Blick durchs Ökoskop

Rachel Carsons Klassiker und die Anfänge des modernen Umweltbewusstseins

Anmerkungen

Rachel L. Carson, Silent Spring, Boston: Houghton Mifflin 1962, London: Penguin Classics 2000; dt. Übers.: Der stumme Frühling. Aus dem Amerikanischen übertragen von Margaret Auer, München: Biederstein 1963, Tb.-Ausg.: München: dtv 1968; Der stumme Frühling. Der Öko-Klassiker mit einem Vorwort von Joachim Radkau, München: beck’sche reihe 2007. Die Zitate im folgenden Text sind der Penguin-Classics-Ausgabe entnommen und gegebenenfalls vom Verfasser übersetzt.

 

 

Kaum ein anderes amerikanisches Buch hat in aller Welt so hohe Wellen geschlagen wie „Silent Spring“. Einem Tsunami vergleichbar, der sich von seinem unterirdischen Ursprung über lange Perioden und große Entfernungen hinweg ausbreitet, hat Rachel Carsons Buch tradierte Sichtweisen auf die Natur erschüttert, unerhörte Zerstörungen sichtbar gemacht und den Ausblick auf eine gefährdete Welt zurückgelassen. Eine „Flutwelle von Briefen“ fegte unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Kapitels im „New Yorker“ im Juni 1962 über die USA hinweg. Carson sah in den anhaltenden Reaktionen auf ihr Buch dessen eigentliche Bedeutung.1 Vieles spricht dafür, dass „Silent Spring“ einer der Auslöser für die ‚ökologische Revolution‘ der 1960er-Jahre war. Woher kam diese Sprengkraft? Und welche Bedeutung hat Carsons Klassiker heute – ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen?

Rachel Carsons frühe Publikationen sind inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Dabei war die Autorin 1962 kein unbeschriebenes Blatt. Ihr Werk über die „Geheimnisse des Meeres“ (1951) hatte sich 31 Wochen lang auf Platz eins der Beststellerliste der „New York Times“ gehalten; es war unter anderem mit dem National Book Award ausgezeichnet und im Laufe der Zeit in 28 Sprachen übersetzt worden. Zusammen mit „Am Saum der Gezeiten“ (1955) und „Unter dem Meerwind“ (1941) bildeten die drei Sachbücher eine beeindruckende Meeres-Trilogie.2 Carson (1907–1964), die ihre Karriere als Biologin im U.S. Bureau of Fisheries begonnen hatte, war längst finanziell unabhängig, als „Silent Spring“ erschien. Sie konnte sich mit ihren Ansichten weit aus dem Fenster lehnen – eine Revolution wollte sie allerdings nie auslösen. Ihr Ziel war eher profan: einer breiten Öffentlichkeit die Einsicht zu vermitteln, wie zerstörerisch Pestizide wirkten. Ihre Sorge galt der Welt der Natur und der Gesundheit des Menschen. Dass beiden insbesondere durch DDT irreparabler Schaden zugefügt wurde, wusste Carson, da sie jahrelang eine Fülle wissenschaftlicher Nachweise zusammengetragen hatte. In ihrer oft drastisch-evokativen Sprache wurde diese Botschaft spürbar.3

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Dass Carson eine populäre Autorin war, verlieh ihr aber noch lange keine Autorität in der Gesellschaft der USA. Wer sich vor Augen hält, welche Institutionen die damals 54-jährige Verfasserin durch die Veröffentlichung von „Silent Spring“ gegen sich aufbrachte, wundert sich über ihre Unerschütterlichkeit. Die Biologin hatte nicht promoviert und ihr Buch „im Alleingang“ geschrieben, „gleichsam als wissenschaftlicher Privatdetektiv“.4 Die Machtverhältnisse zwischen Carson und ihren Opponenten waren ausgesprochen ungleich. Denn dass Carson sich als Frau in einer von Männern dominierten Welt mit dem Establishment in Politik und Wissenschaft anlegte, gab den Konflikten eine eigentümliche Note. „Warum macht sich eine Jungfer so große Sorgen um Genetik?“, soll der Präsident geäußert haben.5 Andere Kritiker nannten sie „emotional“ oder „hysterisch“, und in einem Leserbrief an den „New Yorker“ hieß es: „As for insects, isn’t it just like a woman to be scared to death of a few little bugs! As long as we have the H-bomb everything will be O.K.“6

Zum Showdown zwischen der Ökologin und einem Repräsentanten der Chemieindustrie kam es schließlich in einer CBS-Sondersendung, die am 3. April 1963 zur besten Fernsehzeit ausgestrahlt wurde. Carsons Opponent, Dr. Robert White-Stevens von der American Cyanamid Company, agierte – ganz im Gegensatz zu Carson, die ihre Botschaft in aller Gelassenheit und Ruhe darlegte – aggressiv und gereizt: Eine Welt ohne Chemie, prophezeite er, werde Tod und Verderben und die Rückkehr ins dunkelste Mittelalter mit sich bringen.7 Das Fernsehpublikum schlug sich auf die Seite der Autorin. Ihr Triumph war vollends perfekt, als ein Bericht des Wissenschaftsrats des Präsidenten wenige Wochen nach der Sendung die „geordnete Reduktion persistenter Pestizide“ forderte und auf ein Ende des Einsatzes von Chemikalien wie Heptachlor und DDT drängte.8 Zu den mächtigsten Gegnern Carsons zählte aber das US-Landwirtschaftsministerium. Für dessen Beamte gehörte die Biologin zu einer kleinen Gruppe esoterischer Tierliebhaber und schrulliger Naturschützer, denen das Verständnis für die Notwendigkeit technischen Fortschritts fehle. Durch die Veröffentlichung von „Silent Spring“ wurde die leise Minderheit indes zu einer lautstarken, politisch wichtigen Instanz.

Die Verseuchung der Umwelt durch Pestizide war keine spektakuläre Entdeckung. Grünspan (Kupferacetat), Blei und Arsen hatten in Pflanzenschutz und Landwirtschaft schon in früheren Jahrhunderten Anwendung gefunden, und die gesundheitsschädigende Wirkung dieser Elemente stand nie in Frage. Allerdings begann Carson ihre Nachforschungen um die Zeit, als der „Cranberry Scandal“ durch die amerikanische Presse ging: Das Sprühen von Pestiziden aus der Luft hatte die Beeren in Long Island 1959 so kontaminiert, dass sie sich nicht mehr zum Verzehr eigneten. Für die Amerikaner, zu deren traditionellem Erntedankmahl Truthahn und Cranberries gehören, war dies ein schwerer Schock. Vorstöße von Wissenschaftlern, die Regierung zum Verzicht auf den Einsatz von Chemikalien zu zwingen, scheiterten aber bald an einem Urteil des Obersten Gerichtshofs. Dass Carsons Anklage hingegen so starke Wirkung zeigte und jahrelang nachhallte, lag nicht zuletzt an den Debatten um radioaktiven Niederschlag, die Politik und Kultur des frühen Kalten Kriegs bestimmten. Interessanterweise sind es nicht Chemikalien oder Pestizide, die im zweiten Kapitel von „Silent Spring“ als konkrete Bedrohung für den Menschen genannt werden, sondern es ist der radioaktive Niederschlag. Der Mensch, so Carson, habe als einzige Gattung auf dem Planeten so viel Macht gewonnen, dass er „die Natur seiner Welt verändern“ könne (S. 31). Diese Macht wird jedoch als Schimäre entlarvt, weil die Natur sich am Menschen räche.

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Das erste Kapitel des Buchs, „A Fabel for Tomorrow“, das in märchenhafter Sprache die Idylle einer ungenannten Kleinstadt evoziert, die von einem mysteriösen Schicksal befallen wird, dürfte Millionen Leserinnen und Leser an Nevil Shutes postapokalyptischen Bestseller „On the Beach“ (New York 1957) erinnert haben: Der Autor schilderte die gruselige Ruhe US-amerikanischer Städte, deren Bevölkerung durch radioaktiven Fallout ausgelöscht worden war. Carsons Buch erschien einen Monat vor der Kubakrise und zu einem Zeitpunkt, als man sich in den USA auf den nuklearen Ernstfall vorbereitete. Die Biologin griff das in der US-Gesellschaft vorhandene Klima der Furcht vor der atomaren Bedrohung auf und verband es mit den Risiken der Bedrohung durch Pestizide und andere Chemikalien.9

Eines der berühmtesten Fotos von Rachel Carson zeigt sie über ein Labormikroskop gebeugt; doch auf den meisten ist sie inmitten der Natur zu sehen: an einen Baum gelehnt etwa oder an der Küste ihrer Heimat Maine. Auf ihren Spaziergängen gehörte ein Feldstecher, mit dem sie Vögel beobachtete, zur ständigen Ausrüstung. Das Nebeneinander von Mikroskop und Fernglas ist symptomatisch für die Art und Weise von Carsons Beobachten und Denken. Kein anderes naturwissenschaftliches Werk bedient sich so konsequent wie „Silent Spring“ einer ständigen Zoomoptik, die die Mikro- und Makrobereiche der Natur zusammen sieht: Klein und groß, Moleküle und Organismen, Fauna und Flora, Wasser, Land und Luft – alles gehörte für Carson aufs Engste zusammen. In „Silent Spring“ erzählt sie, wie Rückstände von künstlich geschaffenen Chemikalien im Boden fortbestehen, wie sie „in die Körper von Fischen, Vögeln, Reptilien, Haustieren und wilden Tiere eingedrungen sind und diese bewohnen“. Die Chemikalien seien „in entlegenen Bergseen gefunden worden, in Würmern, […] in den Eiern von Vögeln – und im Menschen selbst“ (S. 31). Für die Ökologin, die die Welt nicht nur mit den bloßen Augen in den Blick nimmt, nicht nur durchs Mikroskop, sondern umfassend – wie durch ein ‚Ökoskop‘10 –, ist die „Balance der Natur“ ständigen Gefährdungen ausgesetzt. Nicht zufällig sprach sich Carson immer wieder gegen die Engführung der Forschung auf Laborexperimente und isolierte Beobachtungen aus. Gerade die physische Vernetzung des Menschen mit der Natur ließ die Öffentlichkeit aufhorchen. Plötzlich wurde die Relevanz der naturwissenschaftlichen Forschung drastisch sichtbar: Wissenschaft und Technik erschienen nicht mehr als Refugien weltabgewandter Forschung, sondern als Standorte eines Hexenkessels, in dem „Elixiere des Todes“ zusammengebraut wurden.11

Als der demokratische US-Politiker George McGovern 1962 in den Senat gewählt wurde, „lag ‚Silent Spring‘ stapelweise in den Buchläden“. „Bis dahin“, so McGovern im Rückblick, „hatten wir Naturschutz mit Teddy Roosevelt und mit den Nationalparks in Verbindung gebracht. Das Buch führte uns vor Augen, dass es nicht nur conservation gab, sondern dass zur Umwelt auch der Mensch, Wasser, Boden und Luft gehörten. Die Konservativen [Republikaner] liebten die Landschaftspflege und auch den Begriff conservation, wohl weil er so konservativ klang, aber das Buch zeigte uns etwas ganz Neues: dass auch der Mensch Teil der Umwelt ist, des environments. Vor Rachel Carson gab es in Amerika Teddy Roosevelt und die conservationists, nach Rachel Carson kamen die environmentalists.“12

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Carson war eine Warnerin, aber anders als bei Kassandra fanden ihre Warnungen unter den Zeitgenossen tatsächlich Gehör. Das mag – jedenfalls teilweise – Carsons Sprachkunst zu verdanken sein: Wie kaum eine andere Wissenschaftlerin beherrschte sie die Klaviatur unterschiedlicher Stile. Nahezu unmerklich wechselt sie vom Nüchternen über das Fantastische zum Eindringlichen, kleidet den radikalen Inhalt ihrer Botschaft in ein wunderschönes Gewand und pointiert ihn damit erst recht. Im Gegensatz zum Sozialisten Murray Bookchin, der bereits einige Monate zuvor die „synthetische Gesellschaft“ der USA als „anti-ökologisch“ etikettiert und das zugrunde liegende Wirtschaftssystem an den Pranger gestellt hatte,13 galt Carsons Anklage der perfiden und gierigen Haltung der Chemieindustriellen. Ihre Kritik war fokussiert, rüttelte aber nicht an den Grundfesten der gesellschaftlichen Ordnung; sie kam fast harmlos daher und war just dadurch hochgradig subversiv.

Über die Auswirkungen von „Silent Spring“ ist häufig spekuliert worden. Fest steht, dass das Buch zum zentralen Auslöser für ein Verbot von DDT in den meisten westlichen Ländern wurde. Fest steht aber auch, dass es nicht das Ende der Ära der Pestizide bedeutete.14 Zweifellos hat ihr Werk die Umweltwahrnehmung einer ganzen Generation verändert. Wissenschaftlich hat das Buch, oft indirekt und subtil, zudem in andere Bereiche hineingewirkt: Viele wichtige Monographien wären ohne „Silent Spring“ wohl kaum entstanden – etwa Ted Steinbergs „American Green“ (2006; über die Obsession der Amerikaner für chemisch gestylten Kunstrasen), William Cronons „Nature’s Metropolis“ (1991; über die enge Verflechtung Chicagos mit den Pflanzen und Tieren im Hinterland) oder Andrew Isenbergs „Mining California“ (2005; über den hydraulischen Goldabbau und die Verseuchung der Nahrungskette durch Quecksilber). Die „Ökologisierung“ der Geschichtswissenschaft oder, wenn man so will, die Entstehung der transdisziplinären Umweltgeschichte verdankt sich nicht zuletzt jenem in „Silent Spring“ angelegten Verständnis, das biologische und gesellschaftliche Prozesse, menschliche Zugehörigkeit zur Natur und ethische Verantwortung aufs Engste miteinander verbindet.

Anmerkungen: 

1 Rede Rachel Carsons im Dezember 1962; zit. nach Shirley A. Briggs, Rachel Carson: Her Vision and Her Legacy, in: Geno J. Marco/Robert M. Hollingworth/William Durham (Hg.), Silent Spring Revisited, Washington 1987, S. 3-11, hier S. 7.

2 Rachel Carson, The Sea Around Us, New York 1951; dies., The Edge of the Sea, Boston 1955; dies., Under the Sea-Wind. A Naturalist’s Picture of Ocean Life, New York 1941.

3 Vgl. die Biographie von Linda Lear, Rachel Carson. Witness for Nature, New York 1997, sowie die von Lear gestaltete Website http://www.rachelcarson.org.

4 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 123.

5 Ezra Taft Benson, ehemaliger US-Landwirtschaftsminister, hielt Rachel Carson im privaten Gespräch mit Präsident Eisenhower für eine „Kommunistin“. Vgl. Linda Lear, Rachel Carson’s Silent Spring, in: Environmental History Review 17 (1993), S. 23-48, hier S. 36.

6 In the Mail, in: New Yorker, 20. und 27.2.1995 (Abdruck von Leserbriefen aus dem Jahr 1962); Lear, Carson’s Silent Spring (Anm. 5), S. 36; zum größeren Zusammenhang vgl. Michael B. Smith, „Silence, Miss Carson!“ Science, Gender, and the Reception of Silent Spring, in: Feminist Studies 27 (2001), S. 733-752, sowie Maril Hazlett, ‚Woman vs. Man vs. Bugs‘. Gender and Popular Ecology in Early Reactions to Silent Spring, in: Environmental History 9 (2004), S. 701-729.

7 Lear, Carson’s Silent Spring (Anm. 5), S. 38f.

8 Dies., Bombshell in Beltsville. The USDA and the Challenge of Silent Spring, in: Agricultural History 55 (1992), S. 151-170; The White House, The Uses of Pesticides. A Report of the President’s Science Advisory Committee. May 15, 1963, Washington D.C.

9 Vgl. Ralph H. Lutts, Chemical Fallout. Rachel Carson’s Silent Spring, Radioactive Fallout, and the Environmental Movement, in: Environmental Review 9 (1985), S. 210-225.

10 So könnte man ein fiktives Instrument nennen, das die unentwirrbaren Knoten der menschlichen Verflechtung mit der gesamten Umwelt ausleuchtet.

11 „Elixirs of death“ heißt die Überschrift des 3. Kapitels von „Silent Spring“.

12 Diskussion zwischen UN Global Ambassador Senator George McGovern und mir am Rachel Carson Center in München, 17.10.2011.

13 Lewis Herber (Murray Bookchin), Our Synthetic Environment, New York 1962.

14 Vgl. z.B. Christal G. Pollock, Silent Spring Revisited. A 21st-Century Look at the Effect of Pesticides on Wildlife, in: Journal of Avian Medicine and Surgery 15 (2001), S. 50-53.

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