzierte er sich mitnichten von der Besetzung der Stadt durch den General Lucjan Żelichowski im Jahr 1920. Bis heute hält sich in der polnischen Geschichtsschreibung die Mär einer angeblichen „Meuterei“ des Generals, der gegen den Willen des Kommandanten in Wilna einmarschiert sei und die Stadt für Polen besetzt habe. Dass dies auch für die Grenzziehung im Osten eine völkerrechtliche Relevanz hatte, versuchte man – vor allem in den zeitgenössischen Presseartikeln – mit autoritärer Rhetorik zu verharmlosen.37 Polen hatte zwar Wilna und das so genannte Mittellitauen in seinen Staatsgrenzen, die Konzeption einer Union war aber endgültig vom Tisch. Erst 1938 nahmen Polen und Litauen erneut diplomatische Beziehungen auf. Eine ähnlich gescheiterte Geschichte erlebte die polnisch-ukrainische Föderation. Das Spiel mit den nationalen Interessen nahm in dieser Region eine noch tragischere Wendung.38

Im polnisch-sowjetischen Krieg 1920 wurde erneut der Topos antemurale auf den Plan gerufen. Die Rolle Polens als Vormauer gegen „tataro-byzantinische“ Sitten der bolschewistischen Truppen war das Leitthema in der polnischen Publizistik dieser Zeit.39 Man rief zu einem Verteidigungsbündnis der „neuen Völker“ gegen die sowjetische Bedrohung auf.40 Die Formulierungen in den Texten sagen einiges über das Verständnis der Aufgabe, vor die sich die Politik gestellt sah. Polen müsse „als größter Staat der Region und als Träger der jagiellonischen Tradition“ das Zentrum eines Bündnisses bilden, das „Litauen, Ruthenien, Weißrussland, Serbien, Rumänien, Finnland und die Tschechoslowakei“ umfassen werde. „Nur in dieser Föderation sei die politische Freiheit der Völker gewährleistet. Die Teilnehmer müssten das anerkennen, auch wenn es deutsche Intrigen gebe, die das Ziel hätten, in den genannten Völkern den ‚Geist des Separatismus‘ zu wecken. Ungarn und Bulgarien, die ‚sich schwer versündigt hätten‘ wegen ihrer Allianz mit Deutschland, müssten wie die Südstaaten der USA nach dem Sezessionskrieg behandelt: d.h. zeitweise okkupiert werden.“41 Man schrieb das Jahr 1920, und trotzdem galt das antemurale nicht nur als Schutzmauer gegen die „Tataren“ aus dem Osten, sondern auch gegen die „Germanen“ aus dem Westen. Dieses Verständnis des Topos entwickelte sich im 19. Jahrhundert als Folge der massiven Germanisierungs- und Russifizierungsmaßnahmen in den polnischen Teilungsgebieten, gegen die sich die Polen mit dem vollen Einsatz ihrer Literatur, ihrer Kunst und ihres Glaubens zur Wehr setzten.42

Mit dem Frieden von Riga (1921) glaubten die meisten Politiker in Polen – unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit –, ein Ende des Konflikts mit der Sowjetunion herbeigeführt zu haben.43 Diese Schlussfolgerung war für Piłsudski trügerisch. Er misstraute schon allein dem Konstrukt eines Friedens zwischen der Sowjetunion und dem bürgerlichen Polen, denn ein solcher habe nach sowjetischer Auffassung nur ein revolutionärer Friede sein können, d.h. die Bereitschaft der Sowjets zum Gegenangriff bleibe latent vorhanden.44 Piłsudski war müde und offensichtlich des ganzen Gerangels um Posten und Machtverhältnisse in der Politik überdrüssig. 1925 äußerte er sich gegenüber seinem Vertrauten, dem späteren General Janusz Głuchowski: „Ihr werdet dieses Polen nicht halten können. Dieses Unwetter, das aufkommt, ist zu stark. Das heutige Polen ist nur in einem besonderen, goldenen Zeitalter fähig zu leben. […] Ich habe mein Leben verspielt. Es ist mir nicht gelungen, eine Föderation ins Leben zu rufen, die die Welt achten würde.“45

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Sein doppeltes Ziel, stabile Grenzverhältnisse im Osten und eine ernsthafte Wahrnehmung im Westen, erreichte Piłsudski nur partiell. Der Entwurf eines Staatenblocks, mit dem Polen in Osteuropa seinen Hegemonialanspruch geltend machen könne, wurde von den Nachbarländern abgelehnt. Das Programm der Erneuerung des politischen Lebens in Polen besaß zudem einen dezidiert antidemokratischen Charakter. Die eingeführte Militärdiktatur gewann faschistoide Züge.

Das Projekt Intermare fand – trotz intensiver diplomatischer Anstrengungen – keine Unterstützer auf dem diplomatischen Parkett. Dafür war es zu sehr polnisch zentriert und zu martialisch in der beabsichtigten Durchführung. Der Plan ließ sich – ähnlich wie die Ideen Dmowskis – mit den Bemühungen der Tschechoslowakei um den Vorrang in der Region nicht vereinbaren. Die tschechische Diplomatie hatte in Gestalt der Kleinen Entente, ihres Bündnisses mit Jugoslawien und Rumänien, mächtigere Gönner. Piłsudski zog sich zurück und überließ bis zum Maiputsch 1926 anderen den Einfluss auf das politische Geschehen.

Die Pläne eines osteuropäischen Zusammenschlusses unter polnischer Führung, die Piłsudski verfolgt hatte, waren strukturell analog zum deutschen „Mitteleuropa“, allerdings inhaltlich als eine für die Souveränität des polnischen Staats zwingende politische Alternative gedacht. Sie richteten sich nicht zwangsläufig gegen den Westen (primär gegen Deutschland), sondern verfolgten das Konzept eines durch den territorialen Zugewinn im Osten gestärkten Gegengewichts zu „Mitteleuropa“.

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3. Die bestrafte Autarkie – der Maiputsch 1926 und das geerbte Großmachtdenken in den 1930er-Jahren
 

Im Mai 1926 war Piłsudskis Geduld am Ende.46 Der Schein einer neu eingesetzten Regierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Putsch antidemokratische Züge hatte und Piłsudski mit seinem „Sanacja“-Programm, das eine politische Erneuerung des Staats anstrebte, die politische Opposition ausschalten wollte. Innenpolitisch gipfelten die Repressalien 1930 in der Festnahme oppositioneller Politiker und dem anschließenden, vom Oktober 1931 bis Januar 1932 inszenierten Prozess.47

Dass die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Piłsudski 1926 nicht zur Fortsetzung der Föderationspolitik unter seiner Ägide führte, erklärt sich durch den ausgeprägten Realitätssinn des Kommandanten. Bereits im Februar 1926 hatte Piłsudski in einer ihm politisch nahestehenden Zeitschrift seine Befürchtung geäußert, die unabhängige Existenz der Zweiten Republik könne ein schnelles Ende nehmen, und niemand auf der internationalen Ebene werde sich darum kümmern.48 Die Publizistik und die Diplomatie griffen in die alte Argumentationskiste und waren erneut bemüht, die Stärke und die Souveränität des polnischen Staats zu reklamieren. Als Gegengewicht zu den anschwellenden Nationalismen in Europa versuchte Witold Kamieniecki – stellvertretend für die Apostel der „jagiellonischen Idee“, die, in unterschiedlichen politischen Lagern vertreten, doch am intensivsten unter den Sozialisten und Piłsudski-Anhängern verbreitet war49 – den Jagiellonismus wieder ins Spiel zu bringen.50 Wenig später sprang ihm Stefan Gużkowski zur Seite, der unter dem Eindruck der großen Wirtschaftskrise eine freiwillige (wirtschaftliche) Zusammenarbeit der Länder des so genannten Pansarmatien (Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien und Ungarn) in Aussicht stellte.51 Diese Ideen wiederholten auf ihre Art das Konzept eines mittelosteuropäischen Großraums, eines Staatenblocks unter polnischer Hegemonie ohne Rücksicht auf die Souveränität der Nachbarn. Damit schufen ihre Verfasser – rund 15 Jahre später, unter veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen – eine Art Konkurrenzmodell zur deutschen „Mitteleuropa“-Idee. Die Diplomatie der Zweiten Republik versuchte die Stärke des polnischen Staats über ein Gleichgewicht zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu erreichen. 1932 wurden ein polnisch-sowjetischer und 1934 ein deutsch-polnischer Nichtangriffspakt unterzeichnet. Damit glaubte Piłsudski die polnische Großmachtstellung abgesichert zu haben.

Diese knappen Hinweise zur politischen Lage Polens in den 1930er-Jahren dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation im Land sehr angespannt war. Das Regierungslager „sanierte“ den Staat mit Hilfe zahlreicher politischer Repressalien. In der Wirtschaft setzte die Regierung auf einen starken staatlichen Interventionismus. So versuchte man einerseits die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den Griff zu bekommen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen; andererseits sollten die vom Staat kontrollierten Pläne der Wirtschaftsentwicklung vor allem in der Schwer- und Rüstungsindustrie greifen. Diese Pläne sahen vor, im Süden Polens eine wirtschaftliche Sonderzone zu gründen – möglichst weit entfernt von den beiden für gefährlich gehaltenen politischen Gegnern Deutschland und Russland.52 Die Regierung traf Vorbereitungen für den Ernstfall der kriegerischen Auseinandersetzung.

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Politische Kräfte in Polen und später im Exil bemühten sich, den Anschluss an europäische Vereinigungsbewegungen angesichts der drohenden und dann auch eintreffenden Gefahr eines neuen Kriegs auf dem Kontinent nicht zu verlieren. Seit den späten 1930er-Jahren strebten sie weiterhin einen souveränen und starken Staat Polen an. Dieses Charakteristikum der polnischen Europakonzepte und -pläne kann nicht deutlich genug betont werden. Die Sozialisten versuchten erneut, die Perspektive eines Bundes mit der Tschechoslowakei unter der Ägide Großbritanniens zu erzwingen.53 Die polnische Rechte entwickelte in Konkurrenz zu Friedrich Naumanns „Mitteleuropa“ einen Entwurf einer mittel(ost)europäischen Redoute, die zwischen der Adria, der Ostsee und dem Schwarzen Meer, im Schutz der Gebirgsketten Zentraleuropas, abgeschirmt von „russischem Nihilismus“ und „deutschem Subjektivismus“, eine wirtschaftspolitische und moralische Stärke erreichen sollte.54

Der Schatten Dmowskis und Piłsudskis sowie ihrer Haltungen zu Fragen europäischer Föderation, die wie zwei Säulen – die des Nationalismus und die der Großmachtidee – das politische Denken im Polen der Zwischenkriegszeit gestützt hatten, verzog sich angesichts der erneuten realen Bedrohung der staatlichen Souveränität. Der Wunsch einer größeren Föderation ostmitteleuropäischer Staaten wich auf polnischer Seite dem Willen, Allianzen zu schließen, die Polen den Status eines freien und souveränen Staatswesens garantieren sollten. In allen Zentren, die nach 1939 die politische und intellektuelle Elite des okkupierten Landes versammelten,55 wurden aus Enttäuschung über die Entwicklung der 1920er-/1930er-Jahre programmatische Schriften verfasst und Ideen entwickelt, mit denen man an die vielen politischen Richtungen der Zweiten Republik anknüpfte. Vertreten waren darunter Ideen des „regionalen Föderalismus“,56 des „funktionalen Föderalismus“57 und des „konstitutiven Föderalismus“ nach amerikanischem oder Schweizer Vorbild.58 Allen derartigen „Föderalismen“ waren Elemente gemeinsam, die neben den Idealen auch realpolitische Zustände widerspiegelten.

Für die Interpretation des Antiliberalen im polnischen Föderationsdenken dürfte dies noch einen zusätzlichen Akzent setzen. Es ist charakteristisch, dass die meisten Konzepte föderativer Zusammenschlüsse, die von polnischer Seite an die Alliierten oder die potenziellen Bundesgenossen herangetragen wurden, erfolglos blieben. Dass die Sowjets das von Polen angeführte Intermare spätestens 1943 nach dem Scheitern der Gespräche mit der polnischen Exilregierung in London offiziell ablehnten, erklärt sich aus der zunehmenden politischen Bedeutung der Sowjetunion für die militärischen Pläne der Alliierten.59 Als die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Griechenland aus dem „Planning Board“ austraten, begründete Jan Masaryk, der Außenminister der tschechoslowakischen Exilregierung, diesen Schritt mit der Ablehnung von Phantasmagorien.60 Die späteren Bemühungen (in den Jahren 1946–1949) der föderalen Klubs in Rom, Paris, Brüssel, Frankfurt a.M. und Innsbruck – also dort, wo sich polnische Intellektuelle aufhielten, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen blieben61 –, sich gegen die neue Aufteilung des Kontinents zu wenden, zeigten unmissverständlich die Wunden, unter denen die polnischen Unionsbestrebungen litten: ihre historisch tradierte und legitimierte Phobie gegenüber dem Expansionismus Russlands (später der Sowjetunion) und ihre – im Zweiten Weltkrieg erneut beförderte – Angst vor einem starken Deutschland.

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Es gehört zum politischen und intellektuellen Erbe der Zweiten Republik, dass die Orientierung der politischen Kräfte in Richtung Europa einen national-autarkistischen und antiliberalen Strang aufwies. Dies zeigte sich in der Verbreitung und Durchsetzung des Großmachtgedankens. Er ließ sich im aggressiven Nationalismus nachweisen; er äußerte sich zudem in Phobien gegen antipolnisch gestimmte Staaten.

4. Fazit
 

Der polnische Antiliberalismus, der hier untersucht wurde, war eng verbunden mit den Formen des Nationalen, des polnischen „Patriotismus“, des klassischen „Unabhängigkeitskämpfers“, schließlich mit dem Wunsch, staatliche Souveränität durch Teilföderationen mit den Nachbarländern abzusichern – auch gegen deren Willen oder mit geringer Unterstützung. Politische Eliten im Polen der Zwischenkriegszeit haben keine Alternative dazu gesehen, mit Europa (auch über europäische Probleme wie Friedenssicherung oder Wirtschaftskrise) anders zu sprechen als aus der Position eines „starken“ Partners. Und diese Position glaubten sie nicht durch demokratische Reformen erreichen zu können, nicht durch einen liberalen Umgang mit den Minderheiten, nicht durch bilaterale (oder womöglich transnationale) Zusammenarbeit, sondern durch die Wiederbelebung alter Strukturen, an denen man nostalgisch festhielt: der Idee der multinationalen Jagiellonischen Union. Sie war ihnen als „Vorstufe“ einer europäischen Integration genug.

Es wäre heuristisch äußerst reizvoll, die These von einer vollzogenen (oder sich vor unseren Augen vollziehenden) Anbindung an Europa trotz der sichtbar antiliberalen Tendenzen in der historischen Entwicklung eines Staats mit einem historischen Vergleich zu konfrontieren. Geographisch gesehen würde man diese Gegenüberstellung am ehesten mit der Tschechoslowakei (vielleicht der Slowakei) oder Ungarn vornehmen können.62 Eine kompakte Darstellung des ungarischen Europa-Gedankens im 19. und 20. Jahrhundert hat Ignác Romsics vor einigen Jahren im Sammelband „Option Europa“ geliefert.63 In derselben Publikation widmete sich Gergely Varga dem – auch unter dem Aspekt eines antiliberalen Moments in den ungarischen Europaentwürfen interessanten – Phänomen des Turanismus, der sich als nationale Bewegung im Ersten Weltkrieg etablierte und in der Zwischenkriegszeit Formen einer Pan-Ideologie mit rassistischen Zügen annahm.64

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Eine Verflechtung nationaler Interessen eines Volks mit staatspolitischer Absicherung einer souveränen Präsenz auf der Landkarte Europas und einem Willen nach wirtschaftlicher Prosperität muss nicht zwangsläufig in eine antidemokratische oder sogar autoritäre Regierungsform münden. Ob die Staaten Ostmitteleuropas seit den 1920er-Jahren für solche Entwicklungen anfälliger waren als die Staaten Westeuropas, hat die Forschung noch nicht untersucht. Auffällig ist allerdings, dass sich die (Neu-)Gründung der ostmitteleuropäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg politisch daran maß, wie sicher ihre eigene Staatlichkeit vor dem Zerfall zu schützen sei. Dabei trugen die polnischen Pläne überwiegend außenpolitische und militärische Motivationen ohne ökonomische Begründungen. Hier gingen die polnischen und zum Beispiel die paneuropäischen Interessen weit auseinander.

Für die Tschechoslowakei in den Jahren 1989–2004 hat Volker Weichsel die nationalpolitische Bereitschaft analysiert, sich in europäische Strukturen einzuordnen.65 Ähnliche Studien für die Zwischenkriegszeit fehlen bislang. Eine Publikation europäischer Entwürfe aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, aus der eine Kenntnis über vorherrschende oder lediglich vorhandene Europapläne gewonnen werden könnte,66 liegt für die Tschechoslowakei noch nicht vor. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass es an solchen Diskursen gemangelt hätte. Wir wissen nach wie vor zu wenig über die Entwicklung des Europagedankens in der frühen Phase der Integrationsbemühungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Ostmitteleuropa. Die Frage nach dem Gewicht antiliberaler (und autoritärer) Kräfte der politisch aktiven Öffentlichkeit ist in der Europa-Historiographie noch nicht hinreichend beantwortet.

Anmerkungen: 

1 Dass sich diese Großmutter über das neue enfant terrible keineswegs nur freute, belegen zahlreiche Reaktionen westeuropäischer Diplomatie während der Pariser Verhandlungen 1919 wie auch französische und englische Stimmen zum polnisch-sowjetischen Krieg 1920. Vgl. Stephanie Zloch, Blick nach Westen? Polen und die europäischen Einigungsbestrebungen zwischen den beiden Weltkriegen (1918–1939), in: Heinz Duchhardt/Małgorzata Morawiec (Hg.), Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Mainz 2003, S. 65-84, hier S. 68f.

2 Das amerikanische Modell erschien sowohl den Politikern der Zweiten Republik wie auch vielen zeitgenössischen Publizisten durchaus nachahmenswert; allerdings konzentrierte sich ein solches Interesse in zahlreichen Fällen auf die Symbole und die äußere Gestaltung dieser Staatenvereinigung. Siehe z.B. den Fahnenentwurf bei Bogdan Wielkopolski, Nowe podstawy rozwoju Polski i ludzkości [Neue Grundlagen für die Entwicklung Polens und der Menschheit], St. Andrews 1942, S. 273f. Zum seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert populären Diskurs siehe Grzegorz Witkowski, Ojcowie Europy. Udział Polaków w integracji kontynentu [Die Väter Europas. Der Anteil der Polen an der Integration des Kontinents], Warszawa 2001, S. 35. Vgl. auch Wiesław Bojko, Historyczne tło polskiego federalizmu [Der historische Hintergrund des polnischen Föderalismus], in: ders. (Hg.), Federalizm. Teorie i koncepcje [Föderalismus. Theorien und Konzepte], Wrocław 1998, S. 175-201.

3 Włodzimierz Borodziej/Błażej Brzostek/Maciej Gόrny, Polnische Europa-Pläne des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Włodzimierz Borodziej u.a. (Hg.), Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 43-134, hier S. 43.

4 Ebd., S. 44.

5 Roman Dmowski, Polityka polska i odbudowanie państwa [Polnische Politik und der Aufbau des Staats], 2 Bde., Warszawa 1988 (Neuaufl. der Ausgabe von 1937). Vgl. dort besonders die Widmung im ersten Band, die auf die Größe und Stärke des Piasten-Staats als Vorbild für die Zweite Republik verweist (S. 29).

6 So gehörte Dmowski zu den besonders scharfsinnig formulierenden und viel schreibenden Politikern – dafür war er bereits zu seinen Lebzeiten bekannt. Siehe Jędrzej Giertych in einem wohl kurz nach dem Tod Dmowskis verfassten Aufsatz von 1939: Roman Dmowski – pisarz polityczny [Roman Dmowski – ein politischer Schriftsteller], online unter URL: <http://www.romandmowski.pl/default.php?dzial=odmowskim&id=21>. Diese Website hat allerdings hagiographischen Charakter.

7 Bis heute ist in der polnischen Geschichtsschreibung das „geopolitische“ Argument als anerkanntes Handlungsmotiv der Politiker stark vertreten. Vgl. z.B. Marek Kornat, Die Wiedergeburt Polens als multinationaler Staat in den Konzeptionen von Józef Piłsudski, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 15 (2011), S. 11-42.

8 Piłsudski und Dmowski rangen um die Gunst von Maria Juszkiewicz, der späteren ersten Frau Piłsudskis. Vgl. Andrzej Garlicki, Romansy i awansy, 4.11.2009, online unter URL: <http://www.polityka.pl/historia/241991,1,romansy-i-awansy.read#ixzz1mvO9Uvdn>.

9 Im Mai 1922 wurde in der konservativen Tageszeitung „Czas“ („Zeit“) eine intensive Debatte geführt, aus der klar hervorging, dass Skirmut, selbst ein Konservativer, den nationaldemokratischen Kurs auf Konfrontation mit den Westmächten umzulenken versuchte. Vgl. Zloch, Blick nach Westen? (Anm. 1), S. 73.

10 Überliefert ist ein Konflikt mit dem Vorsitzenden des American Jewish Committee, Louis Marshal. Diese auffällige Auseinandersetzung verursachte dann eine weitere Verstimmung bei Präsident Wilson. Ignacy Jan Paderewski, der selbst mit Wilson befreundet und ein Philosemit war, versuchte zu schlichten. Vgl. Zloch, Blick nach Westen? (Anm. 1), S. 67, dort bes. Anm. 8.

11 In seinem programmatischen Beitrag „Kwestia polska i przebudowa środkowej Europy“ („Polen und der Umbau Mitteleuropas“) erwähnte Dmowski seine heftige Auseinandersetzung mit dem französischen Politiker und Historiker Gabriel Hanotaux, einem Republikaner, der Dmowskis Konzeption der territorialen Verkleinerung Deutschlands und dadurch Einschränkung der deutschen Machtposition in Europa ablehnte. Siehe Dmowski, Polityka polska (Anm. 5), Bd. 1, S. 270-305, hier S. 297.

12 Vgl. Dmowski, Kwestia polska (Anm. 11).

13 In der „Gazeta Warszawska“, dem Sprachrohr der Nationaldemokraten, kommentierte ein anonymer Autor im Juni 1919 die Kenntnisse der Westmächte über Polen: „In den Augen der Westmächte sind wir immer noch ein Flickenteppich einstiger russischer, deutscher und österreichischer Provinzen, ‚une petite nation‘ von nicht allzu hohem kulturellen und wirtschaftlichen Niveau, ein kleines Volk ewig leidender Enthusiasten.“ Hier zit. in der Übersetzung von Zloch, Blick nach Westen? (Anm. 1), S. 67f.

14 Hierzu Stefan Martens, Frankreich, Großbritannien und das Problem der deutschen Ostgrenze (1918–1925), in: Ralph Schattkowsky (Hg.), Locarno und Osteuropa. Fragen eines europäischen Sicherheitssystems in den 20er Jahren, Marburg 1994, S. 39-52, hier S. 43. Vgl. auch Zloch, Blick nach Westen? (Anm. 1), S. 68.

15 Dmowski, Kwestia polska (Anm. 11), zusammengefasst auf S. 302.

16 Vgl. hier grundlegend Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 106-110; dort auch weitere Literaturverweise.

17 Dmowski, Kwestia polska (Anm. 11), S. 302.

18 Ebd., S. 304. Vgl. für die umfangreiche Forschung u.a. Małgorzata Morawiec, Antemurale christianitatis. Polen als Vormauer des christlichen Europa, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001), S. 249-260. Siehe auch Anne Cornelia Kenneweg, Antemurale Christianitatis, in: Pim den Boer u.a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, S. 73-81.

19 Jan Maurycy Borski, polnischer Publizist und Aktivist der sozialistischen Partei, schrieb im Sommer 1920 in der Tageszeitung „Robotnik“ (und auch fast wortwörtlich in „Kurjer Polski“): „Polen will keine Barriere und kein Brückenkopf sein; Polen will das Leben einer unabhängigen Nation leben wie andere Nationen auch. Polen will kein Werkzeug sein, das der Entente dazu dient, politische und wirtschaftliche Rechnungen mit Deutschland, Rußland und der Tschechoslowakei zu begleichen. Die Existenz Polens und seine Unabhängigkeit dürfen nicht abhängig sein von den wechselnden politischen Konjunkturen zwischen Ost und West.“ In: Robotnik, 3.8.1920, S. 1; Kurjer Polski, 25.8.1920, S. 1. Zit. in der Übersetzung von Zloch, Blick nach Westen? (Anm. 1), S. 71.
 

20 Józef Piłsudski, Pisma zbiorowe. Wydanie prac dotychczas drukiem ogłoszonych [Gesammelte Werke. Ausgabe der bisher im Druck erschienenen Beiträge], 10 Bde., Warszawa 1937, hier Bd. 5, S. 184. Piłsudski äußerte sich oft und gern zu tagespolitischen Fragen. Seine Gesammelten Werke bündeln zum größten Teil Reden, Zeitschriftenaufsätze etc. Anders als Dmowski verfügte er über keine schriftstellerische Begabung.

21 Zur Piłsudski-Legende gehörte das Diktum: „Aus der roten Tram ist er an der Haltestelle ‚Unabhängigkeit‘ ausgestiegen und fuhr mit den Sozialisten nicht weiter.“

22 Dieses in einem Soldatenlied von Wacław Kostek Biernacki („Pieśń o Wodzu Miłym“/„Das Lied vom holden Führer“) festgehaltene und bis in unsere Zeit weit verbreitete Bild eines bescheidenen, „großen“ Mannes begründete seine Legende.

23 Władysław Baranowski, Rozmowy z Piłsudskim [Gespräche mit Piłsudski], Warszawa 1938, S. 115. Vgl. Kornat, Wiedergeburt Polens (Anm. 7), S. 22.

24 Vgl. die Eintragungen von Kazimierz Świtalski, einem Vertrauten Piłsudskis, in: Diariusz 1919–1935, Warszawa 1992, S. 98.

25 Vgl. Kornat, Wiedergeburt Polens (Anm. 7), S. 34, mit Verweis auf Janusz Żarnowski, Ankieta historyczna: Wojna polsko-bolszewicka 1919–1920 – alternatywy i konsekwencje [Der polnisch-bolschewistische Krieg 1919–1920. Alternativen und Konsequenzen. Eine historische Umfrage], in: Arcana 35 (2000), S. 35.

26 Janusz Cisek, Kilka uwag o myśli federacyjnej Józefa Piłsudskiego [Einige Bemerkungen zum föderalen Gedankengut Józef Piłsudskis], in: Andrzej Ajnenkiel u.a. (Hg.), Międzymorze. Polska i kraje Europy Środkowo-Wschodniej, XIX–XX wiek. Studia ofiarowane Piotrowi Łossowskiemu [Intermare. Polen und die Länder Ostmitteleuropas, 19.–20. Jahrhundert], Warszawa 1995, S. 90-99, hier S. 93. Siehe auch Przemysław Hauser, Federacyjne wizje Rzeczypospolitej w poglądach Józefa Piłsudskiego i próba jej urzeczywistnienia w latach 1918–1921 [Föderale Visionen über die Rzeczpospolita im Gedankengut Józef Piłsudskis und die Versuche ihrer Durchsetzung in den Jahren 1918–1921], in: Zbigniew Karpus/Waldemar Rezmer/Emilian Wiszka (Hg.), Polska i Ukraina. Sojusz 1920 roku i jego następstwa [Polen und die Ukraine. Eine Allianz aus dem Jahr 1920 und ihre Folgen], Toruń 1997, S. 17-41.

27 In einem der Entwürfe, dessen Autor Lösungen für polnisch-litauische Konflikte parat hielt, ist wortwörtlich davon die Rede, dass man den Litauern „die Augen öffnen“ müsse, falls sie sich den polnischen „Vereinigungsplänen“ widersetzten. Vgl. Henryk Wiercieński, Litwa a Polska [Litauen und Polen], Lublin 1920, S. 2f.

28 Zum publizistischen Ertrag dieser Idee vgl. Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 89f.

29 Vgl. Piotr Okulewicz, Koncepcja „Międzymorza“ w myśli i praktyce politycznej obozu Józefa Piłsudskiego w latach 1918–1926 [Das Konzept des „Intermare“ im Gedankengut und in der politischen Praxis des Józef-Piłsudski-Lagers 1918–1926], Poznań 2001. Siehe auch Stefan Troebst, „Intermarium“ und „Vermählung mit dem Meer“: Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 435-469.

30 Witold Kamieniecki, Państwo litewskie [Der litauische Staat], Warszawa 1918. Siehe Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 276ff.

31 Federführend zeichnete für die Idee Tadeusz Hołówko, ein Politiker, Publizist und enger Mitarbeiter Piłsudskis. Vgl. auch Mirosław Boruta, Wolni z wolnymi, rόwni z rόwnymi. Polska i Polacy o niepodległosci wschodnich sąsiadów Rzeczypospolitej [Die Freien mit den Freien, die Gleichen mit den Gleichen. Polen und die Polen über die Unabhängigkeit der östlichen Nachbarn], Krakόw 2002.

32 Vgl. ebd., S. 36f. Zur Philosophie Lutosławskis siehe Halina Floryńska, Wincenty Lutosławski – metafizyka jaźni i narodu [Wincenty Lutosławski – die Metaphysik des Ich und der Nation], in: Barbara Skarga (Hg.), Polska myśl filozoficzna i społeczna [Das Gedankengut polnischer Philo-sophie und Soziallehre], Bd. 3, Warszawa 1977, S. 153-189, hier S. 185-189. Über die Gestalt des Intermare aus der Feder Lutosławskis vgl. Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 293f.

33 Siehe Michał Śliwa (Hg.), Mieczysław Niedziałkowski o demokracji i parlamentaryźmie [Mieczysław Niedziałkowski über die Demokratie und den Parlamentarismus], Warszawa 1996. Vgl. auch weitere Stimmen polnischer Sozialisten in der Frage der polnisch-litauischen Union, hier vor allem Bolesław Limanowski, Feliks Perl und Ignacy Daszyński. Siehe Wiesław Bokajło, Polnische Konzepte einer europäischen Föderation, in: Duchhardt/Morawiec, Vision Europa (Anm. 1), S. 85-116, hier S. 110f.

34 Siehe Äußerungen Niedziałkowskis während des Gründungssejm im November 1920: „Wenn Litauen schon existieren sollte, dann muß es sich auf Polen stützen, wenn sich die Ukraine zum eigenen Staatswesen erheben sollte, dann muß sie Halt an Polen suchen.“ Zit. nach Bokajło, Polnische Konzepte (Anm. 33), S. 111.

35 Hier hauptsächlich im Zusammenhang mit der Haltung der Sozialdemokraten zum Völkerbund, die anfangs ablehnend, später (seit 1920) bejahend war. Ihre Hoffnungen verbanden die Sozialdemokraten mit dem auf Reformen drängenden Wilson. Vgl. Jerzy Juchnowski, Polski ruch socjalistyczny wobec Niemiec okresu Republiki Weimarskiej 1919–1932 [Polnische sozialistische Bewegung und Deutschland der Weimarer Republik 1919–1932], Wrocław 1997, S. 286ff.

36 So ein Aufsatz in „Tygodnik Polski“ („Polnisches Wochenblatt“) vom 27.6.1920, abgedruckt in: Aleksander Lednicki, Nasza polityka wschodnia [Unsere Ostpolitik], Warszawa 1922, S. 21-27.

37 Z.B. berichtete der sozialistische „Robotnik“: „Polnische Bevölkerung begrüßte ihre Befreier mit einer unverfälschten Freude. […] Die Stimmung der litauischen Bevölkerung war im Allgemeinen […] abwartend. […] Was die Juden angeht, so sind die meisten von ihnen mit der litauischen Armee abgezogen (angeblich um 10.000 Menschen). Die übrigen haben ihre Waren versteckt. Dank der eisernen Disziplin und der Aktion des örtlichen Polnischen Komitees wurden keine antijüdischen Exzesse verzeichnet.“ Wypadki wileńskie [Die Ereignisse in Vilna], in: Robotnik, 20.10.1920, S. 4 (meine Übers.).

38 Die Grenzziehung in der Ukraine war – aus polnischer Sicht – alles andere als „ethnographisch“ gerecht. Tadeusz Hołówko, Politiker und Publizist sowie enger Mitarbeiter von Piłsudski, sprach angesichts des im April 1920 geschlossenen Abkommens mit Symon Petlura von einem „Verrat an der Ukraine“. In den nächsten Jahrzehnten erwartete diese Gebiete ein schlimmes Schicksal: Hungersnöte, antijüdische Pogrome, polnisch-ukrainische Kämpfe. Hołówko selbst wurde 1931 von ukrainischen Nationalisten ermordet. Vgl. Boruta, Wolni z wolnymi (Anm. 31), S. 44; über die Ansichten Hołówkos vgl. weiter Iwo Werschler, Z dziejów obozu belwederskiego. Tadeusz Hołówko, życie i działalność [Zur Geschichte des Belvedere-Lagers. Tadeusz Hołówko, das Leben und Wirken], Warszawa 1984, bes. S. 103-126.

39 Vgl. hier nur stellvertretend Jan Kucharzewski, La Pologne et l’Europe, Lausanne 1920, und Wincenty Lutosławski, Wojna wszechświatowa, jej odległe przyczyny i skutki [Der universale Krieg, seine fernen Gründe und Folgen], Lwów 1920.

40 Vgl. Boruta, Wolni z wolnymi (Anm. 31), S. 42; Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 91.

41 Zitate aus den Regesten der Texte von Kucharzewski und Lutosawski, in: Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 292f.

42 Vgl. Morawiec, Antemurale christianitatis (Anm. 18), S. 257f.

43 Nur für einige unter ihnen galt der Vertrag als Verrat an den fast zwei Millionen Polen, die auf sowjetischer Seite geblieben waren. Zum Schicksal dieser Gruppe siehe Mikołaj Iwanow, Pierwszy naród ukarany: Polacy w Związku Radzieckim 1921–1939 [Das zuerst bestrafte Volk: die Polen in der Sowjetunion 1921–1939], Wrocław 1991.

44 Dazu gab es nach Meinung polnischer Historiker ernsthafte Hinweise. Vgl. Piotr S. Wandycz, Polish-Soviet Relations 1917–1921, Cambridge 1969, S. 146-189; Andrzej Nowak, Polska w strategii Lenina. Studium polityki realnej (1918–1920) [Polen im strategischen Denken Lenins. Ein Studium aus der Realpolitik], in: Arcana 35 (2000), S. 74-88; vgl. auch Kornat, Wiedergeburt Polens (Anm. 7), S. 36.

45 Zit. nach Janusz Cisek/Andrzej Łukasiak, Wielcy Polacy: Józef Piłsudski [Bedeutende Polen: Józef Piłsudski], in: Gazeta Wyborcza, Anhang, 12.5.2011 (meine Übers.).

46 „Und so ziehe ich erneut in den Kampf, gegen das größte Übel dieses Staats: gegen die schrillen Parteien und Bündnisse, die über Polen herrschen; gegen die auf der Strecke gebliebenen Grundsätze, gegen die waltenden Geldgier und Eigennutz.“ Zit. nach einem Interview vom 11.5.1926, siehe <http://pl.wikiquote.org/wiki/Józef_Piłsudski> (meine Übers.).

47 Vgl. Marian Leczyk, Sprawa Brzeska. Dokumenty i materiały [Der Prozess in Brest. Dokumente und Materialien], Warszawa 1987.

48 In: Głos Prawdy [Stimme der Wahrheit], 27.2.1926, S. 119. Vgl. Kornat, Wiedergeburt Polens (Anm. 7), S. 39.

49 Dabei reichte der Spannungsbogen von relativ harmlosen „Föderationsvisionen“ z.B. aus der Feder des bereits genannten Henryk Wiercieński (vgl. Anm. 27) bis zur von der Zensur konfiszierten Schrift von Tadeusz Dzieduszycki, einem Paneuropa-Aktivisten der späten 1930er-Jahre. Vgl. Ruch Jagielloński Młodych i Duchem Młodych. Wielki zryw narodu z nizin 300 lat upadku i z barłogu przydługiej rekonwalescencji. Nowy Grunwald. Szalonym rozmachem twórczego ducha polskiego na miarę 500 lat bezprzykładną, przezwyciężymy i unicestwimy niszczycielskie szaleństwo teutońskie grożące zblokowaniem się z Moskwą na naszym grobie [Die jagiellonische Bewegung der Jungen und der im Geist Jungen. Die große Erhebung der Nation nach 300 Jahren tiefsten Verfalls und einer zu langen Rekonvaleszenz im schmutzigen Bett. Das neue Tannenberg. Mit rasendem Schwung des schöpferischen polnischen Geistes, in den letzten 500 Jahren ohnegleichen, überwinden und vernichten wir den zerstörerischen Teutonen-Wahn, der sich mit Moskau auf unserem Grab zu vereinigen droht], Warszawa 1939. Siehe Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 508ff.

50 Witold Kamieniecki, Ponad zgiełkiem walk narodowościowych. Idea Jagiellońska [Am Rand nationaler Kämpfe. Die jagiellonische Idee], Warszawa 1929. Vgl. Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 97.

51 Stefan Gużkowski, Imperium Iagiellonicum. Rzecz o Unji wschodnio-europejskiej [Imperium Iagiellonicum. Vor der ost-europäischen Union], Poznań 1931. Siehe Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 448f., und den Vollabdruck ebd., Bd. 3, S. 247-268.

52 Jerzy Gołębiowski, COP. Dzieje industrializacji w rejonie bezpieczeństwa 1922–1939 [Das Zentrale Industriegebiet (COP). Zur Geschichte der Industrialisierung in der Sicherheitszone 1922–1939], Kraków 2000.

53 Vgl. v.a. Stanisław Thugutt, Wybór pism i autobiografia [Werkauswahl und eine Autobiographie], Warszawa 1929, S. 240.

54 Aleksander Wojtecki, Sprawa Europy Środkowej [Die Frage Ostmitteleuropas], Warszawa 1939. Siehe Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 514f.

55 Borodziej, Brzostek und Górny identifizieren folgende Zentren des „Zukunftsdenkens“ über Europa: die polnische Exilregierung von Władysław Sikorski (zuerst in Paris, dann in London), publizistisch vertreten durch die Zeitschrift „Free Europe“, herausgegeben von Kazimierz Smogrzewski; weiter den Umkreis des II. Polnischen Korps von General Władysław Anders, die internationale Initiative „Planning Board“ in New York und nicht zuletzt den polnischen Untergrundstaat. Vgl. Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 102 mit Anmerkungen.

56 Dieser umfasste die Förderung regionaler Staatenbünde in Ostmitteleuropa, Skandinavien und Benelux. Diese Richtung vertraten Beneš und Sikorski. Vgl. Feliks Gross, Federacje i konfederacje europejskie. Rodowód i wizje [Föderationen und Konföderationen. Entstehung und Inhalt], Warszawa 1994, bes. S. 40-44.

57 Antoni Plutyński, Jest nas 115 milionów. Stany Zjednoczone Europy Środkowo-Wschodniej [Wir sind 115 Millionen. Die vereinigten Staaten Ostmitteleuropas], Rzym 1946. Siehe Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 2, S. 552-555.

58 Gross, Federacje (Anm. 56), S. 40-43; Borodziej/Brzostek/Górny, Polnische Europa-Pläne (Anm. 3), S. 102.

59 Eine zutreffende Einschätzung der politischen Hintergründe, die zum Scheitern dieser Pläne führten, lieferte Stanisław Mackiewicz, Historia Polski od 11 listopada 1918 r. do 5 lipca 1945 r. [Die Geschichte Polens vom 11. November 1918 bis zum 5. Juli 1945], Londyn 1990, S. 501 (meine Übers.): „1943 wäre eine solche Föderation für Russland ein größerer Feind als Deutschland. Ungarn und Rumänien an der Seite Englands, das würde die Hilfe dieser beiden Staaten für den polnischen Untergrundstaat bedeuten. Das wäre eine Wiedergeburt der Pläne Piłsudskis. Russland könnte darauf mit Gesprächen mit Hitler reagieren, wozu es die Japaner sowieso drängen. Der Wechsel des russischen Verbündeten gegen die italienisch-ungarisch-rumänischen Bündnispartner wäre für die angloamerikanischen Alliierten ein schlechtes militärisches Geschäft. Der Krieg zeigte bereits, dass nur große, militärisch potente Staaten zählen, die kleineren und die mittleren Staaten seien viel mehr Belastung als Hilfe.“ Vgl. auch Krzysztof Grygajtis, Polskie idee federacyjne i ich realizacja w XIX i XX w. [Polnische Föderationsentwürfe und ihre Durchführung im 19. und 20. Jahrhundert], Częstochowa 2001, hier S. 462.

60 So Masaryk gegenüber Felix Gross im März 1945. Gross, Federacje (Anm. 56), S. 58.

61 Bogusław Bakuła, Emigracje wschodnioeuropejskie – krótka historia dialogu [Osteuropäische Auswanderung – eine kurze Geschichte des Dialogs], in: Grzegorz Kotlarski (Hg.), Oblicza Wschodu w kulturze polskiej [Der Einfluss des Ostens in der polnischen Kultur], Poznań 1999, S. 123-131, hier S. 137; Marian S. Wolański, Europa Środkowo-Wschodnia w myśli politycznej emigracji polskiej 1945–1975 [Ostmitteleuropa im politischen Gedankengut polnischer Emigration 1945–1975], Wrocław 1996, S. 84f. Vgl. Grygajtis, Polskie idee federacyjne (Anm. 59), S. 475f.

62 José M. Faraldo/Paulina Gulińska-Jurgiel/Christian Domnitz (Hg.), Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991), Köln 2008.

63 Ignác Romsics, Regionalismus und Europa-Gedanke im ungarischen politischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 1, S. 133-165.

64 Gergely Varga, Ungarns Platz unter der Sonne: Europa oder Asien? Die Suche nach der ungarischen Identität in den Werken von Alajos Paikert, in: Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3), Bd. 1, S. 215-228.

65 Volker Weichsel, Tschechien in Europa. Nationalpolitische Traditionen und integrationspolitische Konzepte, Berlin 2007.

66 Nach dem Vorbild von Borodziej u.a., Option Europa (Anm. 3).

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