Geknüpfter und gewebter Krieg

Militärische Motive auf afghanischen Teppichen

Anmerkungen
 

1. Geschichte(n)

Um 1990 wurden sie durch erste Ausstellungen allgemein bekannt: afghanische Teppiche mit Motiven aus Krieg und Politik.1 In den anderthalb Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat sich eine Debatte darüber entwickelt, ob die Teppiche als ethnographisch wertvolle Sammlerstücke oder als bloß touristische Souvenirs anzusehen sind.2 Der vorliegende Text schlägt eine andere Lesart vor: Die Teppiche, so meine These, sind als Medien zwischen Handwerk und Technik, zwischen Massenkommunikation und Dialog, zwischen Kunst und Nachrichtenbild zu verstehen.

Schon die Ursprungsgeschichte der Teppiche liegt im Dunkel einiger Mythen rund um die afghanische Kunstszene am Ende der 1970er-Jahre. Angeblich ist Amanullah Haiderzad - heute oberster Kunstberater des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und unermüdlicher Streiter für den Wiederaufbau einer der Bamyan-Statuen - mit Studierenden der Kunstakademie von Kabul im Frühjahr 1980 über den Khyber-Pass ins pakistanische Peschawar geflüchtet und hat die Studenten animiert, den Flüchtlingen motivisch bei der Bearbeitung ihrer Traumata zu helfen. In derartigen Geschichten steckt oft ein Korn Wahrheit: Einige der frühen Kriegsteppiche (qualin-e dschihad) stammen aus dem Westen Afghanistans und sind klein, relativ grob und in der Färbung nicht einheitlich; sie werden bis heute über Peschawar gehandelt. Von Männern und Knaben geknüpfte Teppiche sind in Afghanistan im Rahmen von Ausbildungsprogrammen schon zu früheren Zeiten entstanden; und trotz der sowjetischen Besatzung wurden im Land weiter Teppiche geknüpft.3 Die großen Teppiche aus demselben Motivkreis stammen jedoch aus dem Norden und sind meist perfekt geknüpft.

Seidenteppich, ca. 60 cm x 90 cm.
In der Mitte ist die Erstürmung der Ärq (Königsburg von Kabul) beim Putsch vom April 1978 dargestellt, auf der Bordüre sind Soldaten zu sehen.
 

Der Einfluss der Akademien von Kabul und Herat mag mindestens für die Motivik der Teppiche bedeutend gewesen sein, wie ein Objekt vom Ende der 1980er-Jahre belegt: Der Saur-Putsch vom April 1978, bei dem der Präsident getötet und ein kommunistisches Regime etabliert wurde, ist hier in der Form eines Comics geschildert, analog zu ähnlichen Darstellungen in Karikaturen, Wandgemälden und auf Lastwagen. Für die Etablierung dieser Bildformen mögen Lehrerpersönlichkeiten wie Amanullah Parsa von Bedeutung gewesen sein, der in den 1970er-Jahren Briefmarken, Drucksachen und Plakate in großer Zahl entworfen hatte und als Hochschullehrer für Grafik in Kabul tätig war, bevor er 1977 nach Italien auswanderte.4 Auch wenn der Einfluss akademischer Kräfte auf die frühen Kriegsteppiche und ihre Motivik nicht überschätzt werden sollte, so ist ihm doch ein wesentliches mediales Element zu verdanken: Die Etablierung neuer Bildmotive, -gattungen und -formen erfolgte nun im Tempo der Druckindustrie und damit der Schrift, nicht mehr im Duktus oraler Überlieferungen mit ihrer langsamen Kanonisierung.5 Aufgrund dieser Beschleunigung lassen sich für die afghanischen Kriegsteppiche selbst in der verhältnismäßig kurzen Zeit eines Vierteljahrhunderts drei Phasen samt intermittierenden Phänomenen ausmachen.

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2. Phasen und Motive

Eine zeitliche Gliederung kann nur arbeitshypothetisch eingeführt werden, da ihr eine ausreichende Quellengrundlage fehlt - niemand kann wohl auch nur annähernd behaupten zu wissen, wie viele dieser Teppiche wirklich hergestellt worden sind. Die hier vorgeschlagenen drei Phasen folgen grob der neueren Geschichte Afghanistans: Die frühen Teppiche sind in der Zeit sowjetischer Besatzung Afghanistans als Zeichen des Widerstands geknüpft worden, entweder in den Flüchtlingslagern Pakistans oder in abgelegenen Manufakturen des Nordwestens. Nachdem die sowjetischen Truppen 1989 aus Afghanistan abgezogen waren, entstanden viele Teppiche mit Märtyrer-Motiven, die sich zeitlich dem Kampf der Mujaheddin um die Regierung sowie deren Regierungszeit zuordnen lassen (1988-1996). Während des Taliban-Regimes dürften nur sehr wenige Teppiche innerhalb Afghanistans entstanden sein, und eine dritte Phase der Kriegsteppiche datiert erst seit der Zeit der Karsai-Regierung.

„Ali Khodscha“ aus der Provinz Badghis, gefärbte Schafwolle, 75 cm x 50 cm.
Zentrales Motiv ist eine Moschee, die von Hubschraubern, Jagdbombern und Panzern umkreist wird.
 

Die ersten Kriegsteppiche tauchen um 1985/86 sowohl in den Bazaren von Kabul und Peschawar als auch in den Lieferungen der großen europäischen und nordamerikanischen Importeure auf. Sie sind entweder aus wertvollem Material wie Seide oder als großer Sumach (Wirkteppich) gearbeitet - beide Arten sind sehr selten -, oder sie sind, je nach Provenienz, sehr klein, relativ grob und aus gefärbter Schafwolle. Motivisch ist in dieser Phase, die bis 1988/89 dauert, alles möglich - von der comichaften Darstellung bis zur traditionellen Form der Füllmotive mit dezenten Einsprengseln der Kriegstechniken. Die meisten der kleinen Teppiche sind wahrscheinlich in Flüchtlingslagern oder in den sowjetisch kontrollierten Gebieten entstanden. Wie bei aller Kunst des Widerstands gilt für diese erste Phase, dass das Herstellen des Teppichs die eigentliche Leistung und Wirkung impliziert: Die Knüpferinnen und Knüpfer thematisieren ihr eigenes Schicksal, entlasten sich von Ängsten und Trauer, verarbeiten das bedrückende Geschehen mit den Mitteln, die sie zuvor gelernt haben. Diese Mittel reichten von der traditionellen Motivik bis zum massenhaft verbreiteten Comic und Plakat.

Von Turkmenen oder Usbeken geknüpfter Teppich aus einem Flüchtlingslager in Pakistan, 99 cm x 49 cm, 1987.
Links eine AK-47, darüber Hubschrauber, daneben Flugzeug, Rakete und Granaten; Blütenmotive und möglicherweise ein Grabaufbau; rechts oben datiert.

Um 1988 erscheinen die ersten Teppiche mit dem Motiv des „Apparat Kalaschnikow“, des sowjetischen Maschinengewehrs AK-47. Zunächst findet sich dieses Motiv in Kombination mit floralen Motiven, mit der guldani (Vase), aus der ein Baum sprießt, gelegentlich auch verbunden mit geometrischen Formen, die als Abbildung eines Grabes interpretiert werden können. Offensichtlich waren diese Teppiche zunächst Teile einer Memorialkultur für gefallene Märtyrer oder Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht. Während die Produktion der Teppiche aus der ersten Phase um 1990 versiegte, veränderten sich die qalin-e kalashnikof zu waffenstrotzenden Ornamenttextilien, die zunehmend von arabischen Händlern mit Interesse an männlichen Kultobjekten gekauft wurden.6 Mit diesem Typus setzte um 1992 der breite Handel, fünf Jahre später der Internet-Hype der qalin-e dschihad oder war aksi ein.7

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Kurz nach den Kalaschnikow-Teppichen finden sich in zunehmender Menge solche mit der Landkarte Afghanistans, meist in größeren Formaten. Diese map qalin-e oder map aksi, deren Motiv in dieser Form zuvor vollkommen unbekannt war, haben eine quasi globalisierte Kunst-Geschichte. Seit 1982 verbrachte der italienische Künstler Alighiero Boetti jedes Jahr mehrere Monate in Afghanistan wie in Peschawar und ließ dort seit etwa 1985 große Suzanna-Stickereien, nach 1988 auch Teppiche mit der Weltkarte anfertigen, die nach seinem Entwurf als Bordüre kleine Flaggen sämtlicher Nationen der Welt zeigen.8 Selbstverständlich wurden diese Arbeiten als Werke Boettis ausgestellt, doch haben einige Manufakturen solche Teppiche auch noch nach dem Tod des Künstlers 1994 produziert. Nachdem in den 1980er-Jahren einige Teppiche mit einer althergebrachten Darstellung der afghanischen Provinzen als Gebetsnischen, mit ihren Namen und Symbolen sowie stark stilisierten Kriegsgeräten aufgetaucht waren, kamen um 1990 zahlreiche Teppiche mit der Landkarte Afghanistans auf den Markt. Sie zielten ganz eindeutig auf eine Käuferschaft aus Exil-Afghanern und werden weltweit über nahezu sämtliche Kanäle des Teppichhandels vertrieben. Die Aneignung von Boettis Bildmotiv wurde in der Einengung auf die Landkarte Afghanistans zu einem nationalistischen Symbol - ähnlich wie frühere, als farbige Zeichnungen und Drucke verbreitete Landkarten.

Teppich unbekannter Herkunft mit der Landkarte Afghanistans.
Aufnahme während eines Konzerts der Sängerin Zohreh Jooya mit den Musikern Sultan Fanus und Bezad Peiman, Rheinisches Landesmuseum Bonn, 4.9.2005
(Foto: Rolf Sachsse)

Teppich aus Westafghanistan, 132 cm x 83 cm, 1989.
29 beschriftete Felder in Form einer Gebetsnische enthalten die Namen der Provinzen Afghanistans; als Motive finden sich eine Moschee, Tiere, Zeichen.

Handgeknüpfter Teppich unbekannter Herkunft, ca. 70 cm x 50 cm, 2002.
Zwischen zwei senkrecht aufgestellten AK-47 in der paramilitärischen Version mit kurzem Lauf allerlei Kriegsgerät und die Tora-Bora-Berge.

Die dritte und vorläufig letzte historische Epoche in der Geschichte der Kriegsteppiche beginnt um 2002, d.h. nach dem Einmarsch der Amerikaner und der internationalen Truppen in Afghanistan. Neben der zunehmend kommerzialisierten Fortführung der qualin-e kalashnikof haben sich zunächst zwei Motive etabliert: der Einschlag der Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center am 9. September 2001 und die Kämpfe um das Rückzugsgebiet Usama bin Ladens in den Tora-Bora-Bergen. Diese Darstellungen sind von Texten begleitet, die schon immer zum Programm der Bildteppiche gehörten, nun aber eindeutig deskriptiven Charakter annehmen. Die Teppiche dieser Gruppe werden weitgehend in usbekischen, tadschikischen, iranischen und afghanischen Manufakturen hergestellt und vor allem über das Internet vermarktet. Ihre Bildform kanonisiert sich zunehmend nach medialen Kriterien: Die Darstellungen werden den fotografischen Vorlagen immer ähnlicher; Farbmuster und Banderolen variieren in engen Grenzen. Dieser letzten Gruppe gesellt sich ein weiterer Typus hinzu, der nach dem Tod von Ahmed Shah Massud im September 2001 enorme Ausbreitung gefunden hat: der Teppich nach einer Porträtfotografie, letztlich eine Rückkehr zur Herrschermünze, die seit der römischen Antike fest zur Staatssymbolik gehörte - und von Amanullah Haiderzad für Hamid Karzai auch wieder eingeführt wurde.

Amanullah Haiderzad, Gedenkmünze mit dem Porträt Hamid Karzais, 2002.
(Abbildung aus einem Internet-Katalog, 2005)

Maschinell hergestellter Teppich aus dem Iran mit einem Porträt von Ahmed Shah Massud, ca. 100 cm x 70 cm, 2003.
Das Porträt übernimmt die Pixelstruktur der digitalen Fotovorlage.
 

Ist die Zielgruppe dieser Teppiche eindeutig als touristische definiert - die Soldaten der ISAF-Truppen einschließend -, so hat eine jüngste Variante der Bildteppiche erneut Appellcharakter an die im Exil lebenden Afghaner: Hier werden neben den Portraits von Karzai und Massud wieder comichafte Landschaften vorgeführt, darunter realistisch wiedergegebene Panzer, dazwischen die Berge von Tora Bora. Am Himmel patrouillieren Kampfflugzeuge, und am unteren Bildrand sind in kleinen Bildern die Kulturdenkmäler Afghanistans aufgereiht. Die primäre Aussage eines solchen Teppichs ist der Aufruf zur Mitarbeit am (Wieder-)Aufbau des Landes, passend zu zahlreichen anderen propagandistischen Maßnahmen. Selbst wenn die Motive weiterhin Kriegsgerät enthalten, repräsentieren diese Bildteppiche nicht mehr den qalin-e dschihad als Typus.

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Teppich aus Afghanistan, ca. 150 cm x 80 cm, 2003.
 

3. Themen und Bildformen

Die Beschreibung orientiert sich hier an Kriterien medialer Vermittlung und nicht an denjenigen einer ethnologisch-kunsthandwerklichen Stilistik oder handwerklichen Merkmalen - Knotenform und -dichte, Garnstärke und -färbung -, die die Auseinandersetzung mit Orient-Teppichen und ihren Ornamenten generell kennzeichnen.9 Prinzipiell lassen sich neben unterschiedlichen Knüpftechniken regionale Unterschiede ausmachen, die sich vor allem in der Tradierung persischer oder turkmenischer Motivgruppen sowie im Kolorit niederschlagen.

Detail eines „Ali Khodscha“-Teppichs, ca. 200 cm x 130 cm, links unten datiert (1982); ältester bisher bekannter Teppich dieser Art.

Die frühesten Kriegsteppiche übernehmen zwar die jeweils regional üblichen Motive der Knüpferei, beziehen sich jedoch vielfach auf Bildtraditionen außerhalb der Teppichherstellung wie etwa in der Miniaturmalerei und Illustration von Handschriften. Zudem werden gerade unter dem Eindruck von Exil und Unterdrückung durch die sich als modern gerierende Sowjetmacht neuere Bildformen aus Comic, Karikatur und Zeitungsillustration eingeführt. Einer der frühesten datierten Teppiche, zu dem einige Varianten bekannt sind, zeigt im Zentrum jedes Bildfeldes eine guldani mit dem Lebensbaum und daneben je einen von Schlangendrachen gerahmten, bärtigen Mann mit hochgestrecktem Säbel in der Hand. Einzige Hinweise auf den modernen Krieg sind drei um den Kopf des Mannes kreisende Kampfhubschrauber sowie kleinere Automobile in den Zwickeln der ornamentalen Figuren. Im Übrigen vertrauen die Knüpfer(innen) dieses Teppichs auf tradierte Symbolik: Schlangendrachen als schwer einschätzbare Bedrohung für Leben und Wohlstand, Kampfesmut der Schwertschwinger, Blüten als ambivalent schöner Schein, diverse Tiere in unterschiedlicher Symbolik für Kraft, aber auch Bedrohung. Folgt dieser Typus Traditionen persischer Herkunft, wie sie im Westen und Süden Afghanistans gepflegt wurden, so enthalten Teppiche nach turkmenischer Tradition andere Motive: Zwischen die Weltenberge sind große Stufenrauten gesetzt, deren Mittelpunkt von einer Teekanne gebildet wird und somit friedliches Leben signalisiert; in der Mitte des Teppichs stehen übereinander das mythische Reittier Mohammeds, Al-Buraq - ein geflügeltes Pferd mit Menschenkopf -, der für Belutsch-Teppiche typische Hahn und als Bekrönung ein Hubschrauber. Auch hier bleibt die Symbolik ambivalent, halten Bedrohung und Aufruf zum Kampf einander die Waage.

Teppich, möglicherweise von Taymani (Manufaktur in Herat) geknüpft,
180 cm x 119 cm, Ende der 1980er-Jahre.
 

In jeder Hinsicht simpler sind die häufigen, kleinen Kriegsteppiche mit der Darstellung einer Moschee und den sie wie Insekten umschwirrenden Kampfhubschraubern. Fassadensichten von Moscheen sind in der orientalischen Knüpfkunst sehr verbreitet und gerade in den Belutsch-Teppichen häufiger zu finden - von hier ist der Sprung zu differenzierteren Architekturdarstellungen oder zur Vorstellungswelt des Comics nicht weit. Die Stadt Kandahar ist auf einem Teppich durch drei Gebäude charakterisiert; auf den Straßen finden sich Busse und Lastwagen, aber die Wegränder sind gesäumt von Panzern und fliegenden Kampfjets. Die Bedrohung durch Kriegsgerät wird zum Bestandteil des zwar gefährlichen, jedoch auch gewöhnlichen Alltags.

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Teppich aus West- oder Südwestafghanistan mit Darstellung der Stadt Kandahar,
73 cm x 129 cm, Ende der 1980er-Jahre.

„Sakini“ aus Westafghanistan, möglicherweise von Taymani (Manufaktur in Herat),
182 cm x 129 cm, Ende der 1980er-Jahre.
Von unten nach oben führt eine Straße durch Städte und Landschaften Afghanistans; auf ihr reihen sich Panzer aneinander. Die Bordüre zeigt in planparalleler Perspektive Automobile und Panzer. In der Mitte ein Lebensbaum, der offensichtlich die Fortexistenz des Volkes signalisieren soll.
 

Um 1987 tritt eine Bildform neu auf, die sich direkt auf die persische Miniaturmalerei bezieht, vor allem auf die seit dem Mittelalter üblichen Darstellungen der shah-name-Geschichten von Firdausi.10 Dieses Epos wurde immer wieder so visualisiert, dass einer der Helden im Bild quasi von unten nach oben durch sein Leben bis in höchste Sphären zieht, oft auf einer gewundenen Straße, die von mehreren Bergrücken unterbrochen wird. In der Bearbeitung afghanischer Kriegsteppiche verschieben sich die Bedeutungen: Die Handlungsmacht besitzen jetzt die Panzer und andere Militärfahrzeuge; sie ziehen nicht allein durch das Land, sondern vor allem durch verschiedene Städte, die jeweils durch eine Moschee oder eine Häuserzeile angedeutet werden. Medial ist hier ein Übergang zwischen der höfischen Miniaturmalerei Persiens und dem sowjetisch bestimmten Kriegsgeschehen fixiert, in der Ambivalenz einer nicht auflösbaren Verflechtung von Aktion und Reaktion. Es ist kaum anzunehmen, dass die Teppiche als persönliche Bearbeitung des Kriegsgeschehens hergestellt wurden, und dass sie sich an die afghanische Bevölkerung richteten, ist noch weniger wahrscheinlich; eher ist zu vermuten, dass Exil-Afghaner angesprochen werden sollten. Eine große Zahl von Teppichen, die die Hauptstadt Kabul während der sowjetischen Besatzung zeigen, folgt einem einfacheren, achsensymmetrischen Bildschema, das gleichwohl seine Geschichte ebenfalls von unten nach oben erzählt. Bei allen Teppichen der ersten beiden Phasen finden sich im Übrigen selten Menschen in den Hubschraubern und Automobilen; nur wenige der Kalaschnikow-Teppiche zeigen stilisierte Leichen.

„Sakini“ aus Westafghanistan, 177 cm x 108 cm, Ende der 1980er-Jahre.
Senkrechte Mittelachse als Straße mit Uhrturm und Verkehrspolizist; die Straße ist von Gebäuden gesäumt. Auf der horizontalen Achse finden sich zivile Fahrzeuge, in der Vertikalen und auf den Bordüren Militärfahrzeuge. In den Bergen am oberen Bildrand erkennt man zwei sich gegenüberstehende Steinböcke.

4. Medienvergleiche

Es ist ein kunstwissenschaftlicher Topos, dass die Einführung der Zentralper-spektive zu den symbolisch anspruchsvollen Taten der Renaissance gehörte.11 Dementsprechend scheint der eigentliche Umschlag in der Nutzung afghanischer Bildteppiche als Kommunikationsmittel während Besatzung, Bürgerkrieg und Wiederaufbau des Landes in der Reaktion auf das ikonoklastische Taliban-Regime zu erfolgen: Mit den Teppichen nach 2001 kamen perspektivische Bildobjekte auf.12 Für die traditionellen Bildmotive und ihre Aneignung in Form militärischer Objekte auf den Teppichen der 1980er-Jahre war hingegen die einfache, flache Projektion der Seitenansicht üblich. Dies ermöglichte auch die leichte Integration der technischen Geräte in Bordüren und andere ornamentale Strukturen. Solche eher traditionell angelegten Arbeiten richteten sich bildlich an Menschen aus der eigenen Umgebung.

Bei den Teppichen in der Tradition persischer Miniaturen wurde deren planparallele Projektion in der Tiefe übernommen - eine Projektion, die schon seit der späten Antike in Asien üblich war und seit dem hohen Mittelalter zu einer Form der „Kavaliersperspektive“ weiterentwickelt wurde, welche sich in Europa als isometrische Projektion in Bau, Konstruktion und Militär bis hin zur Computer-Animation erhalten hat. Der Blick von oben auf das Geschehen, der als einziger die Winkeltreue dieser Projektion erhält, wird zur symbolischen Form der Tiefendimension, die das Geschehen vom unteren Bildrand nach oben und somit von vorn nach hinten lesen lässt. Solche Arbeiten setzten bei den Betrachtern traditionelle Kenntnisse von hohem Niveau voraus und richteten sich daher an ein gebildetes Bürgertum der (Exil-)Afghaner.

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„Shibergan“-Teppich aus Nordafghanistan mit einer Darstellung des Anschlags auf das World Trade Center vom 11.9.2001, ca. 90 cm x 60 cm, 2002.
 

Die ersten Teppiche, die das Geschehen am 11. September 2001 vorführen, folgen partiell noch dieser Tradition: Die Zwillingstürme sind in isometrischer Projektion gegeben, während der Flugzeugträger am unteren Bildrand zentralperspektivisch dargestellt ist. Wird der Teppich nach der Miniaturform gelesen, so wäre der Flugzeugträger quasi der Ausgangspunkt des Geschehens, also die amerikanische Kriegsbereitschaft die Ursache für das terroristische Attentat. Doch haben sich diese Teppiche immer weiter von den narrativen Traditionen der Epik entfernt; die Bildmotive werden immer stärker direkt von fotografischen Vorlagen übernommen. Die neuesten Teppiche zeigen alte Motive wie den Pferdekarren noch strikt von der Seite, die Panzer, Architekturen und sogar davorstehende Menschen dagegen in Zentralperspektive.

Mit diesem Wandel geht - ganz europäischen Traditionen entsprechend - ein Verlust an oraler Narration einher; die Teppiche müssen ihre Motive durch Texte als Schilderung wahrer Begebenheiten beglaubigen. Auch zuvor waren Schriftzüge in Teppiche eingeknüpft oder -gewoben worden, doch hatten sie symbolische Funktion, waren Namen oder enthielten Gebetsrufe. Selbst der lässige Umgang mit der europäischen Rechtschreibung bei diesen Textelementen in den Teppichen ändert nichts an der Tatsache, dass ein großer Teil der Repräsentation des Gegenstands - hier also des Kriegs - nicht mehr durch Bilder, sondern nur noch durch Sprache zu verarbeiten ist. Die Teppiche sind in Bild und Text, aber zunehmend auch von ihrer industrialisierten Produktionsweise her zu Medien wie Fotografie und Fernsehbild geworden.

Damit ist sicher auch ein Teil der Faszination beschrieben, die diese Teppiche auf europäische Sammler und Theoretiker ausüben. Für die Nachrichtenübermittlung sind sie zu langsam, für die Ewigkeit als textile Objekte zu ephemer. Zwischen Kunst und Handwerk, Medienpolitik und Gebrauchsgrafik behaupten sie eine Funktion des Artefakts: Memorial des Gewesenen mit Referenz auf Gewachsenes und Tradiertes, jedoch in Produktion und Ökonomie auf einen schnellen Gebrauch und weltweite Verbreitung hin angelegt. Medien dieser Art hat es in der Geschichte vielfach gegeben, und sie sind es, die zu einem nicht geringen Teil als Quellen der Zeitgeschichte dienen.

Anmerkungen:

1 Paul Bucherer-Dietschi, Kunst im Widerstand, in: Hans Werner Mohm (Hg.), Afghanistan. Eine große Vergangenheit... und die Zukunft?, Trier 1990, S. 130-142. Ich bin Hans Werner Mohm für die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema sowie für unverzichtbare Hilfestellungen bei der Vorbereitung dieses Textes dankbar. Soweit nicht anders angegeben, stammen die hier gezeigten Teppiche aus Mohms Sammlung und die Fotos ebenfalls von ihm.

2 Vgl. etwa TurkoTek Discussion Boards (http://www.turkotek.com/salon_00070/s70t7.htm).

3 Jürgen Wasim Frembgen, Afghanische Bildteppiche mit Motiven von Krieg und Frieden, in: ders./Hans Werner Mohm (Hg.), Lebensbaum und Kalaschnikow. Krieg und Frieden im Spiegel afghanischer Bildteppiche, Blieskastel 2000, S. 23-48, hier S. 47.

4 Vgl. die Selbstdarstellung unter [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar).

5 Zum Begriff des Kanons vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 103-129.

6 Frembgen, Afghanische Bildteppiche (Anm. 3), S. 48.

7 Ron O’Callaghan, Afghan War Rugs, in: Oriental Rug Review 2003, online unter URL: [...] (Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar)

8 Annamarie Sauzeau Boetti (Hg.), Alighiero e Boetti. Ordre et désordre du monde. Œuvres 1967-1990, Dijon 2003. Boetti verband in seinem Künstlernamen den Vor- mit dem Nachnamen durch ein e.

9 John B. Gregorian, Oriental Rugs of the Silk Route. Culture, Process, and Selection, New York 2000. Vgl. auch die Bibliographie in: Frembgen/Mohm, Lebensbaum und Kalaschnikow (Anm. 3), S. 145-149.

10 Abu I-Qasim Mansur Firdausi, Shahname. Das persische Königsbuch. Miniaturen und Texte der Berliner Handschrift von 1605, hg. von Volkmar Enderlein u. Werner Sundermann, Hanau 1988. Meine Überlegungen beziehen sich eher auf etwas frühere Illustrationen aus dem 15. und 16. Jahrhundert.

11 Joscijka Gabriele Abels, Erkenntnis der Bilder. Die Perspektive in der Kunst der Renaissance, Frankfurt a.M. 1985.

12 Jean-Michel Frodon, The War of Images, or the Bamiyan Paradox, in: Bruno Latour/Peter Weibel (Hg.), Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, Cambridge 2002, S. 221ff.

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