In den Kellern der französischen Einwanderungspolitik (1945–1975)

Anmerkungen

Nachdem sie über lange Zeit ein gleichsam illegitimes Studienobjekt war, hat die Geschichte der französischen Einwanderungspolitik inzwischen ihren Adelsbrief erhalten. Das Überangebot an Archiven mit ministeriellen Runderlassen, Verordnungen und Korrespondenzen hat es einigen Autoren ermöglicht, peinlich genaue Topographien der Verwaltungsbehörden zu liefern. Diese Analyse staatlichen Handelns beschränkt sich auf die Mitglieder der Ministerialkabinette und die hohen Funktionäre, vernachlässigt aber die Rolle derjenigen Beamten, die mit der Ausführung der Gesetze beauftragt sind. Um mit dieser Art Reduktionismus zu brechen, ziehe ich einen Blickwinkel vor, der sich auf die administrativen Praktiken konzentriert und bereits von Michel Foucault vorgeschlagen worden ist: „[...] es geht nicht darum, die regulierten und legitimen Formen der Macht in ihrem Kern und in ihren allgemeinen Mechanismen oder ihren Gesamtwirkungen zu analysieren. Es geht vielmehr darum, die Macht an ihren Grenzen, in ihren äußersten Verästelungen, dort, wo sie haarfein wird, zu erfassen, die Macht also in ihren regionalsten und lokalsten Formen und Institutionen zu packen, besonders dort, wo sie sich über die Rechtsregeln, von denen sie organisiert und begrenzt wird, hinwegsetzt und sich konsequent über diese Regeln hinaus verlängert, sich in die Institutionen eingräbt, in Techniken verkörpert und zu materiellen, vielleicht sogar gewaltsamen Interventionsinstrumenten greift.“1 Ein solches Vorhaben legt es nahe, auf eine Quelle zurückzugreifen, die von den Migrationshistorikern bislang wenig herangezogen worden ist: die personenbezogenen Aufenthaltsdossiers, die von den Beamten der Präfektur geführt werden.2 Als Akten mit Personenstandsangaben unterliegen sie einer mindestens 60-jährigen Sperrfrist. Allerdings kann für wissenschaftliche Zwecke ohne weiteres eine Sondergenehmigung zur Akteneinsicht beantragt werden, wenn die Anonymität der genannten Personen garantiert wird.

In Frankreich wird die Periode zwischen 1945 und 1974 häufig einseitig als eine Periode der Ermunterung zur Einwanderung dargestellt, in deren Verlauf der Staat lediglich eine schwache Kontrolle über den Aufenthalt von Ausländern ausgeübt habe. Eine Durchsicht der Ausländerdossiers, die in der Polizeipräfektur von Paris aufbewahrt werden, zwingt jedoch dazu, diese Feststellung zu differenzieren. Zwar hat sich der juristische Rahmen, wie er durch die Verordnungen von 1945 festgelegt wurde, während dieser drei Jahrzehnte kaum verändert - der Erlass vom Oktober 1945, der ein Staatsangehörigkeitsrecht festlegte, wurde erst 1973 revidiert, und der Erlass vom November 1945 über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern erfuhr nur marginale Modifizierungen. Doch in Abwesenheit eines legislativen Wandels fand ein wesentlicher Teil der Migrationspolitik hinter den Schaltern der Präfekturen statt. Eine Untersuchung der administrativen Praktiken von unten, in ihrer alltäglichsten Dimension, ergibt ein völlig anderes Bild als die bloße Retrospektive der offiziellen Texte: Wenn die Einwanderungspolitik anhand der individuellen Dossiers studiert wird, dann erlaubt dies, die Kriterien für die Verwaltung der Einwanderung und die impliziten Hierarchien, die die bürokratische Tätigkeit bestimmten, sehr unmittelbar zu ermitteln.3 Die Untersuchung solcher Dossiers ist auch ein Mittel zum Verständnis der Strategien von Widerstand und Zustimmung seitens der Einwanderer selbst. Diese Aufenthaltsstrategien sind vielfältig; sie werden erkennbar in der Art, in der die Einschreibung bei der Verwaltung erfolgt, in der individuellen Mobilität zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft oder auch in der Entscheidung, einen Einbürgerungsantrag zu stellen.

Seit der Einführung der Identitätskarte für Ausländer im Jahr 1917 ist das Aufenthaltsdossier allmählich ein wesentliches Element der Kontroll- und Identifizierungsmittel gegenüber Ausländern geworden.4 Jedesmal, wenn ein Ausländer auf der Präfektur oder im Bürgermeisteramt vorstellig wird, um erstmals eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen, wird ein individuelles Dossier angelegt, das den Staatsbeamten in der Folge als Referenz für jegliche Entscheidung dient, die hinsichtlich der betreffenden Person zu fällen ist. Wenn der Ausländer in ein anderes Departement umzieht, wird sein Dossier sofort an die nun zuständige Präfektur seines neuen Aufenthaltsortes übermittelt, und während der gesamten Zeit, die der Aufenthalt in Frankreich andauert, wird es weiter vervollständigt, ohne dass die Betreffenden jemals Zugang dazu erhalten würden.

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Bei jedem Antrag für die Aufenthaltskarte (carte de séjour) stellen die Beamten der Präfektur Untersuchungen über das Verhalten des Ausländers an. Diese Moralitätsprüfung ist in vielen Punkten mit derjenigen bei Einbürgerungsverfahren vergleichbar;5 allerdings ist sie schon wegen der weitaus größeren Zahl von einschlägigen Fällen wesentlich knapper gehalten. Wird eine befristete Karte beantragt, muss der Antragsteller eine „Identifizierungsnotiz“ ausfüllen (notice d’identification), die Angaben über seinen Zivilstand, seinen Beruf, seinen Familienstand und die Art seiner Einreise nach Frankreich enthält. Der Antrag auf eine für drei Jahre befristete Karte führt zu weitergehenden Nachforschungen, die in einem vierseitigen „Bericht über Nachforschungen bezüglich des Aufenthaltsrechts“ (rapport d’enquête sur l’admission au séjour) zusammengefasst werden. Dieser Bericht folgt den gleichen Rubriken wie die „Identifizierungsnotiz“, enthält aber darüber hinaus Angaben zum „Grund des Aufenthaltes“, zu den „Unterhaltsquellen“ (Name und Ruf des Arbeitgebers, Miethöhe), über „Referenzen und Sozialkontakte“, das „Verhalten im Rahmen der Familie“ und schließlich die „politische Haltung“.

Die polizeilichen Nachforschungen, die in dieser Weise angestellt werden, zielen darauf, jedes abweichende oder verdächtige Verhalten zu registrieren und eventuell zu sanktionieren. In der Praxis werden die Angaben durch die Gesamtheit der Informationen vervollständigt, über die die verschiedenen Verwaltungsbehörden seit der Einreise eines Ausländers und über seinen gesamten Aufenthalt hinweg verfügen. Weitere Untersuchungen werden in diesem individuellen Aufenthaltsdossier abgelegt. Tatsächlich betreiben die Beamten der Präfektur jedesmal zusätzliche Nachforschungen, wenn ein Ausländer sich in irregulärer Situation befindet, bei jedem Antrag auf die Aufenthaltskarte, jedem Wohnungswechsel über Departementsgrenzen, jedesmal, wenn der Ausländer das Land verlässt, wenn er seine Familie einreisen lassen will oder eine Geburtsanzeige für ein in Frankreich geborenes Kind aufgibt. In der Regel bestehen diese Berichte darin, Informationen zu bestätigen oder zu überprüfen, die die Verwaltung bereits gesammelt hat. In den meisten Fällen stützt sich die Verwaltung einerseits auf die Erklärungen des Ausländers und andererseits auf die Einsicht in die Akten der verschiedenen Behörden, die entsprechende Informationen liefern sollten.6 Bei einer Ordnungswidrigkeit kann sie über ein Aufenthaltsverbot entscheiden, wie im Fall von Oreste C., der nach Frankreich gekommen war, um seine Tätigkeit als Stoff- und Handschuhhändler auzuüben:7 „Oreste C. wurde heute in der Nähe der Wohnung gestellt, die er seit dem 20. Juli 1956 bewohnt. Befragt über den Grund für seine verlängerten Aufenthalte und seine Unterhaltsquellen erklärt er zunächst, er sei Vertreter für Handschuhe, dann, er lebe von den Einkünften aus drei Schuhgeschäften, die er in Italien besitze. Aus dem Polizeibuch seines Hotels geht vor allem hervor, dass er dort ohne Unterbrechung vom 20. Juli bis zum 3. Oktober 1956, vom 12. d.M. bis zum folgenden 2. November, vom 24. November bis zum 22. Dezember gewohnt hat und schließlich am 1. Januar dorthin zurückgekehrt ist. Schließlich hat er keinerlei Nachweis für seine Angaben erbringen können, und es ist wahrscheinlicher, dass er - wie viele seiner Landsleute, die aus Neapel stammen - seinen Unterhalt hauptsächlich aus dem Stoffhandel bezieht.“

Nachdem ein Aufenthaltsverbot verhängt wird, ist Oreste C. im März 1957 Gegenstand eines weiteren Berichts der Polizeipräfektur an das Innenministerium: „Ich bin der Ansicht, die Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich sollte dem Antragsteller nur erteilt werden, wenn er das Einverständnis des Dienstes für ausländische Arbeitskräfte8 erhält, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.“ Da er diese nicht erhält, wird im April 1957 ein neues Aufenthaltsverbot verhängt; im Oktober 1958 gelingt es ihm schließlich, nach Frankreich zurückzukehren. Zu dieser Zeit war es einem Ausländer, der ein Aufenthaltsverbot erhalten hatte, ohne weiteres möglich, sein Glück in einem anderen Departement zu versuchen, indem er einen Beruf nannte, für den es auf dem lokalen Arbeitsmarkt einen Bedarf gab.

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Deutlich wird hier, dass die individuelle Nachforschung dazu dient, die Aufenthaltsmotive eines Ausländers zu kontrollieren und seine Angaben zu überprüfen, indem sie mit anderen Quellen verglichen werden. Ab der Mitte der 1950er-Jahre wurde diese individuelle Behandlung jedoch abgemildert - in dem Maße, wie die Einwanderung zunahm und ein wachsender Teil von Ausländern, die aus den ehemaligen Kolonien stammten, von der Aufenthaltskarte befreit war. Der Aktenplan für die individuellen Dossiers wurde demgemäß abgewandelt: Der wesentliche Teil des Dossiers stammt nun nicht mehr aus Informationen, die von Staatsbeamten gesammelt wurden, sondern besteht aus Dokumenten, die der Ausländer selbst beigebracht hat, um nachzuweisen, dass er die von der Verwaltung aufgestellten Bedingungen erfüllt. Die individualisierte Kontrolle, die sich auf die Existenz einer Untersuchung gründet, welche das Verhalten und die „Loyalität“ des Ausländers prüfen sollte, macht einem Umgang Platz, der jeden Einzelfall an allgemeinen Kategorien misst. Das individuelle Dossier behielt gleichwohl einen zentralen Platz in der Einwanderungskontrolle.

Das Aufenthaltsdossier ist nicht nur das Instrument eines „disziplinarischen Dispositivs“; es lässt sich auch als Niederschlag der Strategien der Einwanderer lesen, die dieser Form bürokratischer Dominanz unterworfen sind. Der Antrag für eine Aufenthaltskarte als Arbeitnehmer, Flüchtling oder Familienmitglied, die Deklaration auf der Präfektur vor oder nach der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrages, die Entscheidung, das Staatsgebiet an diesem statt an einem anderen Tag zu verlassen oder schließlich die französische Staatsbürgerschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beantragen, sind Optionen, die verschiedene Aufenthaltsstrategien widerspiegeln. Die Möglichkeit, solche Strategien zu entwickeln, hängt dabei natürlich von den Zwängen ab, die die Verwaltungsbeamten ausüben. Diese besitzen schließlich das Monopol über die legitime Interpretation der Regelungen und die Entscheidungsmacht, die daraus hervorgeht. In einer Situation, in der Einwanderung höchst erwünscht ist, stellt sich der Bereich der Möglichkeiten eines Ausländers, der sich in Frankreich niederlassen will, als relativ vielfältig dar: Er vermag zwischen verschiedenen Aufenthaltstiteln zu wählen oder kann sich entscheiden, sich nicht registrieren zu lassen, sofern das Fehlen eines Aufenthaltstitels nur selten sanktioniert wird.

So reisen in den 1950er-Jahren zahlreiche Ausländer, die nach Frankreich zu ihren EhepartnerInnen kommen, außerhalb des Verfahrens der Familienzusammenführung ein - sei es, weil ihnen dieses zu kompliziert ist, sei es, weil sie eine Ablehnung erhalten haben, wie im Falle von Antonio F.:9 Sechs Monate nach seiner Ankunft in Frankreich, im April 1957, beantragt der portugiesische Maurer Antonio F. für seine Frau und seinen Sohn die Familienzusammenführung. Der Leiter der Bevölkerungsabteilung des Departements lehnt diese ab, weil F. nur „ein Zimmer ohne Ofen, ohne Beleuchtung und mit unzureichender Deckenhöhe“ bewohne, und versendet eine Benachrichtigung über die Ablehnung.10 Einige Monate darauf, am 11. Juli, überschreiten die Gattin und ihr Sohn die Grenze mit einem Touristenvisum und lassen sich im Oktober 1958 ordnungsgemäß anerkennen. Die Ehefrau erhält einen Aufenthaltstitel als „Dienstbotin“.

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Diese Art, den Gesetzestext zu umgehen, war möglich wegen des Arbeitskräftebedarfs, der auf dem französischen Arbeitsmarkt zu jener Zeit bestand. Umgekehrt sind in restriktiven Phasen die Zugänge zu Aufenthaltstiteln stärker eingeschränkt und Formen der Irregularität wesentlich härter bestraft worden. Die Spannweite der möglichen Strategien gleicht sich nicht nur an die ökonomische Konjunktur und die Entwicklung der Migrationspolitik an; sie richtet sich auch danach, ob der Weg des Ausländers und seine vorherigen Kontakte mit der Verwaltung bekannt waren. Jede Zuerkennung eines Rechtstitels ist Ergebnis einer Kombination zwischen der Tätigkeit eines Beamten, der von seinem präfektoralen Ethos geleitet wird, und dem Antrag eines Ausländers, der eine mehr oder weniger erzwungene Strategie verfolgt. Da das Dossier sämtliche Aufenthalts- und Rechtstitel enthält, die ein Ausländer in Frankreich erwirbt, bleibt es die sichtbare Spur dieser Kombinationen.

Die diachrone Analyse einer Sammlung von Dossiers bietet daher die Möglichkeit, die Folge der Entscheidungen nachzuzeichnen, die von den Vertretern des Staates hinsichtlich jedes Ausländers getroffen wurden, und in der Rückschau die „Papierkarrieren“ nachzuvollziehen, die sie verursacht haben. Im Sinne Goffmans11 wird „Karriere“ hier nicht als Abfolge beruflicher Positionen verstanden, sondern als Bezeichnung für die Gesamtheit der Rechtspositionen, die ein Ausländer im Verlaufe seines Aufenthaltes in Frankreich erwirbt. Neben der Verkettung der Aufenthaltstitel geht jede Papierkarriere aus einem Prozess permanenter Neudefinition des Ausländerstatus hervor, der gleichzeitig von den Verwaltungsentscheidungen bestimmt ist und von den strategischen Entscheidungen, die diese hervorrufen. Ein solcher interaktionistischer Ansatz erlaubt es, die Bedingungen zu erforschen, unter denen die einen in Frankreich geblieben sind, während andere wieder gegangen sind, und die Gründe dafür zu untersuchen, warum manche Einwanderer Franzosen werden wollten, während andere Ausländer geblieben sind.

Die Dossiers bieten die Möglichkeit, den Ausgang der einzelnen Papierkarrieren kennenzulernen, ihr relatives Gewicht quantitativ zu bestimmen und die sozialen Determinanten zu ermitteln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede dieser Karrieren nicht erst mit der Anlage des Dossiers in der Präfektur beginnt, sondern bereits mit der Ankunft in Frankreich. Tatsächlich strukturiert schon das Ankunftsjahr die Papierkarriere des ausländischen Migranten, da es ihn in eine doppelte Zeitlichkeit einbindet - eine objektive und eine subjektive. Auf der einen Seite umfasst der objektive Zeitverlauf die Eigenheiten des ökonomischen und sozialen Kontextes (Arbeitskräftemangel, ökonomische Krise oder Bedarf in bestimmten Branchen) und den Grad staatlicher Organisierung (Bürokratisierungsgrad, Dispositionsspielräume der subalternen Beamten, Grad der Dezentralisierung der Entscheidungsfindung). Auf der anderen Seite verweist die subjektive, dem Migranten eigene Zeitlichkeit auf den bestimmten Moment, den die Erfahrung der Migration im Verlauf seines Lebensweges darstellt und der sich anhand von Variablen wie dem Familienstand, der Position im sozialen Raum oder auch dem Ankunftsalter messen lässt. Es ist die Verknüpfung dieser beiden Zeitlichkeiten, die der Papierkarriere ihren Rhythmus gibt.

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Das schriftliche Festhalten von Erklärungen eines Ausländers ist keine neutrale Operation, und jede Forschung, die an diesem Material ansetzt, bleibt in hohem Maße von den Modalitäten und Zielen der bürokratischen Tätigkeit abhängig. Die in den Dossiers enthaltenen Informationen erlauben es nur, die Wege derjenigen Ausländer festzustellen, die sich wenigstens einmal auf den Ämtern der Präfektur manifestiert haben; dagegen entziehen sich Ausländer, die sich nie haben registrieren lassen, jeglicher Nachforschung. Zudem werden solche Verwaltungsarchive von Beamten angelegt, die von einem gewissen staatsbezogenen Ethnozentrismus geleitet werden. Dieser besteht darin, dass die Existenz des Ausländers damit beginnt, dass er das Staatsgebiet der Aufnahmegesellschaft betritt. Die sozialen Bedingungen der Emigration bleiben ausgeblendet. Die Verwendung dieses Materials legt daher jeder Ambition, eine globale Soziologie der Einwanderung zu konstruieren, Fesseln an. Im Gegensatz zu den Diensttagebüchern, die Michael G. Esch untersucht, enthalten die individuellen Dossiers sehr wenig Informationen über das Alltagsleben der Ausländer und ihre Kontakte mit Franzosen. Auf der anderen Seite bieten sie die Möglichkeit, die alltägliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden am Einzelfall zu studieren.

Reiche Informationen bieten insbesondere diejenigen Dossiers, die die Wege von Ausländern beschreiben, die ihr ganzes Leben in Frankreich verbracht haben. Die Präfektur bewahrt auch die Dossiers von Ausländern auf, die das Staatsgebiet verlassen haben;12 kehrt ein Ausländer nach einem ersten Aufenthalt nach Frankreich zurück, wird das bereits angelegte Dossier wieder geöffnet und fortgeschrieben. Auch wenn ein Ausländer die französische Staatsbürgerschaft erwirbt oder verschwindet, wird sein Dossier über mehrere Jahre aufbewahrt. Die Dossiers werden lediglich aus praktischer Notwendigkeit heraus vernichtet, wenn ihre Zahl den für die laufenden Dossiers verfügbaren Platz sprengt.13 So ermöglicht die Informationsfülle der Dossiers eine sozialgeschichtliche Erforschung der Beziehungen des Staates zur Einwanderung. Das Interesse richtet sich also nicht auf die politischen Diskurse oder die Entwicklung der Gesetze, sondern auf die Vielfalt der Entscheidungen, die von Staatsbeamten in Bezug auf jeden Ausländer getroffen werden, der einen Aufenthaltstitel beantragt.

(Übersetzung: Michael G. Esch)

Anmerkungen:

1 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a.M. 2001, S. 42.

2 Siehe auch den Beitrag von Michael G. Esch in diesem Heft.

3 Ich erlaube mir, auf die Publikation meiner Doktorarbeit zu verweisen, die eine detailliertere Analyse enthält: Alexis Spire, Etrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945-1975), Paris 2005.

4 Siehe Gérard Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, Lüneburg 1994.

5 Siehe wiederum den Beitrag von Michael G. Esch.

6 Gelegentlich werden die Informationen der französischen Verwaltung durch Nachfragen im Herkunftsland vervollständigt; wenn der Ausländer sich als Exilant vorstellt, wird eine Anfrage an die Direction de la Surveillance du territoire (Grenzschutz) übermittelt.

7 Archives de la Préfecture de Police (APP), Dossier No. 2.012.850.

8 Anm. d. Ü.: Der „Dienst für ausländische Arbeitskräfte“ (Service de la main-d’œuvre étrangère) ist zuständig für die Regulierung des Zugangs ausländischer Arbeitskräfte zu den einzelnen Branchen.

9 APP, Dossier No. 2.017.475.

10 Anm. d. Ü.: In der französischen Rechtspraxis ist bzw. war es üblich, in nicht wenigen Fällen abschlägige Entscheidungen gegenüber Ausländern zu fällen, die diesen nicht mitgeteilt wurden. Dies galt insbesondere auch für Ausweisungen, die auf diese Weise zur Bewährung ausgesetzt waren (von der die Betreffenden nichts erfuhren) und zurückgenommen bzw. durch die Bekanntmachung vollstreckt werden konnten.

11 Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1973.

12 Es fehlen lediglich die Dossiers von Ausländern, die umgezogen sind: Diese werden an die Präfektur des neuen Wohnortes überstellt, und an Stelle des Dossiers wird eine schriftliche Notiz hinterlegt.

13 In der Präfektur der Seine sind Hunderttausende Dossiers aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und aus der Zwischenkriegszeit verschwunden oder vernichtet worden; die älteste komplette Serie umfasst das Jahr 1956. Diese Serie bildet die Grundlage der vorliegenden Ausführungen.

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