Korporatismus und Lobbyismus vor 50 Jahren und heute

Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?“

Anmerkungen

Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1955.

Cover des Buches von Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Als zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Theodor Eschenburgs kleine, aber einflussreiche Schrift über die besorgniserregende Zunahme von Verbandsinteressen und Gruppenegoismen im noch jungen demokratischen Gemeinwesen der Bundesrepublik erschien, waren Verbände weder hinsichtlich der Organisationsmacht noch mit ihren Einflussversuchen auf politische Entscheidungsprozesse neuartige Phänomene. Man mag an den Alldeutschen Verband oder den Bund der Landwirte im Kaiserreich denken, an die Gewerkschaften der Weimarer Republik oder die mächtige industrielle Verbandslobby, die auch während des Nationalsozialismus weitgehend erhalten blieb: In modernen Massengesellschaften zählt die Artikulation partikularer Gruppeninteressen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Alltag.

Eschenburg (1904-1999) erhielt 1952 in Tübingen eine ordentliche Professur für Wissenschaftliche Politik und avancierte zu einer zentralen Gründergestalt dieser neuartigen Demokratiewissenschaft. Zeitlebens auf kühle analytische Distanz bedacht, verfügte der einer lübischen Patrizierfamilie ent-stammende Eschenburg, den die Zeitläufte aus Berlin in den Südwesten verschlagen hatten, doch über einen subtilen Humor und ein unerschöpfliches Arsenal an Anekdoten. Kein Wunder also, dass auch über diesen schwäbischen Hanseaten ungezählte Geschichtchen kursieren. Die zwei Bände seiner Erinnerungen legen Zeugnis davon ab, wie Geschichte in Geschichten lebendig werden kann. Für zeithistorisch Interessierte stellen sie eine seltene Kombination aus vergnüglicher wie lehrreicher Lektüre dar.1 In den Kolloquien des passionierten Pfeifenrauchers galt übrigens das heutzutage alles andere als politisch korrekte Motto „es darf auch nicht geraucht werden!“.

Unter den Gründergestalten der Politischen Wissenschaft besaß Eschenburg seit den 1950er-Jahren als unbestechlicher Interpret und einer der besten Kenner der bundesdeutschen Innenpolitik einen besonderen Ruf - ein Status, den er als politischer Kolumnist und kritischer Kommentator der Wochenzeitung „Die Zeit“ zwischen 1957 und 1970 zu bekräftigen vermochte. So wurde der Kenner der Institutionen selbst zur Instanz. Zugleich ist der jenseits der konventionellen Universitätslaufbahn in die Wissenschaft gelangte Eschenburg neben seinem Tübinger Kollegen Hans Rothfels als Mitbegründer und langjähriger Mitherausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ einer der Gründerväter der zeithistorischen Disziplin.

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Zwischen 1933 und 1945 hatte Eschenburg in der Industrie als Verbandssyndikus gearbeitet und dabei Einblicke in die Funktionsmechanismen organisierter Gruppeninteressen gewonnen. Hervorgegangen aus einem im Dezember 1954 vor der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf unter dem Titel „Staatsautorität und Gruppenegoismus“ gehaltenen Vortrag, fand die nur knapp 90 Seiten umfassende Schrift „Herrschaft der Verbände?“ im Adenauerstaat eine breite Resonanz. Sehr schnell verselbstständigte sich der von Eschenburg absichtsvoll als Frage formulierte Titel und wandelte sich zu einem zeitdiagnostischen Schlagwort, bei dem das Fragezeichen oft weggelassen wurde.

Im Kern kreiste Eschenburgs Interesse um die Spannung zwischen machtvoll artikulierten Partikularinteressen und der Gemeinwohlverpflichtung des Staates. Im Vorwort zitiert der liberale Politologe seinen Urahn Alexis de Tocqueville (S. 7): Der Zustand der Demokratie müsse „dauernd überwacht werden. Er ist weder gut noch böse, sondern ständiger Korrektur bedürftig, weil ihm tödliche Gefahr droht.“ Die noch labile demokratische Staatsordnung der jungen Bundesrepublik auf Dauer zu sichern, sie krisenfest zu machen und im Bewusstsein ihrer Bürger zu verankern, war Eschenburgs bleibendes Credo.

In Anlehnung an Ernst Fraenkel, der als Befürworter eines dezidiert pluralistischen Ansatzes gegen die traditionelle deutsche Verbandsprüderie ankämpfte, schickt Eschenburg seinen Ausführungen als Prämisse voraus (S. 5): „Wer den Pluralismus als die allein erträgliche Staats- und Gesellschaftsform unserer Zeit bejaht, der muß die Existenz- und Wirkungsberechtigung der Verbände anerkennen und kann ihnen ihr Recht auf ein ‚aufgeklärtes‘ Eigeninteresse nicht absprechen.“ Und dennoch, in Anbetracht dessen, was Eschenburg ein wenig altmodisch-gouvernemental „Staatsautorität“ nennt, sieht er klare Grenzen der organisierten Gruppeninteressen und benennt bedenkliche Entwicklungstendenzen der politischen Praxis in Bund und Ländern.

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So kritisiert er anhand eines Beispiels aus Niedersachsen die Einflussnahme von Lobbygruppen aus dem Agrarbereich auf die Personalpolitik von Ministerien, wodurch sich einige hohe Beamte „mehr als Kommissar ihres Interessenverbandes denn als Sachwalter des Staates“ fühlten (S. 16). Er moniert die Übermacht konfessioneller Rücksichtnahmen bei der Verteilung politischer Ämter, wo doch laut Grundgesetz eine halboffizielle Einwirkung kirchlicher Gruppierungen bei der Verteilung politischer Posten gar nicht vorgesehen sei, und geht mit der massiven Mitwirkung von Verbandsvertretern bei der Formulierung von Gesetzentwürfen im „Gefälligkeitsstaat“ hart ins Gericht. Dies kulminiert in der Feststellung (S. 53): „Die Duldung von Verfahrenswidrigkeiten führt zur Verformung unseres öffentlichen Lebens.“ Anhand der so genannten „Schlüteraffäre“ demonstriert Eschenburg die innere Labilität der jungen Parteien. Die niedersächsische FDP, von nationalsozialistischen Parteigängern unterwandert, hatte in der Regierung Hellwege 1955 ihren schwer belasteten Kultusminister Schlüter durchsetzen können - eine Personalentscheidung, die erst nach massivem Druck der öffentlichen Meinung revidiert werden konnte, insbesondere durch Intervention der Universität Göttingen.

Exempel wie diese führen Eschenburg schließlich zu der Einschätzung, „Kasimir Pachulke“ (Eschenburgs gern bemühter Musterbürger und Ottonormalverbraucher) sei vielfach ein besserer Demokrat als jene Politiker, denen er durch seine Wahl den Schutz der Demokratie anvertraut habe - ein Votum, aus dem deutlich das für Eschenburg charakteristische Vertrauen in die Kraft des „common sense“ spricht. Für den Mann auf der Straße nämlich sei „der demokratische Staat nicht ein Gruppenmarkt, die Politik nicht nur ein Gruppenhandel; er denkt trotz aller Interessenbefangenheit noch an das Gemeinwohl und an die Gerechtigkeit, so unvollkommen auch seine Vorstellung sein mag“ (S. 49).

Der Band über die „Herrschaft der Verbände?“ macht deutlich, dass theoretische Ansätze niemals Eschenburgs Stärke waren. Er setzte auf die intime Kenntnis der Praxis. Dabei half ihm sein weit verzweigtes Netzwerk, das auf den während der zeitgeschichtlichen Dissertation2 im Umkreis Gustav Stresemanns und der DVP/DDP sowie in den Folgejahren in Berlin geknüpften Kontakten beruhte und das er später um exzellente Verbindungen nach Bonn erweiterte. Stets ging es Eschenburg um die Anschaulichkeit des konkreten Fallbeispiels, das er zumeist als Symptom allgemeiner Entwicklungstendenzen analysierte. Sein Hauptinteresse galt dem institutionellen Funktionsgefüge der parlamentarischen Demokratie unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates. So lässt sich Eschenburgs lebenslanges Leitthema auf die Frage reduzieren: „Wie wird regiert?“ Das zentrale Anliegen seines publizistischen und wissenschaftlichen Werkes war, den zweiten Versuch einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland mit Blick auf die Verfassungswirklichkeit und in Respekt vor den Institutionen „unseres jungen und daher traditionslosen Staates“ (S. 44) kritisch zu begleiten und ihm so zu dauerhaftem Erfolg zu verhelfen. Strikte Einhaltung noch kaum geübter demokratischer Verfahren lautete das vorrangige Ziel. Allen Verformungstendenzen hin zu einem „Gefälligkeitsstaat“ der Gruppenegoismen galt es klar entgegenzutreten. Denn „in dem frisch bestellten Garten der Bundesrepublik“ seien „die Institutionen und Verfahren noch zarte Pflänzchen, die um ihrer selbst willen gepflegt werden müssen, damit sie Wurzel fassen“ (S. 83f.).

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Dies ist gelungen, wie wir in der Rückschau wissen. Mitte der 1950er-Jahre hingegen war die Entwicklung der Bundesrepublik noch sehr offen. Angesichts eines labilen Parteienspektrums und zweifelhafter demokratischer Gesinnung eines Teils der Bevölkerung erschien die deutliche Warnung, dass der Staat zum Spielball konkurrierender Gruppeninteressen zwischen Agrarlobby, Industrie und Vertriebenenverbänden werden könnte, durchaus nicht unbegründet. Andererseits konnte Eschenburg mit seinem institutionenbezogenen, den Respekt vor staatlicher Autorität einfordernden Ansatz wichtige gesellschaftsgeschichtliche Phänomene nicht in den Blick nehmen, deren Bedeutung für die Akzeptanzsicherung der Bundesrepublik die zeithistorische Forschung in den vergangenen Jahren herausgearbeitet hat.3

Und doch: Im Lichte aktueller Debatten um die Nebeneinkünfte gewählter Mandatsträger oder um den Einfluss von Lobbygruppen auf politische Entscheidungsprozesse - man denke nur an Themen wie Gesundheitsreform, europäische Automobilpolitik, Elektrizitätswirtschaft oder LKW-Maut - erscheinen Eschenburgs Mahnungen im Kern aktueller denn je.4 Den zeitgenössischen Diskurs beherrscht die Frage nach einer Entwicklung vom traditionellen Korporatismus zum modernen Lobbyismus. Der sozialwissenschaftliche (Neo-)Korporatismus der 1980er-Jahre ist out, die „Zukunft der Verbände zwischen Globalisierung, Europäisierung und Berlinisierung“ (Ulrich von Alemann) ist unter den Bedingungen einer konsequent pluralistischen Gesellschaft offen. Deutlich aber ist auch: Das Phänomen ist quicklebendig und feiert fröhliche Urständ. Kein Gesetzentwurf passiert heute den Bundestag ohne die massive Einflussnahme von Lobbyisten auf Abgeordnete, Regierungsvertreter und Ministerialbürokratie. Über 2.500 Lobbygruppen sind gegenwärtig beim Deutschen Bundestag akkreditiert - so viele wie nie zuvor. Ein Blick in den „Oeckl“, das Handbuch des öffentlichen Lebens in Deutschland, demonstriert eindrucksvoll die Vielzahl organisierter Gruppeninteressen in der heutigen Bundesrepublik, von berufsständischen Interessengruppen bis hin zu karitativ tätigen Verbänden. Das Spektrum der Pressure-groups hat sich bis zur Unübersichtlichkeit aufgefächert, neue Akteure sind hinzugetreten. Nicht nur wirtschaftliche Interessengruppen, auch zivilgesellschaftliche Bewegungen treten legitimerweise für den Schutz der Umwelt, für Bürgerrechte, behutsame Stadtplanung etc. ein. Mit dem „Fall Hunzinger“ ist außerdem deutlich geworden, wie kompliziert die Dinge auch für politische Akteure in einer gewandelten Öffentlichkeit liegen, wenn die Verflechtung von Mandat, medialer Präsenz, politischer PR und Lobbyarbeit immer enger wird. Nach wie vor ist der Grat zwischen legitimer Einflussnahme auf den politischen Prozess und manipulierten Machenschaften, Vetternwirtschaft oder gar Patronage und Korruption sehr schmal. Zwar ist die Öffentlichkeit sensibler geworden, die Lobbyarbeit allerdings auch geräuschärmer und professioneller. Das Problem der „heimlichen Gesetzgeber“ wird noch dadurch verschärft, dass zwischen der Organisations- und Finanzmacht industrie- oder finanzwirtschaftlicher Interessen und zahlreichen kleineren NGOs signifikante Unterschiede bestehen.

Die Betonung des Institutionellen im demokratischen Rechtsstaat gehört zu Eschenburgs Grundgedanken - frei nach den Worten des großen Europäers Jean Monnet: „Nichts ist möglich ohne den Menschen, nichts ist dauerhaft ohne Institutionen.“ Dieser Respekt vor Institutionen und die Notwendigkeit von demokratischer Kontrolle, Transparenz und Machtbegrenzung hat in der Gesellschaft des vereinten Deutschlands, das heute vor den Herausforderungen von hohen Arbeitslosenzahlen, zahlreichen Reformen, Politikverdrossenheit und der Gefährdung des Parteienspektrums von rechts steht, nichts an Aktualität eingebüßt.

Anmerkungen:

1 Theodor Eschenburg, Also hören sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904-1933, Berlin 1995, sowie posthum ders., Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933-1999, Berlin 2000.

2 Ders., Das Kaiserreich am Scheideweg. Bassermann, Bülow und der Block, Berlin 1929.

3 Vgl. etwa Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999; ders./Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998.

4 Neben den Publikationen Ulrich von Alemanns zum Verbändewesen vgl. als aktuelle Orientierungshilfe Thomas Leif/Rudolf Speth (Hg.), Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden 2003.

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