Imperien im 20. Jahrhundert

Eine Einführung

Literatur

Vom Wort „Imperium“ geht eine archaische Faszination aus. Es weckt Assoziationen von herrscherlicher Willkür und roher militärischer Gewalt, von oberster Autorität, die keine Gleichberechtigten anerkennt, von kommandierender Verfügung über riesige Räume, schließlich über den Erdball an sich. Das Bildgedächtnis wartet mit Spektakulärem auf: der Brutalität des Nebukadnezar, der Dynamik Alexanders, Peter Ustinovs Kaiser Nero, Chaplins Großem Diktator im Ballett mit dem Globus, Eroberungsschlachten seit Cortez’ Vormarsch gegen die Azteken, Rückzugsgefechten bis Algier 1958 und Saigon 1975. Im Imperium kristallisiert sich der höchste Anspruch auf monopolisierte Macht. Allein aus Gründen symbolischer Politik musste daher jeder US-Präsident nach dem Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Supermächte eine imperiale Rhetorik und einen imperialen Gestus annehmen (was George W. Bush in besonders ausgeprägter Weise getan hat).

„Imperium“ ist seit den Anfängen der Geschichtsschreibung ein Grundthema, das immer neue Konjunkturen durchlaufen hat. Das aktuelle Interesse an ihm verdankt sich hauptsächlich zwei Entwicklungen: Zum einen hat das Sprachspiel des „Postkolonialismus“ mittlerweile auch Bezirke der deutschen Geisteswissenschaften erreicht. Zum anderen wecken Selbstdarstellung und politisches Verhalten der USA Anklänge an die Allmachtphantasien, die man am ehesten Imperien zuzuschreiben geneigt ist. Einige, die den akademischen Markt besonders gründlich auf Angebotslücken abgesucht haben, sprechen bereits von einem „imperial turn“. Die kraftvolle Innovationsparole des „turn“ verbindet dabei zwei taktische Vorteile: Sie definiert einen Fortschrittssog (früher hieß das „Paradigmenwechsel“), dem man sich nur bei Strafe der Selbstossifikation entzieht. Und zugleich macht sie deutlich, dass ein großer Teil der bisherigen Literatur im Namen des neuen Aufbruchs der Nichtbeachtung verfallen dürfe.

Nun hat die frühere Forschung zu Imperien mehr zu bieten, als heute vielfach angenommen wird. Das Problem besteht eher darin, dass sie sich über einen langen Zeitraum historiographischer Entwicklung hinweg auf mehrere, miteinander wenig verbundene Diskursfelder verteilt hat. Fünf davon sind besonders wichtig. Erstens hat es die gesamte Historiographie der Welt vor dem Aufkommen des Nationalstaates im Regelfall mit Imperien zu tun. Hier reicht das Spektrum von der Altorientalistik über die Römische Geschichte bis zur Erforschung der frühneuzeitlichen europäischen Expansion und des gleichzeitigen Alten Reiches. Man war auf diesen epochal und regional selbstgenügsamen Feldern lange Zeit mit einem relativ geringen Maß an Systematisierung zufrieden. Auch daher blieben die Resultate Historikern der späten Neuzeit meist verborgen.

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Zweitens hat sich die historische Soziologie des Themas angenommen. Dies geschah bei ihren „Klassikern“ zwar erst in rudimentärer Form, doch kam das Thema mit einem Paukenschlag auf die Tagesordnung, als Shmuel N. Eisenstadt 1963 - ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Dekolonisation - sein großes Werk „The Political Systems of Empires“ veröffentlichte. Der israelische Soziologe wandte hier einen durch Max Weber und Talcott Parsons geschulten Strukturfunktionalismus zwar nur auf vormoderne Herrschaftsgebilde an, und deren expansive Dynamik interessierte ihn wenig. Doch entwarf er ein konsistentes Gebäude von Termini und Hypothesen, das, in späteren Arbeiten Eisenstadts kulturtheoretisch erweitert, für die Beschreibung des Funktionierens von Imperien bis heute unentbehrlich bleibt. Autoren wie John H. Kautsky oder Samuel E. Finer haben auf der von Eisenstadt markierten Analyseebene weitergearbeitet. Diese Literatur bleibt für Historiker noch weithin zu entdecken. Aus anderen Strömungen der historischen Soziologie sind Anregungen schon eher aufgenommen worden. So hat zum Beispiel Herfried Münkler jüngst Michael Manns Unterscheidung von Machtsorten sowie den Gedanken der Konvertierbarkeit dieser Machtsorten untereinander aufgegriffen (militärisch, ökonomisch, politisch, ideologisch fundierte Macht). Auch die Schriften von Charles Tilly über Revolution, Krieg und Staatsbildung könnten für das Thema „Imperien“ ergiebig sein.

Drittens gibt es seit mehreren Jahrzehnten in Großbritannien eine „imperial history“, die in zahlreichen anderen (vorwiegend ex-imperialen) Ländern Äquivalente besitzt. Die britische „imperial history“ entstand aus der Erfahrung der Dekolonisation heraus, und nur wenige ihrer Vertreter haben dem Empire nostalgisch nachgetrauert. Mittlerweile ist sie ein weit verzweigtes Feld, das von der Natur der Sache her integrativ bearbeitet werden muss, also politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Aspekte imperialer Geschichte in wechselnden Mischungsverhältnissen miteinander verbindet. Das zentrale Interesse ist lange ein politikgeschichtliches gewesen, doch sollte man nicht übersehen, dass vor allem John M. MacKenzie seit den frühen 1980er-Jahren eine Kulturgeschichte des britischen Empire initiiert und selbst betrieben hat, die sich in den zahlreichen Bänden der Reihe „Studies in Imperialism“ (Manchester University Press) eindrucksvoll darstellt. Diese Richtung befasst sich mit Imperien ebenso wie mit Imperialismus und Imperialismen. Ihr deutsches Gegenstück hat sich lange eher hinter dem Begriff der „europäischen Expansion“ formiert.

Viertens sind selbstverständlich zahlreiche historische „area studies“ imperialhistorisch orientiert. Dies ist so offensichtlich, dass es häufig übersehen wird. So ist die gesamte schriftlich dokumentierte (also über den Zuständigkeitsbereich der Ethnohistorie hinausgehende) frühe Geschichte Nordamerikas oder Australiens in einer wichtigen Dimension Kolonial- und Imperialgeschichte. Für die Geschichte großer Teile Afrikas gilt Ähnliches. Dies muss keineswegs bedeuten, dass unweigerlich eine „eurozentrische“ Perspektive eingenommen wird. Aber die Trennung zwischen Imperial- und Nationalgeschichte wird hier fragwürdig und lässt sich praktisch gar nicht vornehmen. Eine zeitgemäße „imperial history“ arbeitet mit einer Vielfalt von regionalen, sozialen, ethnischen und geschlechterspezifischen Perspektiven.

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Schließlich gibt es noch eine Art camouflierter Imperialgeschichte, eine, die dies in der Sache ist, ohne sich explizit dazu zu bekennen. So hat lange Zeit selbst der liberale „mainstream“ der US-Historiographie den Begriff des „empire“ so gut wie nie auf die eigene nationale Entwicklung angewandt. Dergleichen blieb Außenseitern wie der Schule um William Appleman Williams überlassen. Untersuchungen nicht nur der überseeischen Aktivitäten der USA, sondern auch der siedelnden Westwärtsbewegung auf dem Kontinent haben jedoch offensichtliche Ähnlichkeiten zu Prozessen herausgearbeitet, die man in anderen Teilen der Welt als Kolonisation und „empire-building“ bezeichnen würde. Hinter Begriffen wie „frontier“ oder „manifest destiny“ verbarg sich die US-amerikanische Variante imperialer Großraumbildung. Mittlerweile sind die terminologischen Tabus gefallen.

Spätestens seit A.G. Hopkins „imperial history“ als eine Art von Sprungbrett zu einer konsequent globalen Geschichtsbetrachtung empfahl, hat das Feld seine maximale Ausdehnung erreicht. Heute kann man inmitten großer Vielfalt vielleicht drei besonders ertragreiche Ansätze unterscheiden, die sich zueinander eher komplementär als exklusiv verhalten. Erstens sucht ein historisch-makrosoziologischer Zugang, der sich mit der Theorie der internationalen Beziehungen berührt, nach strukturellen Eigenarten der Vergesellschaftungsform „Imperium“ - sowohl im Inneren als auch im inter-imperialen und inter-nationalen Umfeld. Hier spielen Zentrum-Peripherie-Modelle ebenso eine Rolle wie diachrone Vorstellungen von typischen imperialen Evolutionsmustern oder von langen Wellen der Hegemonie. Dieser Ansatz bemüht sich um begriffliche Präzision, weist dem Problem der Machtverteilung eine besondere Rolle zu und hat stets die komparative Dimension im Blick. Er erkauft dies durch einen Schematismus, wie er bei Makrosichtweisen freilich schwer zu vermeiden ist. Profilierte Vertreter dieser Richtung sind Michael W. Doyle, Herfried Münkler und Alexander J. Motyl, unter Historikern etwa Dominic Lieven oder Alfred J. Rieber.

Dass sich die zweite Richtung als „new imperial history“ bezeichnet, sagt inhaltlich wenig aus. Man könnte sie die Geschichte der Identitätsbildung in imperialen Horizonten nennen. Makroperspektiven geraten hier zuweilen völlig aus dem Blick. Die Ränder von und zwischen Imperien werden unscharf. Peripherien und die mit ihnen verbundenen „Hybriditäten“ sind wichtiger als die zentralen Quellen imperialer Strukturierung, die bei der Makrosoziologie im Vordergrund stehen. Einige der überzeugendsten Arbeiten sind über Grenzgänger und Außenseiter geschrieben worden. Neben individuellen wie kollektiven Identitäten interessieren hier vorrangig „Diskurse“, einschließlich der immer stärker beachteten imperial-kolonialen Wissenschaft. Einen solchen Ansatz vertreten etwa Kathleen Wilson, Antoinette Burton oder Birthe Kundrus. Die Nähe zur Literaturwissenschaft ist hier wesentlich größer als die zur Soziologie und Politologie.

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Eine dritte Strömung, die vor allem mit der Neuinterpretation des britischen Imperialismus durch Peter J. Cain und A.G. Hopkins Auftrieb erhalten hat, sieht Imperien (und dabei liegt der Akzent naturgemäß auf dem britischen Empire und der US-amerikanischen Hegemonialstellung) als Netzwerke großräumigen Tauschs und Ressourcentransfers. Ohne dass deterministisch von einem Primat der Ökonomie gesprochen werden könnte, erhalten wirtschaftliche Zusammenhänge hier eine größere Bedeutung als bei den anderen Ansätzen. Die (zumindest neuzeitliche) Geschichte von Imperien wird in den Kontext der sich entfaltenden Globalisierung eingebettet. Dass Imperien dabei sowohl als Agenten globaler Vernetzung wie als Abwehrinstrumente im Dienste potenzieller Globalisierungsverlierer fungieren können, wird vorausgesetzt und eröffnet Möglichkeiten für eine vergleichende Betrachtung. Vor allem eine internationale Arbeitsgruppe, die Shigeru Akita in Osaka koordiniert, hat diesen Ansatz ausgearbeitet.

Bei weitem nicht alle Autoren, die Wesentliches zu Imperien zu sagen haben, lassen sich einer der drei genannten Strömungen zuordnen. Am meisten profitieren Leser vielleicht von denjenigen, die sich bewusst und originell querstellen. Hier wären zum Beispiel der Afrikahistoriker Frederick Cooper und der Indienhistoriker C.A. Bayly zu nennen, die sich beide vor dem Hintergrund sicherster Regionalkompetenz immer wieder der Diskussion zentraler Analysekategorien zuwenden: Kolonialismus, Staat, Nation, Globalisierung, Identität, Modernität usw.

Die Forschung zu Imperien steht heute nicht vor der Notwendigkeit, die verschiedenen Richtungen durch ein Dachkonzept zu überwölben; mit dem gegenwärtigen Pluralismus lässt sich recht gut leben. Sie hat es aber mit einer ganzen Reihe anderer Herausforderungen zu tun. Die meisten von ihnen stellen sich durch den Anspruch des explizit oder implizit Komparativen, der die Historiographie über Imperien von Anfang an begleitet hat und der heute eine weitere Intensivierung verlangt. Explizit zu vergleichen heißt, einzelne imperiale Fälle unter allgemeinen Gesichtspunkten aufeinander zu beziehen. Implizit zu vergleichen bedeutet, die Analyse individueller Imperien bereits auf spätere Vergleichbarkeit anzulegen. Dazwischen liegt die Möglichkeit, wie sie Maurus Reinkowski in diesem Heft am Beispiel des Osmanischen Reichs vorstellt, aus der Untersuchung eines einzelnen Imperiums selbst komparative Schlussfolgerungen zu ziehen.

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Eine erste Herausforderung ergibt sich aus der konventionellen Gegenüberstellung von Land- und Seeimperien. Sie sind in der Historiographie meist getrennt behandelt worden. Die entgegengesetzte Lösung, diesen Unterschied ganz zu ignorieren, macht es sich ein wenig zu einfach. Hier können differenzierte Raumkonzepte weiterhelfen, wie sie heute die (historische) Geographie bereitstellt. Es zeigt sich dann, dass die innere Raumordnung gleichermaßen besiedelte Kernzonen, Küstensäume, Inseln und maritime Zwischendistanzen umgreift. Vor allem das britische Empire, manchmal als Musterfall eines Überseereiches gesehen, muss als „amphibisch“ bezeichnet werden, schloss es doch einige der größten zusammenhängenden Landmassen der Erde ein (Kanada, Indien, Australien). Die historische Geographie kann ebenfalls dort hilfreich sein, wo es um eine genauere Bestimmung der Arten und Funktionsweisen imperialer Grenzen geht. Mit dem Hinweis auf bewegliche und formbare „frontiers“ ist es nicht getan.

Ein anderer systematischer Punkt von großer Wichtigkeit ist das Verhältnis von Imperium und Nationalstaat. Beide Formen von Gemeinwesen mögen typologisch einigermaßen sauber zu unterscheiden sein. Sie standen aber in der Vergangenheit in vielfältigen und komplizierten Beziehungen zueinander. Benjamin Zachariah zeigt in diesem Heft, dass durch eine schroffe Gegenüberstellung von kolonialem Herrschaftssystem und nationalistischer Protestbewegung die Verhältnisse im spätkolonialen Indien keineswegs adäquat erfasst werden können. Am ergiebigsten dürfte eine dynamische Betrachtungsweise sein. Dann wären „nation-building“ und „empire-formation“ zwei separate, aber miteinander verbundene Prozesse, auf deren zeitliche Relation besonders zu achten ist. In einigen Fällen (z.B. Großbritannien, Frankreich) verstärkten diese beiden Prozesse einander. In einer anderen Klasse von Fällen (etwa bei den Reichen der Habsburger und der Osmanen) bildeten überkommene imperiale Strukturen den Rahmen für Prozesse der Nationsbildung. Eine wiederum andere Möglichkeit besteht darin, dass die zentripetale Kraft eines (überseeischen) Imperiums die Nationsbildung im Zentrum erschwert und hinauszögert (etwa Portugal). Seit den 1880er-Jahren haben sich umgekehrt relativ weit entwickelte Nationalstaaten Imperien zugelegt (Deutschland, Japan, Italien). Besonders schwierig fassbar und theoretisch noch nicht zureichend analysiert sind „imperiale Nationalstaaten“, d.h. sehr große Länder, die auf der internationalen Bühne als Weltmächte agieren, über kein formales Kolonialreich verfügen, aber zum einen im Inneren ethnisch stark diversifiziert sind, zum anderen einen gewissen moralischen Universalismus propagieren (ein Erbe der homogenen Elitekultur klassischer Reiche) oder zumindest einem solchen Universalitätsanspruch anderer abwehrend gegenübertreten. Unter solchen Gesichtspunkten könnte man zwischen den beiden großen weltpolitischen Kontrahenten USA und China, so völlig unterschiedlich sie sich auf den ersten Blick auch darstellen, bemerkenswerte Ähnlichkeiten feststellen.

China und die USA sind ebenfalls Testfälle für eine weitere große Herausforderung der Imperienforschung. Es ist eine Binsenweisheit, dass auch Imperien eine jeweils eigene Geschichte haben. Das zyklische Schema von Aufstieg, Blüte und Verfall, das sich in der Selbstinterpretation mehrerer imperialer Kulturen findet (etwa beim „dynastischen Zyklus“ der klassischen konfuzianischen Geschichtsdeutung) gehört zu den ältesten Modellen historischer Bewegung überhaupt. Man wird aber hier wesentlich genauer hinschauen und die Entwicklungskurven einzelner Imperien mit fein abgestimmten Zeitindices versehen müssen. Den Ausgangspunkt können hier einige der klassischen Fragen bilden: die berühmte, heute in der Diskussion wieder offene Frage nach dem möglichen Übergang von einem „ersten“ zu einem „zweiten“ British Empire während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, die zeitliche Form des (von Maurus Reinkowski diskutierten) langwierigen „Niedergangs“ des Osmanischen Reiches oder die Metamorphose des Zarenreiches in das „affirmative action empire“ (Terry Martin) der Sowjetzeit. Allgemein wäre danach zu fragen, was mit Imperien geschieht, wenn sie von so etwas wie Modernität eingeholt werden. Die Kapazität imperialer Herrschaftsträger zur Anpassung an veränderte äußere Umstände ist recht unterschiedlich entwickelt. Bei aller verständlichen Fixierung der Aufmerksamkeit auf Niedergang und Zusammenbruch muss doch in nicht wenigen Fällen mindestens ebenso sehr die Stabilität und das Überdauern einzelner Imperien über viele Jahrhunderte hinweg Verwunderung erregen. Einige Imperien haben sich freilich mit der Zeit bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. So gibt es fast kein strukturelles Merkmal, das den frühen englischen Überseeunternehmungen im Zeitalter Elisabeths I. und dem Commonwealth Elisabeths II. gemeinsam wäre.

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Eine letzte Frage - und sie ist für Zeithistoriker von größtem Interesse - ist diejenige nach der Einbeziehung der neuartigen Imperialismen des frühen 20. Jahrhunderts in vergleichende Überlegungen. Ein relativ einfacher Fall ist Japan. Seit der Annexion der chinesischen Insel Taiwan im Jahre 1895 baute das japanische Kaiserreich schrittweise ein Imperium auf, das auf dem Höhepunkt der militärischen Machtstellung Japans, im Jahre 1942, große Teile Chinas und fast ganz Südostasien umfasste. Das japanische Imperium war dem Anspruch nach ein „modernes“ Imperium, von keinerlei Schlacken einer vorausgegangenen frühneuzeitlichen Expansion belastet. Es war auch ein gewissermaßen komplettes Imperium, da kaum eine Form wirtschaftlicher Ausbeutung und ideologischer Begründung fehlte, die man in den europäischen Imperien findet. Japan könnte in einer Erörterung von Imperien des 20. Jahrhunderts einen prominenten Platz finden. Das italienische Imperium zunächst der Republik, dann des Faschismus war verhältnismäßig klein und eindimensional, verdient aber in vergleichenden Zusammenhängen ebenfalls Beachtung. Für die Sowjetunion und (in geringerem Umfang) das postsowjetische Russland scheinen sich die Fachleute darauf zu einigen, in andauernder Vielvölkerstaatlichkeit imperiale Strukturen weiterleben zu sehen.

Kontrovers wird vor allem die Einordnung der beiden extremen Fälle bewertet. Dies betrifft zum einen die USA, deren „formal empire“ sich vor dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen auf die Philippinen beschränkte. In welchem Sinne von einem Imperium Americanum gesprochen werden kann, ist jedenfalls für die erste Hälfte des Jahrhunderts noch umstrittener als für die Gegenwart (siehe den Beitrag von Jan C. Behrends in diesem Heft). Können Interventionen in der Karibik, „Dollar-Diplomatie“ und Kulturexport insgesamt als Ausdruck des Imperialen betrachtet werden? Viel eindeutiger ist die Antwort, die Michael Wildt für die nationalsozialistische Ostexpansion im Zweiten Weltkrieg gibt: Idee und Wirklichkeit einer mit extremsten Methoden durchzusetzenden völkisch-rassischen Neuordnung wurden nicht nur mit einer Reichsphraseologie umgeben, sondern zeigten auch manche formalen Merkmale hierarchischer und asymmetrischer Herrschaftsformationen, die man gemeinhin als „Imperium“ bezeichnet. Lebensraumideologien hatte es schon in der Zeit des Hochimperialismus vor 1914 gegeben. Auf der anderen Seite hat spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der gesamten westeuropäischen Kolonialgeschichte nur in seltenen Ausnahmefällen (etwa dem Kongo-„Freistaat“ des belgischen Königs Leopold II.) eine solche völlige Entrechtung der Bevölkerung stattgefunden wie im deutschen Ostimperium während des Zweiten Weltkriegs. Von genozidaler Gewalt kann man für manche Episoden der frühneuzeitlichen Conquista sprechen, aber nicht mehr - als Strukturmerkmal von Kolonialherrschaft - für die spätere Zeit. Bei mancher strukturellen Kontinuität war die NS-Herrschaft der Kriegsjahre daher eine radikale Neuentwicklung, die sich mit dem Begriff „Imperium“ nur ungenügend erfassen lässt. Sie wurde zu einer Zeit geplant und realisiert, als die Dekolonisation in Asien (vor allem auf den Philippinen, in Indien und in Ceylon) bereits vorausgedacht und vorbereitet wurde.

Die „Imperienforschung“ - wenn man denn ein solches Etikett verwenden will - lässt sich nur schwer in die üblichen Periodenschemata einordnen. Sie hat es mit variablen Zeithorizonten zu tun: Selbst wenn man Analogien zwischen Trajans Rom und den USA der Gegenwart nicht immer überzeugend findet, wird man zumindest die Einheit der neueren Geschichte verteidigen wollen. Ein rein zeithistorisches Interesse an Imperien, das die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert ignoriert, ließe sich kaum rechtfertigen. Umgekehrt sollten Kontinuitäten nicht überschätzt und Theorien, die eine überzeitliche Logik von Imperien annehmen, mit Skepsis betrachtet werden. Die einzelnen Imperien durchliefen oft tiefgreifende Wandlungen und erneuerten sich von Phase zu Phase. Die größten und mächtigsten unter ihnen gestalteten die Welt und waren zugleich darauf angewiesen, sich an veränderte äußere Umstände anzupassen: Veränderungen des Welthandels, der Kommunikationsmittel und der Militärtechnologie, der demographischen Entwicklung, der Legitimation von Herrschaft und des Verständnisses von ethnisch-nationaler Zugehörigkeit. Sie agierten und reagierten gleichermaßen.

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Ebenso ambivalent wird in manchen Fällen das historische Urteil ausfallen (in einigen Fällen, etwa dem des nationalsozialistischen Kriegsimperiums, ist es eindeutig negativ). Nicht ganz aus der Luft gegriffen ist es, wenn der einflussreiche Historiker Niall Ferguson, selbst übrigens kein anerkannter Experte der Imperialgeschichte, dem British Empire für bestimmte Zeiten und Räume eine zivilisierende und friedensstiftende Wirkung zuschreibt (vgl. den kritischen Kommentar bei Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen). Im Rückblick wird man auch für andere Reiche zögern, sich den zeitgenössischen Verdammungsurteilen ihrer nationalistischen Gegner bedenkenlos anzuschließen. Dennoch verbietet sich jede pauschale Apologetik selbst relativ milder Formen von „Fremdherrschaft“ - eine Kategorie, die selbst natürlich wieder der Historisierung und Kontextualisierung bedarf. Mit Recht wird in der Öffentlichkeit, zuletzt 2005 in Frankreich, an Verbrechen der Kolonialgeschichte erinnert. Sie bleiben ein noch nicht erschöpftes Thema zeithistorischer Forschung.

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