Zeitschleife Kreuzberg

Gentrification im langen Schatten der »Behutsamen Stadterneuerung«

  1. »Gentrification« –
    politischer Kampfbegriff und wissenschaftliches Konzept
  2. Verspätete Aufwertung in Kreuzberg
  3. Vom Erhalt der Sozialstruktur zur Verdrängungsgefahr
  4. Von der »Behutsamen Stadterneuerung« zur Ökonomie der Ertragslücken

Anmerkungen

West-Berlin galt besonders in den 1980er-Jahren als Hochburg der Subkultur, als Labor des stadtpolitischen Protestes und Experimentierfeld einer anderen Stadtpolitik. Speziell der Bezirk Kreuzberg ist mit seiner Geschichte der Hausbesetzungen und regelmäßigen Krawalle, aber auch mit dem Konzept einer »Behutsamen Stadterneuerung« (im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984) zum Synonym für eine Stadtentwicklung jenseits des Mainstreams geworden.

»Make Capitalism History« (Transparent rechts im Bild) – Demonstration per Boot gegen das Projekt »MediaSpree« in Kreuzberg, Juli 2008
(Wikimedia Commons; Ulrich Hofmann and Adrian Lang, Mediaspree Demonstration 1.7.2008, CC BY-SA 3.0)

Rund 30 Jahre nach den Häuserkämpfen in Kreuzberg steht der Stadtbezirk – nun vereint mit seinem östlichen Pendant Friedrichshain – erneut im Zentrum des stadtpolitischen Protestes. Eine phantasievolle Kampagne und ein Bürgerbegehren gegen das Investitionsprojekt »MediaSpree« erzwangen 2008 einen Sonderausschuss, um die Beteiligung von Bürgerinitiativen an der Planung zu gewährleisten.[1] Im September 2011 mobilisierte eine Demonstration gegen steigende Mieten über 6.000 Menschen, und im März 2012 verhinderte schon die Ankündigung von Aktionen die Ansiedlung des international renommierten »BMW Guggenheim Lab« in Kreuzberg. Nur wenige Wochen später errichteten Mieter/innen aus den Sozialbauten am Kottbusser Tor eine Protesthütte auf dem Platz vor ihrem Haus und verkündeten, dort zu bleiben, bis eine dauerhafte Perspektive für die 150.000 Sozialmietwohnungen Berlins gefunden werde.[2] Im Frühjahr 2013 mussten fast 1.000 Polizeibeamte mit Pfefferspray und Hubschrauber die Räumung eines Mieters in der Lausitzer Straße gegen eine Blockade der Initiative »Zwangsräumung verhindern« durchsetzen.[3] Die Vielzahl und Intensität solcher Konfliktereignisse haben zur öffentlichen Wiederentdeckung der Wohnungspolitik in Berlin beigetragen und die Grundsätze der »Behutsamen Stadterneuerung« – Beteiligung der Bürger an den Planungsprozessen, Erhalt der Sozialstruktur und eine bauliche Entwicklung im Einklang mit dem Bestand – wieder auf die Agenda gesetzt.

In den 1990er-Jahren standen vor allem die Ost-Berliner Innenstadtbezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain im Fokus stadtpolitischer Auseinandersetzungen. Angesichts steigender Mieten, neuer Investitionsstrategien und einer drohenden Verdrängung der überwiegend türkischen Mieter/innen aus den Sozialwohnungsbeständen ist Kreuzberg erst in den letzten Jahren erneut zu einem Zentrum des wohnungspolitischen Protestes geworden. Wie ist dieser scheinbar zyklische Verlauf stadtpolitischer Konflikte zu erklären? Aus der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung ist bekannt, dass insbesondere Mobilisierungen der städtischen sozialen Bewegungen oft anlassbezogen erfolgen und meist als Reaktionen auf Veränderungen der wohnungswirtschaftlichen und stadtpolitischen Rahmenbedingungen angesehen werden. Die Frage nach der Wiederkehr der Proteste sollte sich dementsprechend auf die Frage nach Anlässen und Ursachen konzentrieren. Der folgende knappe Überblick ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive geschrieben, aber zugleich als Diskussionsimpuls für Zeithistoriker/innen gedacht, das Thema mit ihren eigenen Fragen und Methoden weiterzuführen – auch über die Geschichte West-Berlins hinaus.

1. »Gentrification« –
politischer Kampfbegriff und wissenschaftliches Konzept

Die den Kreuzberger Konflikten zugrunde liegenden Prozesse der Aufwertung und Verdrängung werden vielfach als »Gentrification« beschrieben. Als schillerndes Schlagwort für nahezu alle Aufwertungstendenzen in städtischen Nachbarschaften ist der Begriff mittlerweile in der öffentlichen Diskussion angekommen. Egal, ob steigende Mieten, neue Eigentümer/innen, Neubauprojekte, die Eröffnung einer Galerie oder Quartiersinitiativen zur Verbesserung des Images von Nachbarschaften: »Gentrification« scheint in vielen Kontexten als Vorwurf zu passen. Doch diese Banalisierung des Begriffs hat nur noch wenig mit der Erklärungssubstanz des wissenschaftlichen Konzepts zu tun.

In der Stadtforschung wurde der Begriff »Gentrification« erstmals 1964 von der britischen Geographin Ruth Glass benutzt, um die Aufwertungsprozesse in Londoner Innenstadtvierteln zu beschreiben, die zu einer Verdrängung der dort wohnenden Arbeiterfamilien führten.[4] Angelehnt an diese erste Fallstudie hat sich in der Geographie und Soziologie das Verständnis durchgesetzt, Gentrification als den quartiersbezogenen Austausch von statusniederen durch statushöhere Bevölkerungsgruppen infolge immobilienwirtschaftlicher Wertsteigerungsstrategien oder politisch initiierter Aufwertungsmaßnahmen anzusehen.[5] In Abgrenzung zu anderen städtischen Aufwertungsphänomenen oder der Reurbanisierung sind Gentrification-Prozesse durch die Verdrängung benachteiligter Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet. Peter Marcuse unterscheidet dabei indirekte und direkte Formen der Verdrängung.[6]

Die in stadtpolitischen und feuilletonistischen Debatten gern aufgerufene Frage nach den Vor- und Nachteilen der Gentrification spielt in der Stadtforschung nur eine untergeordnete Rolle, weil mit der Definition als Verdrängungsprozess bereits der Fokus auf die sozialen Kosten der Aufwertung gelegt ist: »Verdrängung ist das Wesen und kein ungewollter Nebeneffekt der Gentrification.«[7] Einige amerikanische Studien[8] gehören zu den wenigen und stark umstrittenen wissenschaftlichen Positionen, die positive Seiten der Verdrängung zu begründen versuchten. Die Vertreter solcher Positionen vermeiden in der Regel den Gentrification-Begriff und sprechen – unter Ausblendung der sozialen Konsequenzen – eher von Revitalisierung, Reurbanisierung oder einer städtischen Regeneration.[9] Der kritische Fokus der Gentrification-Forschung spiegelt sich in der öffentlichen Diskussion, wenn Mieterinitiativen den Begriff als Anklage gegen eine verfehlte Stadtpolitik gebrauchen oder die derart Kritisierten versuchen, Gentrification als Kampfbegriff zu denunzieren.

Jenseits solcher Auseinandersetzungen um die politische Hegemonie bietet die Gentrification-Forschung aber eine Reihe von Erklärungsansätzen und Verlaufsmodellen, die uns helfen können, städtische Entwicklungen und Konflikte zu verstehen. Als Erklärung der Gentrification werden sowohl nachfrageseitige Ursachen angeführt (wie veränderte Wohnpräferenzen durch flexibilisierte Arbeitsbeziehungen, Ausdifferenzierung von Lebensstilen und demographische Umbrüche)[10] als auch angebotsseitige Ursachen (wie immobilienwirtschaftliche Ertragslücken).[11] In Verlaufsmodellen wird die Rolle von Pionieren[12] und einer symbolischen Aufwertung[13] hervorgehoben. Selbstorganisierte Kulturangebote, die Etablierung alternativer Lebensstile und die damit einhergehenden ästhetischen Veränderungen würden – so die Annahme – in medialen und diskursiven Repräsentationen aufgegriffen und überhöht. So würden zahlungskräftige Mittelschichten und Investoren gleichermaßen in die Nachbarschaften gelockt. Die amerikanische Soziologin Sharon Zukin skizzierte in einem Aufsatz von 1990 zum »real cultural capital« (Kombination aus »real estate« und »cultural capital«) die Relevanz einer kulturellen Aufwertung für immobilienwirtschaftliche Investitionen.[14]

Tatsächlich haben viele ältere Fallstudien die Formen einer vorausgehenden symbolischen Aufwertung dokumentiert. Doch neuere Arbeiten[15] verweisen auf eine wachsende Zahl an Beispielen, in denen sich Gentrification-Dynamiken ganz ohne kulturelle Neubewertungen und Aufwertungs-Pioniere durchsetzen. In der internationalen Forschung wird diese Vervielfältigung von Formen und Verläufen mit der räumlichen Ausweitung der Gentrification-Phänomene begründet. Gentrification hat sich seit den 1970er-Jahren von einem Sonderfall der Stadtentwicklung in einzelnen Quartieren nordamerikanischer und westeuropäischer Metropolen zum städtischen Mainstream in einem globalen Maßstab entwickelt.[16] Insofern standen und stehen die Berliner Debatten immer in einem breiten politischen und wissenschaftlichen Kontext.

2. Verspätete Aufwertung in Kreuzberg

Auf den ersten Blick bieten sich veränderte Lebensstile, Arbeitsbedingungen und Wohnpräferenzen ebenso wie symbolische Aufwertungen als Erklärungsmuster auch für die neueren Veränderungen in Kreuzberg an. Gerade die Diversität von Straßenkulturen, die Dichte an kulturellen und subkulturellen Einrichtungen sowie das distinktionsträchtige Image als raue, multikulturelle Szenehochburg im gründerzeitlichen Altbaubestand klingen wie eine Blaupause für einen klassischen Gentrification-Prozess.

Tatsächlich sind seit etwa 2007 gravierende Mietsteigerungen in Kreuzberg zu beobachten. Sowohl die Bestands- als auch die Neuvermietungsmieten sind in diesem Zeitraum stärker gestiegen als im Berliner Durchschnitt. Lagen die Mietpreise für sanierte Altbauten in Kreuzberg Anfang der 1990er-Jahre mit knapp 3 Euro/qm deutlich unter dem Berliner Durchschnitt (3,60 Euro/qm), haben sie inzwischen mit Mittelwerten von 5,65 Euro/qm das Berliner Durchschnittsniveau überschritten. Mit Angebotsmietpreisen von durchschnittlich fast 9 Euro/qm (2013) gehört Kreuzberg mittlerweile sogar zu den teuersten Wohnlagen der Hauptstadt insgesamt (Berliner Durchschnitt: 7,50 Euro/qm).[17] Ein Vergleich zwischen den Bestands- und Angebotsmieten[18] zeigt, dass in keinem anderen Stadtteil die am Markt durchsetzbare Mieterhöhung bei einer Neuvermietung so groß ist wie in Kreuzberg. Insbesondere für Bewohner/innen mit geringem Einkommen geht von diesen Entwicklungen ein enormer Verdrängungsdruck aus. Kreuzberg zählt mit einem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen von 1.500 Euro im Monat und einem Anteil von 24 Prozent armutsgefährdeter Haushalte immer noch zu den ärmsten Stadtteilen Berlins.[19]

Für Kreuzberg hat die Gentrification-Diagnose also eine klare empirische Substanz. Doch weder die veränderten Arbeitsverhältnisse und Lebensstile in Berlin noch die Etablierung einer (sub)kulturellen Szene oder die ästhetischen Qualitäten Kreuzbergs können die verspätete Aufwertung des Gebiets erklären. Mit der schrittweisen Erneuerung der Altbausubstanz waren die baulichen Grundlagen der Aufwertung bereits seit den 1980er-Jahren gegeben, und auch der »Mythos Kreuzberg« formierte sich bereits in jener Zeit.[20]

Aus der Perspektive der soziologischen Stadtforschung lässt sich die aktuelle Konfliktsituation auf eine Ausweitung der Gentrification-Dynamik zurückführen. Die Gentrification erschien lange Zeit als singuläres Phänomen in einzelnen Stadtteilen; internationale Studien der 1980er-Jahre sprachen von »islands of renewal in seas of decay«.[21] In Städten wie New York, London oder Paris gelten mittlerweile jedoch große Teile der Innenstadt als gentrifiziert, so dass wir inzwischen eher Inseln der Armut innerhalb großflächiger Aufwertungszonen finden können.[22]

Dies gilt auch für Berlin. Blieb die Verdrängung im Zuge von Aufwertungsprozessen in den 1990er-Jahren weitgehend auf die Ost-Berliner Sanierungsgebiete in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain beschränkt, so wurden in den letzten Jahren Gentrification-Diagnosen auch für Kreuzberg und Nord-Neukölln diskutiert.[23] Anders als in früheren Phasen erfolgt die Verdrängung in den neuen Aufwertungsschwerpunkten allerdings nicht mehr vorrangig über Modernisierungsvorhaben und die damit verbundenen Mietsteigerungen, sondern meist über hohe Neuvermietungsmieten und/oder die Umwandlung in Eigentumswohnungen. Mit der beschleunigten Abwicklung des Sozialen Wohnungsbaus sind nun selbst für geförderten Wohnraum Mietsteigerungen möglich geworden, die deutlich über der Zahlungsfähigkeit vieler bisheriger Bewohner/innen liegen. In der Praxis werden Mieterhöhungen, Modernisierungsankündigungen und auch die Umwandlung in Eigentumswohnungen verstärkt als Hebel genutzt, um Altmieter zum Auszug zu bewegen.[24]

Die steigenden Mietpreise, aber auch die Protestkonstellationen selbst, erinnern an die Situation Ende der 1980er-Jahre. Auch damals wurde für Kreuzberg eine Aufwertungs- und Verdrängungsdynamik prognostiziert, und Stadtteilgruppen protestierten gegen die Umstrukturierung ihrer Nachbarschaft. Mit dem »Gesetz über die dauerhafte soziale Verbesserung der Wohnungssituation in Berlin«, das der Bundestag im Juni 1987 beschloss, wurde die Mietpreisbindung im West-Berliner Altbau faktisch aufgehoben. Die durchschnittlichen Mieten für Altbauwohnungen mit Vollausstattung (Bad, Heizung, WC) in einfacher Lage betrugen damals umgerechnet 2,73 Euro/qm; Mieterorganisationen und Betroffene fürchteten rasche Mietsteigerungen. Besonders in Kreuzberg 36, dem südlichen Teil der Luisenstadt, wo fast 20 Prozent der Bewohnerschaft Sozialhilfe bezogen, verstärkten die drohenden Mieterhöhungen die sozialen Konflikte und entluden sich unter anderem in den Ausschreitungen am 1. Mai 1987: »Das Kreuzberger Widerstandspotential begann sich seit 1987 neu zu formieren. Stadtteilthemen, d.h. Mieten, Leerstand oder Rausmodernisierung, rückten von nun an in den Vordergrund. Das neue politische Selbstbewußtsein fand unter anderem ein Jahr nach der Revolte, am 1. Mai 1988, einen ersten Höhepunkt.«[25]

Noch bis in die 1990er-Jahre prägten wohnungspolitische Auseinandersetzungen die Stadtteilproteste in Kreuzberg. Eine 1990 gegründete Initiative »Wir bleiben in SO36« mobilisierte zu Veranstaltungen und Demonstrationen und verhinderte durch eine öffentliche Skandalisierung eine Räumung von Gewerbemieter/innen in der Eisenbahnstraße 4.[26] Die mit dem Mauerfall wiederhergestellte Citylage des Bezirks, die ambitionierten Zukunftsprognosen der Hautstadtentwicklung Berlins und die stark steigenden Bodenpreise für Baugrundstücke wurden von Stadtplanungsbüros und Immobilienfirmen ebenso wie von Teilen der Bezirkspolitik und einer Reihe von Initiativen als Vorboten einer grundlegenden Umstrukturierung Kreuzbergs angesehen.

In den Folgejahren beruhigte sich die Proteststimmung in Kreuzberg jedoch und verlagerte sich zu den Ost-Berliner Innenstadtgebieten. Bis auf politisch weitgehend isoliert gebliebene Anschläge auf vermeintliche Luxuswagen und Edelgeschäfte sowie anonyme Drohungen gegen Dachgeschossbewohner verschwand der Nexus von Wohnungsfrage und Protest aus Kreuzberg. Die von vielen befürchtete Umstrukturierung vom »Schmuddelkiez« zum Vorzeigeviertel blieb ebenso aus wie die Entwicklung Kreuzbergs zum City-Bezirk der Dienstleistungs- und Handelsmetropole Berlin. Die neue Hauptstadt entwickelte sich zur Armutsmetropole,[27] und Kreuzberg wurde weiterhin vor allem als Problembezirk wahrgenommen.[28]

Erst mit einer Verzögerung von etwa 20 Jahren scheinen sich nun einige der früheren Prognosen zu bestätigen. Wie ist diese verspätete Gentrification-Dynamik in Kreuzberg zu erklären? In tagespolitischen Auseinandersetzungen werden vielfach die wachsenden Haushaltszahlen der Berliner Bevölkerung seit 2005 und die über viele Jahre geringe Bautätigkeit für steigende Mieten und Verdrängungsdruck verantwortlich gemacht. Warum ausgerechnet Kreuzberg so sehr im Fokus der Aufwertungsdynamik steht, kann jedoch nur aus der jüngeren Bezirksgeschichte selbst abgeleitet werden. Robert Beauregard hat bereits in den 1980er-Jahren dafür plädiert, Gentrification nicht allein in ihren strukturellen Ursachen zu erforschen, sondern zugleich in ihren historisch spezifischen Bedingungen. Insbesondere sei zu klären, wie leicht zu verdrängende Nachbarschaften (»economically and politically vulnerable neighborhoods«) und wohnungsbezogene Aufwertungspotentiale (»gentrifiable housing«) entstanden seien.[29] In Kreuzberg – so meine These – können die soziale Lage der Bewohner/innen, die Ökonomie der Aufwertung und die Mobilisierungskraft des stadtpolitischen Protestes von heute nicht ohne einen Rückblick auf die Jahrzehnte vor dem Mauerfall verstanden werden.

Polizeiliche Räumung eines »instandbesetzten« Hauses am Fraenkelufer in Kreuzberg, 24. März 1981
(Foto: Michael Kipp/Umbruch Bildarchiv. Zu Kipp [1951–2009] siehe Peter Nowak, Der Chronist der Hausbesetzer, in: tageszeitung, 10.8.2010.)

3. Vom Erhalt der Sozialstruktur zur Verdrängungsgefahr

Die Gentrification-Voraussetzung einer leicht zu verdrängenden Nachbarschaft ist in Kreuzberg vor allem auf die Stadtentwicklungsdynamiken der letzten Dekaden zurückzuführen. Im Rahmen des 1. Programms zur Stadterneuerung in West-Berlin (1963) wurden unter anderem Teile des Kreuzberger Altbaubestandes als Sanierungsgebiete festgelegt. Geplant waren der großflächige Abriss und die anschließende Neubebauung, wie sie etwa auch in den Sanierungsgebieten Brunnenstraße (Wedding) und im Rollbergviertel (Neukölln) durchgesetzt wurde.[30] In Vorbereitung dieser geplanten Arbeiten wurden Häuser durch Sanierungsträger systematisch aufgekauft und schrittweise entmietet. Als eine Art Zwischenlösung vermieteten Eigentümer und Hausverwaltungen Wohnungen gezielt an Familien türkischer Herkunft – nicht nur, weil diese als »Gastarbeiter« und damit als vorübergehende Mieter/innen angesehen wurden, sondern auch in der Erwartung, deutsche Mieter/innen so zum Auszug animieren zu können. In den ersten Jahren nach der Festlegung der Sanierungsgebiete stieg die Anzahl von Ausländer/innen allein bis 1971 auf über 25.000 (etwa 15 Prozent). Der größte Teil von ihnen kam aus der Türkei.[31] Bis 1980 wurden auf Grundlage der Städtebauförderung in Berlin etwa 35.000 Wohnungen entmietet. Doch dieser großen Leerstandszahl standen lediglich 17.000 neugebaute oder modernisierte Wohnungen gegenüber.

So entwickelte sich Kreuzberg zu einem Gebiet mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil armer und migrantischer Haushalte. Die beschriebene Kahlschlagsanierung und deren Folgen begünstigten eine spezifische Mischung aus traditioneller Arbeiterbevölkerung, türkischen Gastarbeitern und einer subkulturellen Szene. Trotz vergleichbarer ökonomischer Prekarität unterschieden sich die Kreuzberger Milieus jedoch in ihrer Ausstattung mit kulturellem und sozialem Kapital. Insbesondere der Alternativszene in Kreuzberg ist es immer wieder gelungen, bezirkspolitische Entscheidungen durch ihre Einmischung mitzugestalten – ein Umstand, der die Mobilisierung stadtpolitischer Proteste auch heute noch begünstigt.

Harald Bodenschatz hat 1987 beschrieben, wie die »Schere zwischen Sanierungsvorbereitung und der Sanierungsdurchführung« zum »brisanten Politikum« der West-Berliner Stadtpolitik wurde.[32] Die Hausbesetzungen und Häuserkämpfe im Winter 1980/81 hatten verschiedene Ursachen; die Konzentration besetzter Häuser in Kreuzberg war jedoch ein unmittelbares Resultat der verfehlten Sanierungspolitik und schuf mit der Legalisierung von ca. 50 Häusern eine Basis für die Etablierung einer weiter wachsenden Alternativ- und Subkulturszene.[33]

Etwa zeitgleich diskutierten Teile der Verwaltung und andere stadtgesellschaftliche Akteure Alternativen zur Flächensanierung. Der von Pfarrer Klaus Duntze 1977 ausgerufene Wettbewerb »Strategien für Kreuzberg«, der Beschluss zur Durchführung der IBA ein Jahr später und die »12 Grundsätze der Behutsamen Stadterneuerung« von 1983 stehen für eine Abkehr von der zuvor verfolgten Abrisssanierung. Der nun proklamierte Anspruch, die Erneuerung müsse »an den Bedürfnissen der jetzigen Bewohner orientiert und mit ihnen geplant und realisiert werden«,[34] schloss faktisch die Verdrängung und den Austausch der Bevölkerung als Sanierungsziel aus. Ulla Terlinden hat in ihren Untersuchungen um 1990 gezeigt, dass der Erhalt der sozialstrukturellen Zusammensetzung im Großteil der Kreuzberger Sanierungsgebiete gelang. Sie zitiert aus dem Abschlussbericht zur Sanierung am Kottbusser Tor und verdeutlicht, dass »sich weitgehend wiederum eine Arbeiterbevölkerung etabliert, wie sie dem Kreuzberger Durchschnitt entspricht und wie sie es auch vor der Sanierung war«.[35] Gleiches galt für die Bildungsabschlüsse, den Anteil von Sozialhilfeempfänger/innen und andere Sozialstrukturdaten. Durch die »Behutsame Stadterneuerung« wurde somit jene Zusammensetzung bewahrt, die heute als verdrängungsgefährdet angesehen werden muss.

In seinem Film »Menschen, Häuser« von 1983 dokumentierte Robert Müller im Auftrag der IBA Berlin die verschiedenen Gruppen der Kreuzberger Stadtgesellschaft und ihre Wohnsituation.

 

4. Von der »Behutsamen Stadterneuerung«
zur Ökonomie der Ertragslücken

Als zweite Voraussetzung für einen Gentrification-Prozess benannte Beauregard das Vorhandensein von wohnungsbezogenen Aufwertungspotentialen.[36] In der ökonomischen Perspektive der »Rent-Gap-Theorie« werden solche Aufwertungspotentiale überall dort erkannt, wo die Schließung von Ertragslücken zwischen momentanen und potentiellen Einnahmen die Wahrscheinlichkeit immobilienwirtschaftlicher Investitionen erhöht. Die Dynamik der Verdrängung wird dabei als unmittelbarer Effekt von investitionsfördernden Verwertungsbedingungen angesehen.[37] Auch die lokalen Investitionsbedingungen sind in Kreuzberg wesentlich von den Stadtentwicklungsprozessen der Vergangenheit geprägt.

Die umfassenden Sanierungsarbeiten mit ihren moderaten Mietsteigerungen im Rahmen der »Behutsamen Stadterneuerung« in den 1980er-Jahren können im Kontext dieser Theorie als eine zeitlich begrenzte Kappung potentieller Grundrentenerträge betrachtet werden. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA (1978 bis 1987) wurden weite Teil des Kreuzberger Altbaubestandes mit öffentlichen Geldern und unter maßgeblicher Partizipation der Bewohnerschaft saniert: Über 7.000 Wohnungen wurden in der Luisenstadt und SO 36 instandgesetzt sowie mit modernen Heizungsanlagen, Bädern und innenliegenden WCs ausgestattet – zu Mietpreisen unterhalb des Berliner Durchschnitts.[38]

Stadtplaner/innen wie Harald Bodenschatz und Cordelia Polinna bezeichnen die IBA der 1980er-Jahre daher im Rückblick als ein »unwiederholbares West-Berliner Sondermodell« der Stadtentwicklung; sie verweisen unter anderem auf die Ausstattung der IBA mit etwa 100 Mio. DM und einem insgesamt initiierten Bauvolumen von 3 Mrd. DM.[39] Insbesondere für die Altbausanierung wurden zusätzliche Fördergelder aus Landesprogrammen und von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) akquiriert. Im Ergebnis konnten umfangreiche Sanierungsarbeiten zu sozial verträglichen Mietpreisen durchgeführt werden. Vergleichbar mit den Finanzierungskonditionen des sozialen Wohnungsbaus wurden in den Förderprogrammen zur Modernisierung und Instandsetzung Mietpreisbindungen für den Zeitraum der Förderung festgelegt. Für die in den Kreuzberger Sanierungsgebieten erneuerten Wohnungen betrugen diese Fristen in der Regel 15 Jahre. In diesem Zeitraum waren oft auch die Neuvermietungspreise gebunden, und wegen der geringen Mieterhöhungsspielräume gab es somit nur ein eingeschränktes Kaufinteresse seitens der Investoren. Zudem waren bis in die 1990er-Jahre die Bodenpreise über die Sanierungssatzungen eingefroren, und Wertsteigerungen der Grundstücke wurden über Ausgleichszahlungen bei Aufhebung der Sanierungsgebiete abgeschöpft. Die privat finanzierte Sanierung in Kreuzberg kam unter solchen Bedingungen praktisch zum Erliegen.[40]

Diese ökonomische Situation hat sich in den vergangenen Jahren aufgelöst. Die Bindungen der Förderprogramme sind weitgehend ausgelaufen, Neuvermietungsmieten können frei vereinbart werden. Mit Aufzügen und energetischen Sanierungen haben sich vielerorts Standards etabliert, die auch für den Kreuzberger Wohnungsbestand einen weiteren Modernisierungsspielraum eröffneten. Nach der Aufhebung der Sanierungssatzungen können zudem der Handel mit Grundstücken und die Umwandlung in Eigentumswohnungen ohne administrative Einschränkungen erfolgen. Unter den Bedingungen einer wachsenden Attraktivität von Immobilien als Kapitalanlagen, niedrigen Zinsen und veränderter Investitionsstrategien im Zuge einer Finanzialisierung der Wohnungswirtschaft[41] ergibt sich nunmehr ein enormer Verdrängungsdruck. Die durch die »Behutsame Stadterneuerung« lange Zeit erfolgreich gedämpfte Mietentwicklung in Kreuzberg wird von vielen Investoren heute vor allem als Ertragslücke angesehen, die nun geschlossen werden könne.

Insgesamt zeigt sich, wie entscheidend politische Rahmenbedingungen die vielerorts beobachteten Aufwertungsdynamiken bremsen oder verschärfen können. Die Brisanz der aktuellen Konfliktkonstellation in Kreuzberg ist ohne einen Blick in die jüngere Geschichte nicht zu verstehen. Im Sinne einer moralischen Ökonomie können die von den Protestbewegungen gegenwärtig erhobenen Forderungen sogar als Ausdruck einer kollektiven Erinnerung an einen lokal erkämpften Standard der Stadtentwicklungspolitik der 1980er-Jahre verstanden werden. Aber auch über den West-Berliner Fall und seine Sonderbedingungen hinaus würde es sich lohnen, neuere stadtgeschichtliche Transformationen mit einem stärkeren Augenmerk auf sozioökonomische Faktoren zu untersuchen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Jan Dohnke, Spree Riverbanks for Everyone! What Remains of »Sink MediaSpree«?, in: Matthias Bernt/Britta Grell/Andrej Holm (Hg.), The Berlin Reader. A Compendium on Urban Change and Activism, Bielefeld 2013, S. 261-274.

[2] Mehr Informationen auf der Website der Mietergemeinschaft: <http://kottiundco.net>.

[3] Peter Nowak (Hg.), Zwangsräumungen verhindern. Ob Nuriye ob Kalle, wir bleiben alle, Münster 2013.

[4] Ruth Glass, Introduction: Aspects of Change, in: Centre for Urban Studies (Hg.), Aspects of Change, London 1964, S. xviii-xix.

[5] Andrej Holm, Gentrification, in: Frank Eckardt (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012, S. 661-687.

[6] Peter Marcuse, Abandonment, Gentrification, and Displacement. The Linkages in New York City, in: Neil Smith/Peter Williams (Hg.), Gentrification of the City, Boston 1986, S. 153-177.

[7] Ders., Gentrification und die wirtschaftliche Umstrukturierung New Yorks, in: Hans G. Helms (Hg.), Die Stadt als Gabentisch. Beobachtungen zwischen Manhattan und Berlin-Marzahn, Leipzig 1992, S. 80-90, hier S. 80.

[8] Lance Freeman/Frank Braconi, Gentrification and Displacement: New York City in the 1990s, in: Journal of the American Planning Association 70 (2004), S. 39-52; Jacob L. Vigdor, Does Gentrification Harm the Poor?, in: Brookings-Wharton Papers on Urban Affairs 2002, S. 133-173; J. Peter Byrne, Two Cheers for Gentrification, in: Howard Law Journal 46 (2003), S. 405-432, hier S. 406.

[9] Tom Slater, The Eviction of Critical Perspectives from Gentrification Research, in: International Journal of Urban and Regional Research 30 (2006), S. 737-757.

[10] David Ley, The New Middle Class and the Remaking of the Central City, Oxford 1996.

[11] Neil Smith, The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City, London 1996.

[12] Jens N. Dangschat, Gentrification: Der Wandel innenstadtnaher Nachbarschaften, in: Jürgen Friedrichs (Hg.), Soziologische Stadtforschung, Opladen 1988, S. 272-292.

[13] Barbara Lang, Mythos Kreuzberg, in: Leviathan 22 (1994), S. 498-519.

[14] Sharon Zukin, Socio-Spatial Prototypes of a New Organization of Consumption: The Role of Real Cultural Capital, in: Sociology 24 (1990), S. 37-56.

[15] Vgl. Loretta Lees/Tom Slater/Elvin Wyly, Gentrification, New York 2008, S. 129ff.

[16] Neil Smith, New Globalism, New Urbanism: Gentrification as Global Urban Strategy, in: Antipode 34 (2002), S. 427-450.

[17] GSW Immobilien (Hg.), WohnmarktReport 2013, Berlin 2013, S. 6.

[18] Sonderauswertung ImmoScout24; WohnmarktReport 2013 (Anm. 17); Senatsverwaltung für Stadtentwicklung/Investitionsbank Berlin (Hg.), Der Berliner Wohnungsmarkt. Entwicklung und Strukturen 1991–2000, Berlin 2000; Mietspiegel 1990, 2007 und 2013.

[19] Amt für Statistik Berlin – Brandenburg, Mittleres Haushaltsnettoeinkommen 2012, Presseerklärung Nr. 221, 8.8.2013.

[20] Lang, Mythos Kreuzberg (Anm. 13); dies., Mythos Kreuzberg. Ethnographie eines Stadtteils (1961–1995), Frankfurt a.M. 1998.

[21] Brian Berry, Islands of Renewal in Seas of Decay, in: Paul E. Peterson (Hg.), The New Urban Reality, Washington 1985, S. 69-96.

[22] Elvin Wyly/Daniel Hammel, Islands of Decay in Seas of Renewal: Housing Policy and the Resurgence of Gentrification, in: Housing Policy Debate 10 (1999), S. 711-771.

[24] Andrej Holm, Berlinʼs Gentrification Mainstream, in: Bernt/Grell/Holm, The Berlin Reader (Anm. 1), S. 171-187, hier S. 177ff.

[25] Uwe Rada, Mietenreport. Alltag, Skandale und Widerstand, Berlin 1991, S. 133.

[26] Ebd., S. 139ff.

[27] Renate Borst/Stefan Krätke, Berlin – Metropole zwischen Boom und Krise, Opladen 2000.

[28] Hartmut Häußermann/Andreas Kapphan, Berlin: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000, hier S. 167ff.

[29] Robert A. Beauregard, The Chaos and Complexity of Gentrification, in: Smith/Williams, Gentrification of the City (Anm. 6), S. 35-55, hier S. 40f.

[30] Ulla Terlinden, Gesellschaftliche Modernisierung durch Stadterneuerung? Eine historisch-empirische Analyse sozialen Wandels und staatlicher Zielsetzungen an Beispielen, unveröff. Habilitationsschrift, TU Berlin 1992, S. 2ff.

[31] Vgl. Klaus Duntze, Der Geist, der Städte baut. Planquadrat, Wohnbereich, Heimat, Stuttgart 1972, S. 89.

[32] Harald Bodenschatz, Platz frei für das neue Berlin. Geschichte der Stadterneuerung in der größten Mietskasernenstadt der Welt seit 1871, Berlin 1987, S. 202.

[33] Andrej Holm/Armin Kuhn, Squatting and Urban Renewal: The Interaction of Squatter Movements and Strategies of Urban Restructuring in Berlin, in: International Journal of Urban and Regional Research 35 (2011), S. 644-658.

[34] 12 Grundsätze der Behutsamen Stadterneuerung; zit. bei Matthias Bernt, Rübergeklappt. Die »Behutsame Stadterneuerung« im Berlin der 90er Jahre, Berlin 2003, S. 53.

[35] Terlinden, Gesellschaftliche Modernisierung (Anm. 30), S. 205.

[36] Beauregard, Chaos and Complexity (Anm. 29).

[37] Neil Smith, Toward a Theory of Gentrification: A Back to the City Movement by Capital, not by People, in: Journal of the American Planning Association 45 (1979), S. 538-548.

[38] Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen / S.T.E.R.N. Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH, Projektübersicht der Internationalen Bauausstellung, Berlin 1991, S. 204.

[40] Bernt, Rübergeklappt (Anm. 34), S. 67.

[41] Susanne Heeg, Wohnungen als Finanzanlage. Auswirkungen von Responsibilisierung und Finanzialisierung im Bereich des Wohnens, in: Sub/Urban 1 (2013), S. 75-99.

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