Turban und Friedenspfeife

Werbefotografien in den Reemtsma-Archiven im Museum der Arbeit

Anmerkungen

Das Fotoarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken1 besteht aus ungefähr 70.000 Aufnahmen, die als Einzelbilder, in Fotoalben, als Negative oder Dias gesammelt wurden. Die Überlieferung umfasst Aufnahmen aus dem Zeitraum vom Umzug des Unternehmens von Erfurt nach Altona-Bahrenfeld im Jahr 1923 bis zur Übernahme durch Imperial Tobacco im Jahr 2002 und spiegelt das breite Spektrum der firmenbezogenen Fotografie zwischen Dokumentation, Selbstdarstellung und Werbung: Hier finden sich Aufnahmen aus dem Betrieb oder zur Firmengeschichte ebenso wie Bildmaterial für Broschüren, Mitarbeiterzeitschriften oder Werbekampagnen. Eine Besonderheit sind die Bilder der „Tabakreisen“, auf denen bekannte Fotografen und Bildjournalisten den Tabakanbau in verschiedenen Gebieten und die Verarbeitung dokumentierten; zwei dieser Reportagen werden im Folgenden beispielhaft vorgestellt. Sofern die Fotografie in der Werbung eingesetzt wurde - was seit den 1920er-Jahren zunehmend geschah und wofür die beiden ausgewählten Teilbestände ebenfalls Beispiele sind -, überschneiden sich die Bestände des Fotoarchivs mit jenen des Werbemittelarchivs. Dieses enthält als nahezu vollständige Überlieferung der Werbeaktivitäten Reemtsmas aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit insgesamt etwa 3.500 Plakate, 25.000 Anzeigen, 12.000 bis 15.000 Packungen und über 50.000 Aufsteller, Schilder, Aufkleber und ähnliches, dazu Werbepläne und interne Dokumente.2

Bei der Arbeit mit archivierten Fotografien fallen zunächst die abgebildeten Motive und Inhalte sowie die Bildsprache bzw. die individuelle Herangehensweise des Fotografen oder der Fotografin ins Auge. Die beiden ausgewählten Bestände sind dem Genre der Reisereportage zuzuordnen - angesichts der Überlieferung in einem Firmenarchiv ein auf den ersten Blick verblüffender Befund. Beide Fotografen, Wolfgang Weber und René Burri, hatten offensichtlich die Absicht, stimmungsvolle Impressionen von ‚Land und Leuten‘ einzufangen. Abgesehen von ihrer individuellen Handschrift arbeiteten sie vor einem Hintergrund fotografischer Konventionen und eigener oder gesellschaftlicher Erwartungen an Bilder aus den bereisten Ländern. Für den zeithistorischen Quellenwert spielt jedoch auch der spezifische Entstehungs- und Überlieferungszusammenhang eine wichtige Rolle - bei dem hier vorgestellten Bestand handelt es sich eben nicht um ‚freie‘ künstlerische Fotografie, sondern um das Fotoarchiv eines Tabakherstellers und seine Auftragsfotografie; in beiden beschriebenen Fällen ist zudem die (geplante) Verwendung für Werbezwecke rekonstruierbar. Analysiert werden müssen daher - soweit das Material es zulässt - auch die mit den Fotos befassten Akteure, die mit ihnen verbundenen Arbeits- und Verwertungsprozesse. Die weitere historische Einordnung erlaubt schließlich Rückschlüsse auf allgemeinere Entwicklungen im Umgang mit dem Medium Fotografie und der Werbung im Unternehmen.

2Pfeil

1. Wolfgang Weber - „Smoky Mountains“ 1950

Zwei Männer - einer mit indianischem Federschmuck, einer mit Schirmmütze - rauchen gemeinsam eine Pfeife mit zwei Mundstücken. Ein schwarzer Junge lenkt einen Pferdeschlitten mit geernteten Blättern durch ein Tabakfeld. Die Bedienung eines Drive-in-Restaurants bringt auf Rollschuhen eine Bestellung zum Auto. Diese und weitere Fotografien befinden sich in einer Sammelmappe, deren Vorderseite den Titel „Wolfgang Weber in den Smoky-Mountains“ trägt3 sowie das Foto einer blonden Schönheit zeigt, die ein Tabakblatt in die Kamera hält, im Hintergrund ein Schild „Welcome to Virginia“. Insgesamt enthält die Mappe 23 Pappen, jeweils ungefähr 30 cm x 40 cm groß, auf denen unter der Kopfzeile „Die Virginia-Seite der Fox“ Fotos, Bildunterschriften, Texte und Zeichnungen zu kleinen Bildreportagen zusammengestellt sind.

Ganz unten findet sich jeweils die Fußzeile „lest und raucht...“ mit dem Bild einer Zigarettenpackung der Marke „Fox“, die Reemtsma 1948 auf den Markt gebracht hatte. Die Pappen waren die Layoutentwürfe für eine Anzeigenkampagne. Aufnahmen und Texte stammten von dem bekannten Fotojournalisten Wolfgang Weber,4 der im Herbst 1950 eine längere USA-Reise unternahm. Zu dieser Zeit arbeitete Weber für die „Neue Illustrierte“; im Auftrag der Werbeabteilung von Reemtsma fotografierte er zugleich in den Tabakstaaten Virginia und North Carolina.5 Diese „Bilderbriefe“ des Fotografen sollten seine Reiseeindrücke aus der „Urheimat“ des Tabaks schildern.

3Pfeil

Der erste Anzeigenentwurf hat die Form einer Doppelseite mit dem Titel „Wolfgang Weber: In den Smoky Mountains“ und zeigt Weber (den Mann mit der Schirmmütze) Friedenspfeife rauchend mit dem Cherokee-Häuptling „Chief Armachain“ (mit Federschmuck) sowie weitere Motive rund um den Ursprungsmythos des Rauchens: Rauchopfer und Friedenspfeife, rauchende Götter in den Smoky Mountains. Das Rauchen wird als „heilige Handlung“ weiser Männer vorgestellt: „Keiner raucht mit so viel Andacht, wie der Indianer es tut.“ Auch die nächste Anzeige zitiert eine Gründungslegende: Der englische Seefahrer und Entdecker Sir Walter Raleigh bekam demnach 1584 von den amerikanischen Ureinwohnern Tabak als Geschenk für Queen Elisabeth I. überreicht; Weber fotografierte die nachgestellte Szene bei einer Festaufführung auf Roanoke Island. Die weiteren Anzeigen thematisieren den Tabakanbau, die Tabakauktionen6 und damit verbundenen lokalen „Tobacco Festivals“, die schwarze und weiße Bevölkerung Virginias und verschiedene Alltagsphänomene sowie die - für deutsche Augen zu dieser Zeit sicher ungewöhnliche - amerikanische Autokultur. In der letzten Anzeige der Serie wendet sich der Fotograf mit einem persönlichen Resümee seiner Tabakreise an die Leser. Neben dieser Mappe mit Entwürfen sind im Bestand des Fotoarchivs auch die Negative und Kontaktabzüge der 1.896 Aufnahmen vorhanden, die Weber auf seiner Amerikareise machte, außerdem ein Album mit 536 Fotos und 60 Motivvorschlägen für die „Bilderbriefe“, dazu eine Liste der Werbeabteilung vom April 1951, die explizit die Verwendung für die „20 Bilderbriefe“ erwähnt.7

Inhaltliche Vorgaben der Reemtsma Cigarettenfabriken an den Fotografen sind nicht überliefert. Die thematische Gliederung der Kontaktabzüge im Album wurde ziemlich sicher von der Werbeabteilung vorgenommen, da sie nicht der chronologischen Reihenfolge der Aufnahmen entspricht.8 Gleiches gilt wahrscheinlich für die Abzüge. Allein die Auswahl der 60 Fotografien für die „Bilderbriefe“ trägt den Vermerk „nach der Originalnumerierung von Wolfgang Weber“. Sehr wahrscheinlich gab es vorbesprochene Themenfelder (Indianer, Tabakanbau und -auktionen, Tabakkultur und lokale Besonderheiten); die Motive zeigen aber deutlich die ästhetische und konzeptionelle Handschrift Webers.9 Ob die Idee der tagebuchähnlichen „Bilderbriefe“ schon vorab bestand oder vom Fotografen als Konzept bei der Reise entwickelt wurde, ist nicht klar; letzteres würde zu Webers journalistischem Arbeitsstil aber passen.10

Webers Aufnahmen kreisten um den Tabak und den davon bestimmten Alltag im so genannten „Tobacco Belt“ der USA: Ausführlich beschrieb er lokale Anbau- und Erntemethoden, das spezielle Trocknen der übergroßen Virginiablätter (fire-curing), das beeindruckende Treiben der „bids and singer“ (Käufer und Auktionatoren) auf den herbstlichen Versteigerungen, die riesigen Lagerhäuser der Zigarettenfabriken sowie Volksfeste, Jahrmärkte, Schaufenster-dekorationen und Modenschauen im Zeichen des Tabaks. Gleichzeitig hielt Weber als erfahrener Bildjournalist und Amerikakenner typische, faszinierende, unbekannte, absonderliche Phänomene des Alltags fest und entwarf so für die deutschen Betrachter der Kampagne eine zeittypische Ansicht des Landes der „unbegrenzten Möglichkeiten“. Der Blick auf die faszinierende Modernität und den Überfluss fehlte darin ebenso wenig wie das Bild des „edlen Wilden“ und der langen Tabaktradition; amerikanische Gebräuche wie Square Dance, die „Hilly-Billy-Musik“ schwarzer Straßenmusiker oder Dosen am Auto eines jungvermählten Ehepaares gehörten dazu wie die staunend registrierten allgegenwärtigen Werbetafeln. Als Topoi des deutschen Blicks auf die USA keinesfalls neu, als Stellungnahme gegenüber der Siegermacht aber bemerkenswert waren Webers kritische Kommentare zur Rassentrennung und zum „kulturlosen Kitsch und Schund“ in der „Neuen Welt“.

4Pfeil

Nur die ersten Anzeigenentwürfe sind komplett gestaltet; bei den anderen sind zwar Titel und Bilder aufgeklebt, die Texte jedoch nur als Manuskripte beigelegt, so dass sie noch ausgeschnitten und montiert werden mussten. Es handelt sich also offensichtlich um die Roh- bzw. Konzeptentwürfe, die noch nicht als fertige Druckvorlagen ausgeführt sind. Der Abgleich mit dem Werbemittelarchiv zeigt schließlich, dass die Kampagne letztendlich nicht realisiert wurde. Die Entwürfe dokumentieren also nicht eine vom Unternehmen beschlossene und umgesetzte Werbestrategie für die Marke „Fox“, sondern einen - bis fast zur Umsetzungsreife gebrachten - Diskussionsstand. Darin wird deutlich, mit welchen Attributen die Werbeabteilung die Marke „Fox“ im Frühjahr 1951 ausstatten wollte: Tabakland Virginia in den USA mit seinen Bräuchen, Ursprünglichkeit (des Tabaks), individuelle Eigenart (der fremden Kultur) und faszinierende Modernität (des amerikanischen Alltags). Die ersten zwei Jahre nach ihrer Einführung war die Marke unter dem Slogan „Tabak-land Virginia und Tabakland Orient geben ihr Bestes zum Besten der Fox“ beworben worden; so hatte man versucht, das positive Vorkriegsansehen der Orientzigaretten auf die neuen Virginiamischungen zu übertragen. In den Anzeigen wurden hierfür gezeichnete Bilder aus den beiden Tabakkulturen gekoppelt. Zum Zeitpunkt des Auftrags an Wolfgang Weber wurde die Marke „Fox“ umgestaltet: Anfang 1951 wurde das Design überarbeitet und stark an das Erscheinungsbild der „Lucky Strike“ angelehnt. Die geplante neue Kampagne sollte also offensichtlich dazu beitragen, mit ihrem beschriebenen Themenspektrum ein „amerikanisches“ Image zu entwickeln.

Anzeigen für die Zigarettenmarke „Fox“, 1948 und 1952

Den Hintergrund für die Einführung wie für die Umgestaltung der „Fox“ bildete der für den deutschen Tabakmarkt einschneidende Wandel der Geschmacksvorlieben der Raucher nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Zigarettenhersteller stellte sich damit nicht zuletzt ein Marketingproblem: Der deutsche Zigarettenmarkt war zu 95 Prozent von Zigaretten aus „orientalischen“ (d.h. griechischen oder türkischen) Tabakmischungen dominiert gewesen, bevor die eingeführten Marken spätestens ab 1942/43 kriegsbedingt vom Markt genommen worden waren. Die aus Virginiamischungen bestehenden „Chesterfields“ und „Lucky Strikes“ der Besatzungstruppen hatten nach Kriegsende diese Lücke gefüllt, und so hatte sich unter den Rauchern der Geschmack dieser milderen Tabaksorten etabliert. Gleichzeitig konnten die deutschen Hersteller mit Hilfe des Marshall-Plans zunächst nur US-Tabak importieren, womit die amerikanischen Tabakfarmer ein wichtiges neues Absatzgebiet gewannen. Reemtsma und andere Hersteller mussten sich also mit Virginiamischungen auf dem Markt behaupten, für die ihnen anfänglich die Handelsbeziehungen, die speziellen Herstellungsverfahren, die Marken und die Markenimages fehlten. Die ersten neuen Nachkriegsmarken - so auch die „Fox“ - hatten den Charakter von Testprodukten zur Erkundung eines noch nicht einschätzbaren Markts. Das Renommee der Traditionsmarken hingegen wurde wegen der Orientausrichtung ihrer eingeführten Images und der noch ungesicherten Qualität des Rohtabaks zunächst geschont; sie wurden erst später wieder eingeführt. Eine wichtige Kommunikationsstrategie in der Übergangszeit war der Transfer der eingeführten Qualitätsmerkmale der Vorkriegsmarken (edle Herkunft, sorgfältige Verarbeitung, exotische Tabakkultur) auf die neuen Virginiamischungen, wie sich an der erwähnten ersten Kampagne für die „Fox“ deutlich ablesen lässt. Im Jahr 1950 jedoch wurde bei Reemtsma beschlossen, die in ihren Umsätzen schwächelnde Marke stärker an amerikanische Vorbilder anzupassen, um sie besser gegen die Konkurrenz von Marken wie „Texas“ oder „Gold Dollar“ zu positionieren. Neben dem veränderten Packungsdesign sollten die Fotografien von Wolfgang Weber das neue Markenimage etablieren.

Die Entscheidung, die Kampagne nicht zu realisieren, ist vermutlich im Frühsommer 1951 gefallen.11 Welche Gründe dafür den Ausschlag gaben - ob die Fotografien Webers ungeeignet erschienen oder das Marktpotenzial der „Fox“ inzwischen doch als zu gering für eine aufwändige Bewerbung eingeschätzt wurde -, lässt sich aus den Quellen nicht ermitteln. Möglicherweise wurde die Konzeption aber auch insgesamt in Frage gestellt, etwa weil die Werbeabteilung angesichts des Koreakriegs und der Angst vor einem Dritten Weltkrieg eine zu enge Ausrichtung der Marke auf die USA eher negativ einschätzte. Fest steht, dass die „Fox“ erst im Sommer 1952 wieder von Reemtsma beworben wurde - nun mit einer Kampagne, die den Alltag des deutschen Rauchers mit fröhlich gestimmten, gezeichneten Freizeitmotiven thematisierte, und dem Slogan „Fox - vergeßt nicht die Freuden der Erde über des Tagwerks Beschwerde“. Offensichtlich war man der Ansicht, dass der westdeutsche Nachkriegsalltag inzwischen wieder Stoff für heitere Bildwelten bot.

5Pfeil

2. René Burri - Orientimpressionen 1957

Der Teilbestand „Orient - Tabakländer“ im Fotoarchiv12 enthält eine Serie von 82 Schwarzweiß-Fotografien im Format 9 cm x 11 cm sowie ein dazugehöriges Portfolio mit 70 Abzügen im Format 18 cm x 24 cm. Beide sind nicht ganz deckungsgleich; insgesamt handelt es sich um 102 verschiedene Motive.13 Das Portfolio ist beschriftet „René Burri - Fotos Griechenland und Türkei“, die meisten Bilder sind auf Pappe aufgeklebt und mit kurzen Erläuterungen versehen. Sie zeigen ein breites Spektrum an Alltagsszenen: Eine barfüßige Frau überquert die Straße und zieht dabei ihren Schleier vor das Gesicht, eine Gruppe verschleierter Frauen widmet sich der Hausarbeit. Ein alter Mann mit Turban schaut in die Kamera, eine Gruppe alter Männer raucht und unterhält sich angeregt. Fischer bringen ihre vollen Körbe in den Hafen oder sortieren ihre Netze. Eine Gemüsebäuerin bringt ihre Waren zum Markt. Ein Bauer bestellt sein Feld mit einem Ochsenpflug, ein anderer reitet einen Esel und zieht ein schwer bepacktes Kamel hinter sich her. Tabakeinkäufer begutachten die Ware, Arbeiter ziehen Tabakblätter auf Fäden. Auffallend viele Bilder zeigen außerdem ein Nebeneinander traditioneller und moderner Lebenswelten: Eine Gruppe von Jungen spielt Fußball vor einer Kulisse aus antiken Säulenresten, bei einer anderen Fußballszene beherrscht eine steinerne Inschrift den Vordergrund. Schulkinder erfrischen sich an einem Brunnen voller arabischer Inschriften. Touristen klettern von der Akropolis herab zu den Gipsfiguren der Souvenirhändler. Ein Bagger verstellt den Blick auf die Moschee, ein blankpoliertes Auto parkt in einer engen Altstadtgasse. Zusammen ergeben die Bilder eine sorgfältig komponierte, persönlich und erzählerisch angelegte Reisereportage eines Fotografen, der sich offensichtlich viel Zeit genommen hat, einen Zugang zu Land und Leuten zu gewinnen.

Diese Bildserie ist das Ergebnis einer zweimonatigen Reise durch Griechenland und die Türkei, die René Burri 1957 im Auftrag von Reemtsma unternahm. Der junge Schweizer war zu diesem Zeitpunkt gerade Anwärter der bekannten Agentur Magnum geworden und bereiste für Magazine wie „DU“ oder „Stern“ Europa und den Mittleren Osten; wenig später wurde er mit seinen Reportagen über „Die Deutschen“(1962)14 und Che Guevara (1963) sowie Fotos aus Vietnam, Kambodscha oder Beirut weltberühmt.15 Über den Auftrag aus dem Jahr 1957 berichtet eine Vertreterin von Magnum: „Ein Herr Jäger“ habe Burri „in Zürich besucht, um ihm den Auftrag anzubieten. Er kannte wohl Renés Arbeit aus der ‚DU‘.“ Burri sei je einen Monat in Griechenland und der Türkei gewesen und habe dort „sehr frei“ gearbeitet - „es ging hauptsächlich darum, Land und Leute zu fotografieren, natürlich mit der Auflage, etwas über die dortige Tabakproduktion zu machen“. Als Abschluss habe er „ein Editing an Reemtsma geschickt“, und dort seien die Bilder „zu Werbezwecken“ benutzt worden; weiter habe Burri „nichts mehr mit der Firma zu tun“ gehabt.16 Franz Jäger, der Leiter der Werbeabteilung bei Reemtsma, hatte sich also persönlich auf den Weg gemacht, um den jungen Fotografen für diese Reportage zu engagieren, und er ließ ihm recht freie Hand bei der Wahl seiner Motive.

6Pfeil

Im Werbemittelarchiv finden sich Fotografien von René Burri in den Illustriertenanzeigen für die Marke „Gelbe Sorte“ als Teil einer zwischen 1954 und 1959 veröffentlichten Kampagne mit dem Slogan „Bilder aus der Heimat der edelsten Tabake der Welt“.17 In den ersten vier Jahren dieser Reihe waren über 40 Fotografien aus Griechenland und der Türkei publiziert worden, die antike Architektur und Hafenszenen, Moscheen und orthodoxe Kirchen sowie Menschen in Tracht zeigten. Viele von ihnen hatte Werner Mannsfeldt fotografiert, der 1937 und 1938 ebenfalls im Auftrag Reemtsmas auf Fotoreise gegangen war. Andere stammten aus Archiven verschiedener Fotografen und waren von Reemtsma angekauft worden. 1958/59 wurden Bilder von Burris Orientreise verwendet - allerdings lediglich vier Motive: Mitte bis Ende September erschienen gemeinsam rauchende Tabakbauern im „Stern“, der „Neuen Illustrierten“ und der „Frankfurter Illustrierten“,18 daran anschließend bis Anfang Oktober die Tabakverladung auf ein Schiff,19 Mitte bis Ende Oktober ein Fischer mit Pelikan im Hafen von Mykonos20 sowie im März und April 1959 schließlich ein Eselreiter mit bepacktem Kamel.21

Wie es dazu kam, dass Reemtsma einen aufstrebenden Fotografen zwei Monate lang durch Griechenland und die Türkei reisen ließ, aus der großen Menge qualitativ hochwertiger Fotos aber nur ganz wenige auswählte und die Bilder auch später nicht mehr verwendete, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Immerhin gibt es einige Hinweise zum Hintergrund des Auftrags: Die 1921 eingeführte Marke „Gelbe Sorte“ hatte vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem Preis von 6 Pfennig pro Stück zu den teureren Marken gehört; der stets bescheidene, aber stabile Umsatz war nach 1930 abgesackt, und wie alle Vorkriegsmarken war sie im Jahr 1942 eingestellt worden. 1953 kam die „Gelbe Sorte“ - unverändert als Orientzigarette - wieder auf den Markt, doch auch nun blieben die Umsätze bescheiden. Auffällig ist, dass in der Werbung vor 1942 versucht wurde, das Image einer mondänen Luxus-Zigarette aufzubauen, nach 1953 hingegen das einer edlen Orient-Spezialität unter den marktbeherrschenden Virginiamischungen.

7Pfeil

Orientmotive - d.h. meist stereotype Abbildungen „orientalischer“ Menschen, Pyramiden und Moscheen, wie Ornamente in der Packungsgestaltung und entsprechend klingende Namen - hatten bis zum Ersten Weltkrieg die deutsche Zigarettenwerbung dominiert und waren auch bis 1942 populär gewesen. Reemtsma hatte in diesem Umfeld insofern eine Sonderrolle eingenommen, als die Werbung für seine Marken einen sachlich-dokumentarischen Stil geprägt hatte. Als sich nach 1945 der Wandel der Geschmacksvorlieben und der Siegeszug der Virginiazigaretten abzeichnete, versuchte Reemtsma - neben Neuentwicklungen wie der im ersten Abschnitt erwähnten „Fox“ - bis Mitte der 1950er-Jahre, den Markt für Orientzigaretten mit wieder eingeführten Marken wie „Laferme“, „Salem“ und eben der „Gelben Sorte“ neu zu beleben. In diese Phase des Umbruchs ist auch der Auftrag an René Burri einzuordnen.

Offenbar wurde Burri engagiert, um die seit 1953 aufgebaute „orientalische“ Bildsprache für die „Gelbe Sorte“ auf zeitgemäße Art und Weise weiterzuentwickeln. Trotz der geringen Umsätze der Marke und der unklaren Zukunft der Orientzigaretten war Reemtsma bereit, dafür einiges zu investieren. Zwar lässt sich aus der schließlich verwendeten schmalen Bildauswahl kaum auf ästhetische Vorstellungen der Werbefachleute schließen, doch bleibt festzuhalten, dass das von Burri mit großer Sorgfalt und offensichtlichem Interesse dokumentierte Nebeneinander von Tradition und Moderne nicht vorkommt. Statt die Reportage - wie ursprünglich sicher geplant - für eine längere Anzeigenserie zu nutzen, verwendete die Werbeabteilung ab April 1959 Nahaufnahmen antiker Ornamente und Säulendetails in der Kampagne für die „Gelbe Sorte“. Damit wandte sie sich vom bisherigen „dokumentarischen“ Duktus ab, und Burris Fotos wanderten ins Archiv.

3. Fazit

Die beiden Bestände aus dem Fotoarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken sind Beispiele für eine geplante, aber nicht bzw. nicht im geplanten Sinne realisierte Nutzung der Fotografie für Werbezwecke. In beiden Fällen sind die genauen Gründe dafür nicht rekonstruierbar, doch bieten sie Hinweise auf die Arbeitsprozesse im Unternehmen. Auch lenken die beiden Bildserien den Blick auf die Besonderheiten fotografischer Überlieferung in einem Unternehmensarchiv und auf die Tatsache, dass die gängigen Quellen zur Geschichte der Werbung - meist abgedruckte Anzeigen oder Plakate - stets das Ergebnis eines mitunter langwierigen und kostspieligen Prozesses sind, in dem neben den unterschiedlichen Akteuren (Fotograf, Werbeabteilung, Unternehmensleitung) auch externe Faktoren (fotografische Trends und Genres, Markt- und Markenentwicklungen, Produktinnovationen, Trends in Werbung und Marketing) eine wichtige Rolle spielen. Die beiden vorgestellten Fotoserien entstanden in einer Umbruchphase auf dem deutschen Zigarettenmarkt, welche die Hersteller - und damit auch die für Werbung Verantwortlichen sowie deren Zuarbeitende - vor enorme Herausforderungen stellte. Der Wandel der Geschmacksvorlieben bei Zigaretten wie auch die sich formierende westdeutsche Nach-kriegsgesellschaft erforderten die Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen und Bezügen. In den 1950er-Jahren - als sich erst langsam abzeichnete, dass die Zeit der Orientzigaretten endgültig vorbei war - konnte dies eine Neuinterpretation des traditionellen „Orient“-Bezugs ebenso sein wie die Entwicklung des neuen Themas „Amerika“. In beiden beschriebenen Fällen gibt es gute Gründe für die Hypothese, dass ursprüngliche Planungen für Anzeigenkampagnen nicht ausgeführt wurden, weil die Entscheidung für eine andere Bildsprache in der Werbung fiel.

8Pfeil

Die Fotobestände Weber und Burri sind weiterhin Dokumente einer Tradition der Fotografie und der spezifischen Form der „Tabakreisen“ bei Reemtsma. Diese Tradition reicht von der umfangreichen Motivsammlung aus den Anbauländern des Tabaks, zusammengestellt vom Chefeinkäufer und Teilhaber David Schnur in den 1920er-Jahren,22 über die zunehmend systematische Nutzung der Fotografie in der Werbung, unter anderem mit den Orientbildern Werner Mannsfeldts aus den 1930er-Jahren, bis zu den Aufträgen an Wolfgang Weber und René Burri sowie schließlich an Thomas Grebe, der im Jahr 1965 in die USA reiste. Diese Verwendung der journalistischen oder Reportagefotografie in der Werbung wie in der Unternehmenskommunikation endete bei Reemtsma mit der zunehmenden Nutzung der spezialisierten Werbefotografie seit den 1970er-Jahren. Unter dem Einfluss neuer Marketingkonzepte wurde die Fotografie nun dazu eingesetzt, ein vorab ausformuliertes Produktimage zu bebildern; Anzeigenkampagnen wurden von Full-Service-Agenturen entwickelt und umgesetzt. Damit verlor der dokumentarische Duktus der Werbung - in mancher Hinsicht eine Spezialität Reemtsmas - an Bedeutung, und die Werbebilder entfernten sich endgültig von der (wenn auch stets inszenierten) Realität. So erscheint es folgerichtig, dass die bundesdeutsche Werbung für die Marke „Marlboro“ erst 1972 - immerhin neun Jahre später als in den USA - auf die Werbefigur Cowboy setzte.23

Anmerkungen:

1 Zur Geschichte des Unternehmens Reemtsma vgl. Erik Lindner, Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg 2007; an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ist mit der Dissertation von Tino Jacobs zum Thema „Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961“ eine erste umfassende Darstellung aus unternehmenshistorischer Perspektive entstanden (erscheint im Herbst 2008). Zum Agieren Reemtsmas besonders in der NS-Zeit vgl. Hartmut Rübner, Unternehmensinteressen und Vierjahresplan. Der Reemtsma-Konzern im „Dritten Reich“, in: Sozial.Geschichte 22 (2007) H. 3, S. 13-42; Frank Bajohr, Corruption et industrie: L’usine de cigarettes de Reemtsma ou comment ‚cultiver le paysage politique‘ sous le Troisième Reich, in: Dominique Barjot u.a. (Hg.), Industrie et politique en Europe occidentale et aux Etats-Unis (XIXe et XXe siècles), Paris 2006, S. 301-313; Karl Heinz Roth, Fordismus und Faschismus. Schlaglichter auf die Geschichte des Reemtsma-Konzerns 1910-1945, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung 30 (2007), S. 1-30. Ebenfalls aufschlussreich sind die zeitgenössischen Untersuchungen von Josua Gerstner, Die Konzentration der deutschen Zigarettenindustrie, Jena 1933, und Carl Hausberg, Die deutsche Zigaretten-Industrie und die Entwicklung zum Reemtsma-Konzern unter besonderer Berücksichtigung der Reemtsma-Werke, 2. Aufl. Würzburg 1938.

2 Die beiden Reemtsma-Archive wurden 2003/04 vom Museum der Arbeit übernommen und werden seitdem inventarisiert. Im Rahmen der Ausstellung „Rauchzeichen. Das historische Fotoarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken“ (21. April bis 3. Juli 2005) wurde eine Auswahl vorgestellt; ein thematisch gegliederter Überblick ist verfügbar unter http://www.fotoarchiv-reemtsma.de. Ebenfalls online recherchierbar ist eine repräsentative Auswahl aus dem Werbemittelarchiv, vgl. http://www.museum-der-arbeit.de/de/das-museum-der-arbeit/sammlungen/das-werbemittelarchiv-der-reemtsma-cigarettenfabriken.htm#.Vi_czStg0pQ. Seit Ende 2005 wird das Werbemittelarchiv außerdem im Rahmen des Forschungsprojekts „Unternehmenskommunikation und Werbestrategien der Reemtsma Cigarettenfabriken 1920-1960“ von Sandra Schürmann bearbeitet.

3 Die Mappe gehört zum Konvolut Reemtsma Fotoarchiv im Museum der Arbeit, Inventar-Nr. MA.A 2003/031.075. Bestände aus dem Reemtsma-Archiven im Museum der Arbeit werden im Folgenden zitiert als: MdA ReeA plus Inventar-Nummer.

4 Wolfgang Weber (1903-1985) arbeitete seit den späten 1920er-Jahren als reisender Bildjournalist, wurde 1946 Chefreporter der „Neuen Illustrierten“ in Köln und arbeitete ab 1965 auch für das Fernsehen; vgl. Ute Eskildsen (Hg.), Fliegen Sie sofort nach... Wolfgang Weber - Reportagen, Fotografie und Film 1925 bis 1977, Ausstellungskatalog Museum Folkwang Essen, Göttingen 2004.

5 Vgl. die Angaben zur USA-Reise Webers ebd., S. 97f.

6 Die herbstlichen Tabakauktionen waren ein Höhepunkt in den Städten der Region, und Reemtsma legte 1960 seiner Jubiläumsschrift eine Schallplatte mit den legendären Gesängen der Auktionatoren bei. Ein Hörbeispiel der „Tobacco Lingo“ ist zu finden unter http://www.fotoarchiv-reemtsma.de/Themen/12_Weber/index.html

7 „Foto-Kontakte USA Tabak, Wolfgang Weber 1950“, MdA ReeA MA.A 2003/031.073; großformatiges Album „Viginia-Bilder. Wolfgang Weber“, MdA ReeA MA.A 2003/031.074.

8 Zusammenhängende Aufnahmen Webers von speziellen Orten oder singulären Ereignissen (Besuch im Cherokee-Reservat, Festumzug) sind an unterschiedlichen Stellen im Album vertreten.

9 Die Idee, neben der offiziellen weißen „Miss Virginia“ auch eine „schwarze Virginia“ zu fotografieren, stammt sicher von Weber selbst.

10 Vgl. hierzu Eskildsen, Fliegen Sie sofort nach... (Anm. 4), S. 97: In der Korrespondenz mit der „Neuen Illustrierten“ schlug Weber vor, seine Reportagen als Fortsetzungsserie mit persönlichem Bezug zu veröffentlichen und jede Folge mit einer (fiktiven) Leserfrage zu verbinden („Gibt es in Amerika noch Indianer?“). Seine Reportage „Die große Straße“ (Highway US1) erschien dann im Herbst 1950 auch als Serie, allerdings blieben Tabakthemen ausgespart. Die Negative von der „Tobacco Road“ hatte er schließlich an Reemtsma verkauft.

11 In der Motivliste der Abzüge vom 18.4.1951 werden die „Bilderbriefe“ noch ausdrücklich erwähnt.

12 MdA ReeA MA.A 2003/031.402.

13 Vermutlich sind also einzelne Bilder aus dem Portfolio oder den kleinen Arbeitsabzügen im Laufe der Jahre verloren gegangen.

14 René Burri, Die Deutschen, Zürich 1962.

15 Der 1933 geborene René Burri wurde 1959 Vollmitglied bei Magnum; er lebt und arbeitet heute in Zürich und Paris.

16 E-Mail Andrea Holzherr/Magnum Photos an Stefan Rahner/Museum der Arbeit, 17.2.2005.

17 Anzeigen MdA ReeA MA.A 2005/032.029.022-032, .083-093 und .334-344.

18 Anzeige MdA ReeA MA.A 2005/032.029.193.

19 Anzeige MdA ReeA MA.A 2005/032.029.192.

20 Anzeige MdA ReeA MA.A 2005/032.029.191. Dieses Motiv ist weder im Portfolio noch unter den Abzügen erhalten, ist wegen der Ähnlichkeit mit anderen Aufnahmen aber mit großer Wahrscheinlichkeit Burri zuzuschreiben.

21 Anzeige MdA ReeA MA.A 2005/032.029.229.

22 Fotoalbum „Tabakanbau im Orient“, Bd. 1 und 2, MdA ReeA MA.A 2003/031.063 und .064.

23 Vgl. Clemens Wischermann, Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung, in: Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 8-19, hier S. 17f. Der Cowboy löste in der Ikonographie der Zigarettenwerbung auch das beliebte HB-Männchen „Bruno“ ab; siehe dazu Gerhard Paul, Das HB-Männchen - Werbefigur des Wirtschaftswunders, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1+2 (2007), S. 84-115.

Abbildungen: Museum der Arbeit/Reemtsma-Archive

Licence

Copyright © Clio-online – Historisches Fachinformationssystem e.V. and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial purposes. However, republication can only be granted with prior written consent of the above-named rights holders. For permission to republish this work (including translations) please contact: <kirsch@zzf-potsdam.de>.

For the use of photographs, audio and video material included in the articles note the stated terms of licence and the rights holders.