Ermüdungsbrüche im Wohlfahrtsstaat

Claus Offes frühe Hinweise auf „Strukturprobleme“ von „spätkapitalistischen“ Gesellschaften

Anmerkungen

Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972.
 

 

Zu keinem Zeitpunkt wurde der „kurze Traum immerwährender Prosperität“1 intensiver und farbiger geträumt als zu Beginn der 1970er-Jahre. Mit Karl Schillers ökonomischer Globalsteuerung hatte die Große Koalition das Instrumentarium keynesianischer Konjunkturregulierung in ihre Wirtschaftspolitik integriert. Und als die Mini-Rezession von 1966/67 rasch überwunden werden konnte, schien es, als sei der kapitalistische Drache endgültig in Bande geschlagen und in einen Goldesel verwandelt. Ein langfristig stabilisiertes Wirtschaftswachstum würde steigende Einkünfte aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bewirken und so die finanziellen Grundlagen sozialliberaler Reformpolitik dauerhaft sicherstellen. Das war die große Utopie.

Im Zeichen dieser Prosperitätserwartung beschloss der Bundestag im September 1972 nahezu einstimmig eine groß angelegte Rentenreform, die durch einen dreistelligen Milliardenbetrag fiktiver zukünftiger Beitragsüberschüsse finanziert werden sollte.2 Im selben Jahr erschien ein schmales Taschenbuch der „edition suhrkamp“, das einen kräftigen Gegenakzent zum Überschwang optimistischen Zukunftsvertrauens setzte. Den Reformplänen der sozialliberalen Koalition stellte Claus Offe in seiner „politische[n] Soziologie des Spätkapitalismus“ (S. 7) Vorbehalte entgegen: Ließen sich die Destruktivkräfte der kapitalistischen Produktionsweise durch staatliche Interventionen überhaupt regulieren? Welche Folgen hatte es, dass sich Staat und Wirtschaft durch solche Eingriffe immer enger miteinander verflochten? Und schließlich: Unter welchen Bedingungen konnte man die so verfestigten Strukturen überwinden?

Wie viele seiner Generation hatte Offe entscheidende Teile seines intellektuellen Rüstzeugs auf der anderen Seite des Atlantiks erhalten, wo der junge Sozialwissenschaftler nach der Promotion bei Jürgen Habermas anderthalb Jahre als Postdoctoral Fellow an den Universitäten Berkeley und Harvard verbrachte, bevor ihm sein Doktorvater 1971 eine Stelle am Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt anbot.3 In sperriger Sprache, die ihre Anregungen gleichermaßen aus der politischen Ökonomie marxistischer Prägung wie aus der Rezeption systemtheoretisch argumentierender US-amerikanischer Sozialwissenschaftler bezog, präsentierte Offe seinen Lesern ein ambitioniertes Untersuchungsprogramm zum Verhältnis von Staat, Demokratie und Ökonomie in den entwickelten Industriegesellschaften des Westens. Im Kern ging es dabei um die spannungsreiche Beziehung zwischen der „demokratischen Zähmung des Kapitalismus“ und „kapitalistischer Konditionierung der Demokratie“.4 Dass dies Fragen waren, die den Zeitgenossen auf den Nägeln brannten, zeigt die hohe Auflage von mehr als 50.000 Exemplaren, die Offes Aufsatzsammlung zu einem veritablen „Klassiker der Siebziger“5 machten.

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Anders als die Mehrzahl linker Sozialwissenschaftler, die sich Anfang der 1970er-Jahre vor allem für Ungleichheiten und soziale Konflikte interessierten, welche die marktwirtschaftliche Produktionsweise hervorbrachte, machte Offe nicht diese Disparitäten, sondern die ungezügelte Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft zum Fluchtpunkt der Analyse. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die von Marx entlehnte Denkfigur, dass Gesellschaften mit kapitalistischer Wirtschaftsverfassung entscheidend durch die „Unausweichlichkeit der im ‚privaten‘ Produktionsprozeß verankerten selbstnegatorischen Tendenzen“ geprägt seien (S. 11). Wirtschaftliches Wachstum und der darauf basierende Wohlstand bildeten demnach sowohl eine Grundvoraussetzung politischer und sozialer Integration als auch eine Quelle andauernder Instabilität.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Offe ein historisches Stufenmodell (S. 22), in dem er verschiedenen industriegesellschaftlichen Entwicklungsstadien jeweils charakteristische, durch wechselnde Akteursgruppen organisierte „Auffang-Mechanismen“ zur Krisenverhinderung zuordnete. Diese Mechanismen erstreckten sich im historischen Verlauf auf zunehmend größere Bereiche von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Am Ende dieser Entwicklung stehe der keynesianische Wohlfahrtsstaat, der mittels antizipatorischer Politik in die Gesamtheit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse interveniere (S. 113f.). Er wurde laut Offe durch drei Problemachsen charakterisiert: Erstens manifestiere sich der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital nicht mehr wie im Frühkapitalismus durch soziale Auseinandersetzungen, sondern sei in das politische System des modernen Wohlfahrtsstaats gleichsam eingewoben. Dies führe zu einer unauflösbaren Dauerspannung widerstreitender Funktionslogiken, die bis hin zur Möglichkeit eines Strukturbruchs reiche (S. 38). Während der privat-kapitalistische Sektor dem Leitkriterium ökonomischer Rentabilität folge, sei der administrativ-politische Sektor auf demokratische Legitimation angewiesen und orientiere sein Handeln daher vorrangig daran, unerwünschte Folgen kapitalistischen Wirtschaftens zu kompen-sieren.6 Zweitens würden wirtschaftliche Prozesse zunehmend politisiert, weil der Staat durch sozialpolitische Regulierung marktvermittelte Zwänge zurückdränge und gleichzeitig durch infrastrukturelle Vorleistungen und konjunkturpolitische Maßnahmen immer mehr ökonomische Verantwortung übernehme. Auf diese Weise werde der Staat selbst immer mehr Teil des Konflikts widerstreitender Klasseninteressen, deren Ausgleich ihn langfristig überfordere.7 Drittens, so vermutete Offe, sei mit der Ausbildung des keynesianischen Wohlfahrtsstaates das Potenzial zur „adaptiven Selbsttransformation“ kapitalistischer Gesellschaften „kategorial erschöpft“ (S. 24f.). Substantiell neue Möglichkeiten zum Ausgleich ihrer inneren Widersprüche stünden nicht mehr zur Verfügung; als Zukunftsperspektive bleibe nur die Verfeinerung und Rekombination bestehender Auffangmechanismen. Daher lasse sich diese sozialökonomische Formation mit dem Begriff „Spätkapitalismus“ bezeichnen.

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Offes Buch hielt Provokationen für Leser ganz unterschiedlicher Couleur bereit. Indem es einen steigenden Bedarf an demokratischer Legitimation politischer Entscheidungen als Folge staatlicher Funktionszuwächse postulierte, konnte es als Kampfschrift gegen einen Lieblingsfeind linker Sozialwissenschaftler gelesen werden: die in den 1960er-Jahren zeitweise populäre These Helmut Schelskys von der Ablösung des politischen Entscheidungshandelns im Sinne einer normgeleiteten Willensbildung durch eine von technokratischen Experten definierte „Sachgesetzlichkeit“.8 Sodann stellten die „Strukturprobleme“ Grundannahmen der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie in Frage, derzufolge das Zusammenspiel von Demokratie, Markt-wirtschaft und wissenschaftlichem Fortschritt einen politischen Strukturwandel im Sinne größerer Partizipationschancen, gerechterer Güterverteilung und besserer politischer Steuerung ermögliche.9 In diesem Zusammenhang lässt sich die von Offe formulierte Variante der Spätkapitalismus-Theorie auch als „radikaler Gegenentwurf zur reformorientierten sozialwissenschaftlichen Forschung“ deuten.10 Während Wissenschaftler wie Fritz Scharpf auf die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse durch wissenschaftlich angeleitete Reformpolitik setzten und sich mit dem Hauptteil ihrer Arbeitskraft in der Politikberatung engagierten, beschrieb Offe politisches Handeln als klassenspezifischen „Sortierprozeß“ (S. 74), der einen Großteil der Entscheidungsalternativen von vornherein ausschließe, und argumentierte, der tatsächliche Spielraum für politische Veränderungen sei gering. Da der moderne Wohlfahrtsstaat seine Mittel zur Intervention in soziale Verhältnisse nur aus dem Produktionsertrag schöpfen könne und so von den Interessen der Unternehmen abhängig bleibe, falle „der Horizont des politisch Möglichen mit dem Horizont des für kapitalistische Verwertungsinteressen Vorzugswürdigen im wesentlichen“ zusammen.11 Auch orthodoxe Marxisten mussten sich durch die „Strukturprobleme“ herausgefordert fühlen, sah Offe doch die Hauptlinie gesellschaftlicher Auseinandersetzungen nicht zwischen den Produktivkräften Kapital und Arbeit, sondern innerhalb des politischen Systems. Nicht mehr soziale Konflikte und ökonomische Krisen seien daher die charakteristischen Krisenphänomene hoch industrialisierter Demokratien, sondern zunehmende Legitimationsdefizite politischer Entscheidungen (S. 51f.).

Kein Wunder also, dass die „Strukturprobleme“ nicht nur viel gelesen, sondern auch viel kritisiert wurden. Die zeitgenössischen Monita reichten vom Totschlag-Argument oberflächlicher Marx-Rezeption über die Forderung nach einer stärkeren historisch-empirischen Rückbindung bis hin zu der vorsichtigen Anfrage, ob sich durch wohlfahrtsstaatliche Interventionen der Charakter der gegenwärtigen Verhältnisse nicht so stark verändert habe, dass der Terminus „Spätkapitalismus“ diese nicht mehr exakt bezeichne.12 Leicht ließe sich auch anführen, dass die meisten Voraussagen Offes nicht eingetreten sind. Aus heutiger Perspektive ist freilich weniger der - von Offe selbst stark relativierte - prognostische Gehalt des Begriffs „Spätkapitalismus“ interessant.

Weiterführend erscheinen vielmehr drei Überlegungen: Indem Offe einen Akzent auf die innere Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Makro-Strukturen und die daraus resultierende Dynamik ihrer Wechselwirkungen setzte, markierte er in einer Zeit, in der viele westliche Gesellschaften mit der zunehmenden Staatsintervention ein Mittel zur dauerhaften Prosperitätssicherung und sozialen Integration zu besitzen glaubten, damit verbundene Gefahrenpotenziale staatlicher Überlastung. Zweitens entwarf er einen theoretischen Bezugsrahmen, der es erlaubt, wohlfahrtsstaatliche Arrangements gleichermaßen als notwendige Funktionsbedingung entwickelter Industriegesellschaften wie als mögliche Quelle ihrer Überforderung zu analysieren, mithin den modernen Wohlfahrtsstaat ebenso als Problemlöser wie auch als Problemerzeuger zu untersuchen. Für Historiker, die Zeitgeschichte als „Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen“ in den Blick nehmen,13 eröffnet diese Forschungsperspektive vielfältige Anschlussmöglichkeiten. Drittens verfügt Offes Denken in Relationen und Wechselwirkungen zwischen Staat, Kapitalismus und Demokratie über deutlich mehr Erklärungskraft als die in den 1970er-Jahren populäre Ableitung gesellschaftlicher Entwicklungen aus bipolar und statisch strukturierten Klassenverhältnissen. Seine aktuelle Wiederentdeckung als Instrument der vergleichenden Analyse von Wohlfahrtsstaaten verweist auf ein analytisches Potenzial, das auch vielen gegenwärtigen Theorien wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung, die zumeist einen Bewegungsfaktor einseitig isolieren, überlegen sein könnte.14

Anmerkungen:

1 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt a.M. 1989.

2 Zur Rentenreform 1972 vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz. Die Rentenreform 1972 - ein Lehrstück, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 903-934.

3 Zur Prägewirkung seines Forschungsaufenthalts in den Vereinigten Staaten siehe Claus Offe, Vorwort, in: ders., Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie. Veränderte Neuausgabe herausgegeben und eingeleitet von Jens Borchert und Stephan Lessenich. Mit einem Vor- und Nachwort von Claus Offe, Frankfurt a.M. 2006, S. 7-10, hier S. 10.

4 So Jens Borchert/Stephan Lessenich, „Spätkapitalismus“ revisited: Claus Offes Theorie und die adaptive Selbsttransformation der Wohlfahrtsstaatsanalyse, in: Zeitschrift für Sozialreform 50 (2005), S. 563-583, hier S. 580, mit Blick auf die Geschichte des modernen Wohlfahrtsstaats.

5 Die Bundesrepublik als Schattenriß zweier Lichtquellen. Ein Gespräch mit Claus Offe, in: Ästhetik & Kommunikation 36 (2005) H. 129/130, S. 149-161, hier S. 155. Dass dieses Rezeptionsinteresse nicht auf Deutschland beschränkt blieb, zeigen zahlreiche Teilübersetzungen der „Strukturprobleme“ ins Englische (1973, 1974, 1975, 1987), Italienische (1977), Spanische (1977), Französische (1984), Portugiesische (1984), Slowenische (1985), Japanische (1988), Ungarische (1989) und Kroatische (1989); vgl.
https://www.hertie-school.org/fileadmin/images/Downloads/core_faculty/Claus_Publications_List.pdf, S. 2f.

6 Borchert/Lessenich, „Spätkapitalismus“ (Anm. 4), S. 573, S. 579.

7 Dabei sah Offe das Hauptproblem weniger in einer Überbeanspruchung der ökonomischen Ressourcen durch den modernen Wohlfahrtsstaat als im schwindenden Legitimationspotenzial „distributiver Pazifizierung“ (S. 113 [Zitat], S. 116), also der versuchten Stabilisierung durch staatliche Umverteilung.

8 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation [1961], in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, S. 439-480, hier S. 453 (Zitat), S. 456. Zur Auseinandersetzung mit Schelsky vgl. insbes. Claus Offe, Das Politische Dilemma der Technokratie, in: ders., Strukturprobleme, S. 107-122.

9 Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders./Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203-232, hier S. 205f.

10 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 397, mit allgemeinem Bezug auf das Spätkapitalismus-Theorem.

11 So im Rückblick Claus Offe, Erneute Lektüre. Die „Strukturprobleme“ nach 33 Jahren, in: ders., Strukturprobleme (Anm. 3), S. 181-196, hier S. 192.

12 Rezension von Stefan Leibfried, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), S. 114-116, hier S. 116; Bernd Guggenberger, Ökonomie und Politik - Die neomarxistische Staatsfunktionenlehre, in: ebd., S. 425-471, hier S. 464.

13 Hans Günter Hockerts, Einleitung, in: ders. (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. VII-XV, hier S. VIII.

14 Vgl. zu diesem Punkt die Argumentation von Borchert/Lessenich, „Spätkapitalismus“ (Anm. 4), S. 572, S. 580, die vorschlagen, das in den „Strukturproblemen“ entwickelte analytische Raster zur Untersuchung der gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung im Zeichen der Globalisierung zu nutzen.

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