Europäische Zeitgeschichte

Narrative und historiographische Perspektiven

1. Zentrale Narrative in der europäischen Zeitgeschichte
2. Arbeitsfelder einer wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung Europas
3. Bilanz und Ausblick

Anmerkungen

Bedeutet europäische Zeitgeschichte nicht dasselbe wie deutsche Zeitgeschichte, nur in einem größeren Rahmen? „Im Namen Europas“ titelte Timothy Garton Ash vor einem Jahrzehnt mit deutlich kritischen Untertönen über die hierzulande anzutreffende geringe Unterscheidungsfähigkeit der deutschen und europäischen Ebene in der Politik.1 Gegenwärtig ist Europa in aller Munde, wenn von der Osterweiterung der nächsten zwei Jahre geredet wird, wobei gelegentlich die Bezugsgrößen durcheinander gehen; mal heißt es - korrekt - Osterweiterung der Europäischen Union, mal aber auch - fälschlich - Europas. Gerade in ehemaligen „Oststaaten“ ist seit den 1980er-Jahren häufig von einer „Rückkehr nach Europa“ die Rede gewesen - in welches Europa? Und war „Osteuropa“ nicht auch immer Europa?

Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Bundesrepublik der Blick auf Europa mit wenigen Schlagworten zu greifen: „Europa. Erbe und Auftrag“ lautete 1951 der Titel einer Festschrift für den Kölner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Bruno Kuske,2 die Aufsätze enthielt wie etwa den von Alfred Müller-Armack: „Die Einheit Europas geistes- und wirtschaftswissenschaftlich gesehen“. Wilhelm Helmrich suchte an gleicher Stelle das „Problem der europäischen Kohle-, Eisenerz- und Schrottwirtschaft“ zu ergründen. Als Besinnung auf tragende Werte und Orientierung in der Gegenwart könnte man diesen Ansatz bezeichnen. 1955 konnte das Institut für Europäische Geschichte in Mainz erstmals wieder eine europäisch bestückte große Tagung zusammenbringen, und auch hier hieß der Sammelband dann: „Europa - Erbe und Auftrag“.3 „Zeitgeschichte“ gab es schon im Ersten Weltkrieg in einer sehr spezifisch auf aktuelle Politik gerichteten Form,4 aber nach der NS-Zeit bedeutete Zeitgeschichte einen neuen Ansatz und bestimmte dabei den Beginn ihrer Forschungen auf den Ersten Weltkrieg, genauer auf das Jahr 1917.5 Fast ein halbes Jahrhundert später setzt europäische Zeitgeschichte sinnvollerweise erst mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Sie besitzt immer noch etwas von den frühen Prägungen der ersten „Aufarbeitungen“ der NS-Diktatur, hat aber doch gerade im europäischen Bereich auch ganz neue Sichtweisen, Deutungsmuster und Forschungsperspektiven entwickelt. Eine erste Annäherung an die Perspektiven „Europäischer Zeitgeschichte“ kann in den Meistererzählungen6 liegen, die seither und bis heute Wirkung entfaltet haben.

1. Zentrale Narrative in der europäischen Zeitgeschichte
 

1.1. Einige dieser Meistererzählungen markieren einen klaren Fortschritt, begründen also ein progressives Narrativ:

• Die Aufbaugeschichte aus den Zerstörungen und dem Massentod des Weltkrieges heraus: „Auferstanden aus Ruinen“.7

• Die vom „Westen“ her gedachte Modernisierung Europas: „Wohlstand für alle!“;8 und - sofern sie vom Westen auf den „Osten“ bezogen wurde -: die „Magnettheorie“9 eines Leistungswettbewerbs der Bevölkerungen und Systeme.

• Aus gleicher Perspektive, aber stärker auf die Staatenpolitik gerichtet: Die Geschichte der westeuropäischen Integration vom Sechsereuropa der Montanunion zur Europäischen Union des Jahres 2003 mit bald 25 Mitgliedsstaaten wird als Erfolgsgeschichte in einer „Adventserzählung“ von einem Licht zum strahlenden Weihnachtsbaum präsentiert: „Erst sechs, dann neun, dann zwölf - demnächst 25!“

• Die Ostintegration: der sozialistische Block als welthistorisch überlegenes Modell des Fortschritts, gefährdet durch kapitalistischen Imperialismus, „der Sozialismus siegt!“ (Er verlor dann doch in fast jeder Hinsicht.)

 

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1.2. Dem steht ein tragisches Narrativ gegenüber: Das Katastrophenzeitalter, über das Eric Hobsbawm im kurzen 20. Jahrhundert für die Zeit bis 1945 sprach, sei von einem „goldenen Zeitalter“ bis Mitte der 1970er-Jahre abgelöst worden, dem seither neue Instabilität im „Erdrutsch“ neuer Krisen in Richtung auf Globalisierung gefolgt sei.10

1.3. Eine regressive Erzählung wäre zu nennen: die Verdrängung Europas als zentraler Akteur der Weltgeschichte; Dekolonisierung und Globalisierung; „Europa schrumpft“.

1.4. Als dialektische Narrative kann man zwei weitere bezeichnen:

• Die Beziehungsgeschichte eines unterschiedlich strukturierten Paares, des Ostens und des Westens: Es grenzte sich voneinander ab, versuchte hin und wieder die Annäherung, trug heftige Auseinandersetzungen aus, zog sich trotz Ablehnung auch an und kam nicht voneinander los. Dieses Europa der dialektischen Wechselwirkungen ohne Synthese oder Versöhnung tritt erst langsam deutlicher hervor: „Sie küssten und sie schlugen sich“.11

• Europa im Ost-West-Konflikt: der Kalte Krieg als vermiedener heißer Krieg der Blöcke, der aber nach innen gravierende Folgen hatte, indem er die Ängste und Drohungen in die Gesellschaften wendete und andere Formen der Verdrängung oder des Austrags fand - „der Krieg gegen die menschliche Einbildungskraft“ (Michael Geyer).

1.5. Von einem peripheren Blick geht man bei folgendem Muster aus: die Sicht der „Kleinen“ - sie beobachteten das Treiben der „Großen“, waren davon zwar abhängig, wollten aber dennoch nie so werden wie die „Großen“. Und als sie dann ihrer mehr oder weniger „kindlichen“ Unmündigkeit entwachsen waren, wurden sie auch immer noch keine ganz Großen, wollten es auch gar nicht; aber es gab weiterhin den Wunsch oder die Überzeugung, es eigentlich besser machen zu können als diese.12

1.6. Schließlich mag es sinnvoll sein, von einem katastrophischen Narrativ zu sprechen: Der Niedergang, ja die drohende Vernichtung, die von atomaren Gefahren ausging (militärischen oder zivilen), und die ökologische Endlichkeit wurden entdeckt; dies mündete in Diagnosen über die ungesteuerte Globalisierung: „Die Grenzen des Wachstums“13 - aber das transzendiert Europa schon vom Ansatz her.

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Diesen Schneisen könnten weitere unschwer hinzugefügt werden. Gerade beim Blick auf einzelne Staaten hat es den Anschein, als ob nationale Narrative der Zeitgeschichte neben den hier vorgestellten existieren, wie ein demnächst erscheinender Sammelband vorwiegend mit Länderbeiträgen von Alexander Nützenadel und Wolfgang Schieder nahelegt.14 Gewiss bilden alle diese Meistererzählungen eine subjektive Auswahl aus gängigen öffentlichen Diskursen. Sie überschneiden sich, bauen aufeinander auf, liegen zum Teil auf ganz anderen Ebenen. Ferner kann man skeptisch sein, ob diese kollektiven Narrative nicht längst überholt sind und treffender in einer Summe postmoderner Einzelerzählungen aufzulösen wären.15 Wenn man unter einer Meisterzählung „die in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen“ versteht, ist nach ihrem Verhältnis zur Geschichtswissenschaft zu fragen. Verständigungsangebote dieser Art sind vor jeder Geschichtswissenschaft vorhanden, erwachsen aus persönlichen Erfahrungen und Familientraditionen, werden in einer Mediengesellschaft aber auch immer wieder neu und anders gebündelt. Die Intentionen zu Traditionsbildung und Geschichtspolitik sind gerade im politischen und kulturellen Raum sehr stark. Und hier kann die Geschichtswissenschaft immer nur als Teil einer pluralistischen Gesellschaft ihre Erkenntnisse einzubringen suchen, sei es in „kulturellen Gedächtnistraditionen, medialen Vergegenwärtigungen und politischen Inszenierungen“.

Affirmativ-propagandistisch oder kritisch-destruierend sind dabei die wichtigsten Grundhaltungen. „Zeitgeschichte als Streitgeschichte“ könnte für dieses Unterfangen fruchtbar gemacht werden,16 sollte aber wohl nicht zum entscheidenden Kriterium hierfür mutieren. Denn natürlich kann Wissenschaft auch versuchen, den öffentlichen Umgang völlig zu ignorieren, und kann ganz andere Themen, Fragen und daraus erwachsende Methoden entwickeln. Aber sobald sie sich an die Öffentlichkeit wendet, je allgemeiner und - im hier interessierenden Sinne - „europäischer“ sie wird und ihre Ergebnisse präsentiert, bedient sie sich zur Zusammenfassung, Verknüpfung oder Bündelung linearer Erzählstränge, die sich zumeist am Kontext von Meistererzählungen orientieren.

Sucht man einen archimedischen Punkt außerhalb dieser öffentlichen Narrative, dann sollte historische Analyse zunächst einmal unabhängig von ihnen Kategorien entwerfen und damit auch Möglichkeiten zu innovativem Erkenntnisgewinn schaffen. Es müssen ja nicht immer gleich Paradigmenwechsel sein. Man kann dies wie der Österreicher Michael Gehler mit der Fortschreibung von Max Webers Kategorien Wirtschaft, Herrschaft und Kultur tun und neue Bereiche hinzufügen.17

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Am Kölner Zentrum für vergleichende Europäische Studien wurden als Sektoren „Europa als Identitätsfiktion“, „Europa als Arena von Integrationsprozessen“ und „Europa als Feld der Internationalisierung“ benannt.18 Ergiebig könnten darüber hinaus die Fragen nach dem „gedachten“ oder dem „gelebten Europa“ sein,19 dem das „vereinbarte Europa“ als dritte Bezugsgröße sinnvoll hinzuzufügen wäre. Das „gedachte Europa“ bezieht sich primär auf die Europaideen und -vorstellungen, auf die Wünsche und Ziele einzelner und ganzer Organisationen, auf die Konstruktionen von Europa. Das „gelebte Europa“ richtet sich eher auf Methoden und Gegenstände der Kultur- und Sozialgeschichte und sucht dort die Gemeinsamkeiten, Prägungen und Besonderheiten auszumachen. Das „vereinbarte Europa“ betrachtet demgegenüber den Rahmen der kodifizierten und verrechtlichten Stränge, vom europäischen Gemeinschaftsrecht bis zu dessen mehr oder weniger starker Akzeptanz und geglückter Umsetzung.

Aus dem Zusammenwirken methodischer Grundüberlegungen und allgemeiner Erzählungen ließen sich Muster entfalten, dabei dann die Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und Differenzen beider Ebenen erörtern, die Grade möglicher oder erwarteter Fruchtbarkeit von Grundkategorien und deren Entfaltung ermitteln. Das kann hier nicht geschehen, wohl aber sollen einige Themenfelder und Ansätze benannt und in der angedeuteten Matrix verortet werden.

2. Arbeitsfelder einer wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung Europas
 

2.1. Die Außenwahrnehmung. Die Frage, wo Europa anfängt oder endet, erfordert einen Blick auf die außereuropäische Geschichte. Die Wahrnehmung Europas aus der Sicht anderer Länder, Regionen oder Kontinente ist ebenso intensiv zu berücksichtigen wie umgekehrt die Einwirkung und Rezeption außereuropäischer Erfahrungen auf Europa selbst. Postkoloniale Studien konnten erst in den letzten beiden Generationen entstehen - und aus ihnen wird vielfach ersichtlich, wie sehr die „Peripherie“ auch die „Zentrale“ Europas prägte.20 Die Praxis eines kolonialen Rassismus, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg auf Europa anwandte, bildete eine ganz extreme Ausprägung - aber die Aussage, dass der „Lebensraum im Osten“ zu Europa gehöre, ist bereits vom gewählten Europabegriff abhängig.

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2.2. Kriterien der Konstruktion. „Europa“ bildet eine Bezugsgröße, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich wahrgenommen und konstruiert wurde. Das betrifft die räumliche Ausdehnung (z.B.: „Russland gehört zu Europa“ - oder nicht; „die Türkei bildet keinen Bestandteil des Kontinents“21), aber auch die Definition inhaltlicher Merkmale, zumeist kultureller Art - am langlebigsten die Frage nach dem christlichen Charakter des Kontinents. Sehr leicht verknüpft sich gerade mit letzterem das Problem analytischer oder normativer Betrachtungsweise. Zwar wird die analytische Erklärungskraft normativer Begriffe oft von Protagonisten bestimmter Merkmalsdefinitionen dennoch positiv hervorgehoben, aber die Frage nach Inklusion oder Exklusion führt häufig zu ganz anderen Europabegriffen. Gerade das ist ein überaus lohnendes Forschungsfeld: Was wurde wann an welchen Orten für europäisch gehalten? Was für die Türken vor Wien galt, trifft auch für die Sowjetunion im Ost-West-Konflikt zu. Jedenfalls kann die zeitgenössische Ausgrenzung des Anderen oder Bedrohlichen zu einer begrifflichen Klärung kaum beitragen.

2.3. Binnendifferenzierung. Was für die außereuropäische Sicht auf Europa und Prägung Europas von außen gilt, trifft auch für Europa als regional differenziertes Gebilde zu. Der „Balkan“,22 „Skandinavien“, aber auch die vier Orientierungen Ost, West, Nord und Süd bilden Konstruktionen relativer Einheit in Europa und unterhalb der Schwelle Gesamteuropas. Diese entwickelten jeweils recht spezifische Blicke auf das Ganze und vertraten Sichtweisen, die untereinander stark abwichen.23 Es geht darum, den Grad der je wahrgenommenen oder gelebten „Europäizität“ zu beschreiben und dabei den gedachten Grad der Inklusion oder Exklusion in Europa zu bestimmen. Gerade ein solches analytisches Vorgehen könnte im Falle der türkischen Sicht auf Europa und Erwartungen an Europa nützlich sein, zumal das Land vor einem halben Jahrhundert auch von innen häufig fraglos zu Europa gerechnet wurde und ja seit 1964 den Europäischen Gemeinschaften assoziiert ist. Ob man die Summe dieser und anderer Fragen dann als neue Disziplin der „Europäistik“ benennen sollte, wie sie Wolfgang Schmale seit 1996 betreibt und weiter entwickelt hat,24 sei dahingestellt.

2.4. Grenzen in Europa. Diese Überlegungen hinsichtlich der „mental maps“25 führen zum Problem von Grenzen in der europäischen Zeitgeschichte. Hier hat sich in den letzten Jahren ein fruchtbares Forschungsfeld aufgetan,26 das sich von allen angeblich „natürlichen Grenzen“ weit wegbewegt hat. Waren die geografischen Dimensionen von Bergen, Flüssen, Küsten schon immer fragwürdig, so ist gezeigt worden, dass auch andere Kategorien von Grenzziehung sich wandelten und damit Konstruktionen aus historisch geprägten kulturellen oder gesellschaftlichen Perspektiven darstellten. Das Prinzip, wonach Staatsgrenzen möglichst homogene Nationalstaaten zu umfassen hätten, wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und entfaltete große politische Bedeutung in der Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg. Gerade deren - vermeintliches - Scheitern an eben diesem einen Konstruktionsprinzip trug ja viel zur Destabilisierung der europäischen und globalen Ordnung bei. Und die nationalsozialistische Neugestaltung setzte wohl am konsequentesten und mit tödlichen Methoden auf die ethnisch homogene Ziehung von Grenzen der Nationen - auch wenn die rassisch begründete Dominanz des Großdeutschen Reiches noch ganz andere Reichsbildungsziele verfolgte. Die Friedensregelung nach 1945 brachte neue Grenzen mit sich, die wiederum zum Teil die NS-Expansion und deren Maßnahmen rückgängig zu machen suchte, aber auch weit darüber hinaus Grenzen von Staaten neu absteckte.

 

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2.5. Osteuropa als Konstrukt. Die Grenzen, die seit 1945 neu gezogen wurden, betrafen - bis auf kleinere Ausnahmen - allein „Osteuropa“. Hinter dieser Beobachtung steckt kein herkömmlicher Begriff des Ostens, sondern eine gerade von diesem Merkmal zentral abhängige Kategorie. Genauer gesagt, handelt es sich um den Bereich dominierenden sowjetischen Einflusses - nur wurden seit der Befreiung von deutscher Herrschaft 1944/45 Grenzen neu gezogen. Das geschah nach sowjetischen Ansprüchen im Rahmen der vormaligen Abmachungen mit Hitler, aber in anderen Fällen, bevor sich in den späten 1940er-Jahren ein „Ostblock“ voll etablierte. Und erst nach dessen Ende entfalteten sich in diesem Teil Europas bei einigen Staaten wieder Konflikte - so in Jugoslawien27 und der Sowjetunion (wo es zu Abspaltungen führte) sowie in der Tschechoslowakei (wo es eine Teilung bewirkte).

Vermutlich hingen die politischen Prozesse der Ostintegration direkt mit der Verfestigung der Binnengrenzen zusammen, während es im „Westen“ zwar auch massive regionale Konflikte gab (Baskenland, Nordirland), die jedoch bei vergleichsweise offenen Gesellschaften den Bestand der Staaten nicht gefährdeten. Zu beachten wäre dabei aber, dass es Mauern in Europa nicht nur zwischen Ost und West in Berlin gab, sondern - bis heute - im nordirischen Belfast und im zypriotischen Nikosia (und in Israel28).

„Osteuropa ist tot. Mit dem Ende des Kommunismus verschwand, was sich in der Imagination der politischen Klasse im Westen Europas als Zusammenhang darstellte“, beschrieb Jörg Baberowski zugespitzt diesen „Anachronismus des Kalten Krieges“.29 Das meinte die Raumkonstruktion aus dem Geist des Antagonismus und von außen her, vom sicheren Westen, lässt aber gerade die Frage nach Europas Grenzen nach Osten hin weiter stellen. Andreas Kappeler wandte daraufhin ein, dass viele Völker in Osteuropa die Idee einer „antemuralen Christianitas“, einer Verteidigung gegenüber dem Osten verinnerlicht hätten, hob jedoch zugleich positiv die Möglichkeiten eurasischer Ideologien im Russland des 20. Jahrhunderts und den Austausch mit dem Islam als Differenz des Ostens hervor. Dieter Segert wollte zwar kürzlich „Die Grenzen Osteuropas“ bestimmen,30 beschränkte sich aber eindeutig auf die Gebiete westlich Russlands bzw. der Sowjetunion - sonst oft Ostmitteleuropa oder (neuerdings von Politologen) Mittelosteuropa (MOE) genannt -, wenn er für bestimmte Stichjahre deren Modernisierungsdefizit gegenüber dem Westen diskutierte.

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Mein Plädoyer richtet sich demgegenüber auf einen zunächst rein geografischen Begriff von Europa - und so auch von dessen Osten -, der Russland bzw. die Sowjetunion einschließt. Das geschieht nicht nur aus Gründen der direkten Einwirkung auf und indirekten Herrschaft über große Teile Europas. Die Sowjetunion bzw. Russland orientierte sich ihrerseits nicht nur militärisch und machtpolitisch, sondern auch kulturell an den Vorgängen im übrigen Europa. Sie war allerdings zugleich ein Teil Asiens - wenn es denn überhaupt einen Begriff von Asien geben sollte. Diese Definition von Europa macht es möglich, die wechselseitige Beeinflussung beider Teile Europas stärker in den Blick zu nehmen und die „nachholende Modernisierung“ nicht teleologisch oder normativ, sondern sektoral unterschiedlich und als Prozess des wechselseitigen Gebens und Nehmens zu deuten.31

2.6. Blockkonstruktion und Grenze im „Kalten Krieg“. Für die europäische Zeitgeschichte scheint über das in den vorangegangenen Abschnitten Gesagte hinaus die Frage lohnend, wie nicht nur die Grenzen zwischen Staaten in Europa konstruiert wurden, sondern wie die Trennlinie quer durch Europa konstruiert wurde und heute zu deuten ist. Nicht nur im Rahmen und in Ausfüllung der oben genannten Meistererzählungen, sondern auch analytisch sind die Ursachen sowie die Wirkungen und Folgen der Grenze durch Europa hindurch von Bedeutung.

Es lässt sich argumentieren, dass eine solche Teilung in Europa seit Jahrhunderten an unterschiedlichen geografischen Orten und mit unterschiedlichen Elementen der Konstruktion bestanden hat.32 Seit dem voll entwickelten Kalten Krieg verlief diese früher oft weiche Grenze oder Übergangszone als befestigte Grenze bis 1989/91 so weit im Westen wie noch nie in der Neuzeit, nämlich mitten durch Deutschland. Und das sektorale Gefälle etwa auf den Gebieten Kultur, Wirtschaft und Sozialsysteme war in dieser Zeit - wenn auch phasenweise unterschiedlich - zusätzlich aufgeladen zur befestigten Militärgrenze, die das gesamte sozialistische Lager umfasste (wenn auch mit unterschiedlicher Durchdringungsmöglichkeit). An ihr trafen nicht nur zwei weltpolitisch relevante Militärbündnisse aufeinander, sondern sie bildete - auch einmalig - eine durch nukleare Abschreckung gesicherte Grenze aus. Dieser „Krieg in den Köpfen“ und seine Phasen und Konsequenzen scheinen mir in seinen Dimensionen noch nicht erfasst zu sein.

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Gegenläufig ist jedoch zu fragen, welche Blocküberschreitungen es vor, nach und während der Verfestigung dieser europäischen Trennung gab. „Wissenstransfer und Migration im 19. und 20. Jahrhundert“ behandelte eine Summer School des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) kürzlich ausdrücklich auch für die Zeit nach 1945.33 Die Errichtung der Mauer in Berlin und die Verstärkung der innerdeutschen Grenzbefestigung stellten auch eine Reaktion auf die millionenfache Migration aus der DDR in die Bundesrepublik dar - und damit auf den nicht nur technologischen und kulturellen „Brain drain“ von Ost nach West. Es blieb im nationalen Rahmen aber die mediale Kommunikation der Migranten mit ihrem Ursprungsgebiet.34

Eben diese Erscheinungsformen von fortbestehender dichter Kommunikation galten auch für andere Migranten überall in Europa mit ihren Ursprungsregionen - und so vor allem von Osten nach Westen. Das betraf nach dem Krieg Flüchtlinge und Vertriebene, Displaced Persons in Nachfolge der NS-Herrschaft, führte dann aber mit zunehmender kommunistischer Diktaturdurchsetzung und späteren Herrschaftskrisen in einzelnen Ländern zu einer weiteren Migration nach Westen, die ältere Traditionen fortsetzte, aber doch auch ganz neue Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Kommunikation bot und damit zurückwirkte. Die militärisch abgesicherten Grenzen zwischen den europäischen Blöcken waren ebenfalls sektoral überwindbar. Es wäre lohnend, die These zu überprüfen, ob die Verdichtung materieller Grenzbefestigungen und regionaler Ausreisehemmnisse nicht in Wechselwirkung mit dieser wachsenden elektronischen Kommunikation über die Grenzen hin stand.

2.7. Der Beginn zur Forschung über den integrierten Osten. Europäische Zeitgeschichte könnte also aus östlicher Sicht einen starken Schwerpunkt in der Beziehungsgeschichte zum Westen mit gestörter und behinderter Kommunikation haben, die aber dennoch möglich war und wichtig blieb. Zugleich sollte sie die Integrationsmechanismen und -formen innerhalb der Blöcke deutlich zum Thema machen. Auch dies könnte neben den manifesten Unterschieden einige Gemeinsamkeiten stärker als bisher zutage fördern. Gerade im Bereich politischer Herrschaft bleiben nicht nur die Gründe für den Verfall und das friedliche Ende des „Ostblocks“ zu klären, sondern auch die jahrzehntelange Dauer und relative Stabilität. Das hat Jürgen Kocka unlängst für die DDR-Geschichte angemahnt.35 Die gleiche Aussage gilt aber noch in ganz anderer Weise für die wenig untersuchten Mittel und Grenzen sowjetischer Herrschaft in Teilen Europas.

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Der politische Begriff „Diktatur“ oder auch „Herrschaft“ bleibt mit Anschauung und konkreten Informationen nicht nur für jedes Land, sondern vor allem für den Ostblock insgesamt zu füllen (oder zu ersetzen). So weit ich sehen kann, gibt es weder über den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe36 noch für den Warschauer Pakt37 bereits breite quellengestützte Erkenntnisse. Die formelle Kooperation auf Regierungsebene zwischen den Staaten, die Rolle sowjetischer Botschafter und vor allem von Geheimdiensten und informellen Wirtschafts- und Militärkontakten bezeichnen ein weites Feld für Forschungen. Dabei könnte sich zeigen, dass die Blockdisziplin und -integration deutliche Grenzen aufwies: Einzelne Staaten waren vielleicht gerade aufgrund ihrer Schwäche in der Lage, politischen Druck auf die Nachbarstaaten und zumal auf die Sowjetunion zur ökonomischen oder anderweitigen Hilfe auszuüben. Für die DDR ist das von Autoren wie Michael Lemke, Hope Harrison und Douglas Selvage belegt worden;38 das kann aber nur einen Anfang bilden.

2.8. Westeuropäische Integrationsforschung - der dominierende Trend. Wie weit zurück die Ostblockforschung ist, zeigt sich zumal, wenn der Forschungsstand zur westeuropäischen und transatlantischen Integration dagegengehalten wird. Hier boomt die Forschung seit langem und macht die politische Parole der Ost-„Erweiterung“ der Gegenwart auch für die Zeitgeschichte des Westens zur analytisch fruchtbaren Maxime: „Widening, Deepening and Acceleration“.39 Eine Historiker-Verbindungsgruppe bei den Europäischen Gemeinschaften hat seit 1982 häufig und - dem Zugang zu Archivquellen folgend - regelmäßig getagt. Mittlerweile ist der Geschichtszeitraum von 1940 bis 1969 in Sammelbänden dokumentiert. In diesem Projekt geht es primär politikgeschichtlich oder wirtschaftspolitisch um die Blickwinkel einzelner Länder oder Politiker auf den Integrationsprozess, nicht zuletzt um die Verhandlungen über die entsprechenden Verträge und Abkommen selbst. Zunehmend wird auch der Blick von außen auf diese Vorgänge erfasst.

Der frühere theoretische Streit über funktionale oder föderale Herangehensweisen ist dabei weitgehend überwunden,40 und Vorstellungen eines „liberal intergovernmentalism“ (Moravcsik)41 konkurrieren mit denen eines neuen supranationalen Gebildes in Europa.42 Seit den 1990er-Jahren haben vor allem Politikwissenschaftler den Begriff eines „Regierens im europäischen Mehrebenensystem“ entwickelt und angewandt.43 Damit ist die Interaktion unterschiedlicher Ebenen gemeint, die von den Regionen über die Staaten bis zur Europäischen Union reichen. Alle stehen in einem Wechselverhältnis, das sich nur bedingt als hierarchisch oder von einer Ebene determiniert beschreiben lässt. Zum Charakter dieser von Westeuropa ausgehenden Integration ist von völkerrechtlicher Seite etwa durch Stephan Hobe der Prozess einer „Konstitutionalisierung“ beschrieben worden,44 der auch für die Zeitgeschichte insgesamt fruchtbar gemacht werden könnte, wenn er denn nicht teleologisch begriffen wird. Gerade weil sich diese Integration im Westen bisherigen Begriffen von Staatlichkeit entzieht, wird die europäische Union gern als „Gebilde sui generis“ angesehen. Historisch ausgedrückt ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der singulär ist und kaum historische Vergleichsgrößen anbietet.

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Außer der wirtschaftlich-politischen Integration, welche bis in die Gegenwart hinein die meisten Politikbereiche erfasst hat, erlangte in der Zeitgeschichte Westeuropas die militärische Komponente eine zentrale Bedeutung. Hier gilt Umgekehrtes im Vergleich zum bisher Gesagten: Die USA und Kanada stellten konstitutive Bestandteile dieser Integration dar, während eine eigene westeuropäische Militärintegration vom Brüsseler Pakt 1948 über die gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1952/54, die Westeuropäische Union und die diversen Initiativen de Gaulles immer recht vage blieb und erst in jüngerer Zeit auf die europäische Agenda gesetzt wurde.

Wirtschaftliche, militärische und zunehmend auch tief in die Gesellschaften eingreifende Maßnahmen des „vereinbarten Europas“ haben zu einer wichtigen Kontroverse geführt, die längst noch nicht ausdiskutiert ist: Waren es die eher idealistischen Einsichten zur „Wiedergeburt Europas aus dem Geist des Widerstandes“ (W. Lipgens) oder die nüchternen Effizienzkriterien von erneuerter Staatlichkeit (A. Milward), welche die Integration wesentlich vorantrieben und die Nationalstaaten dabei gleichsam „retteten“?45

2.9. Komparative Geschichte. Eine vergleichende europäische Geschichte gehört zu den wichtigsten Desideraten auch der Zeitgeschichte. Die bisherigen Ansätze haben meist dem 19. und frühen 20. Jahrhundert gegolten, da sich zumindest bei zeitlichem Längsschnitt in der longue durée leichter Entwicklungen festmachen lassen und auch die Distanz zu den älteren Geschichtszeiten besser möglich ist. Es ist kein Zufall, dass gerade Protagonisten vergleichender Geschichte wie Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka und Hartmut Kaelble auch methodisch über die Chancen von Vergleichen insgesamt am gründlichsten nachgedacht haben.46

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Große Sammelwerke zur europäischen Geschichte haben natürlich auch zuvor eine vergleichende Sicht vertreten. Das gilt etwa für Theodor Schieder mit seinem „Handbuch der europäischen Geschichte“ oder für das von Wolfram Fischer besorgte „Handbuch der europäischen Wirtschaftsgeschichte“. Beide Werke sind mehrbändig und setzen im Mittelalter bzw. mit der spätrömischen Zeit an. Dabei wurden Länderbeiträge jeweils von breit und klar konturierten gesamteuropäischen Großessays eingeleitet. Schieder verfasste in diesem Sinne unter anderem für den siebten Band einen 350-seitigen Überblick von 1918 bis etwa 1950 und schrieb für die heute relevante Zeitgeschichte drei Essays mit politik- und institutionengeschichtlichen Überblicken zur Dekolonisierung, europäischen Einigung und Konfliktgeschichte („Europa im Kalten Krieg“).47 Bei Fischer reichte der sechste Band bis zirka 1980 und gab mit Daten und Tabellen gesättigte sektorale Überblicke zu den einzelnen Sektoren der Wirtschaft.48

Stärker in einen qualitativen Vergleich gingen vor allem Gerhard A. Ritter und Hartmut Kaelble. Wie die genannten Autoren setzten auch sie sehr viel früher an (nämlich im 19. Jahrhundert) und gaben für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eher Ausblicke. In Ritters vergleichenden Untersuchungen zum Sozialstaat kommen die Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Arbeitsbeziehungen und die Krise der Sicherungssysteme bis etwa 1970 auf rund 80 Seiten vor.49 Kaelble hat wohl wie kein anderer seit Jahrzehnten den europäischen Vergleich vorangetrieben. Er setzte zunächst bei den deutsch-französischen Beziehungen im 19. Jahrhundert an, weitete die Fragestellungen dann auf ganz (West-)Europa aus und gelangte zunehmend in die Zeitgeschichte.50 Den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz hat Kaelble danach auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung von innen und außen ideen- oder auch mentalitätsgeschichtlich weitergetrieben und gelangte letztlich zu „Wege(n) zur Demokratie“ von 1789 bis zur Gegenwart der Europäischen Union.51 Ohne den Reichtum an Untersuchungsfeldern und Datenerfassung Kaelbles hier auch nur annähernd würdigen zu können, seien doch zwei Einwände formuliert: Die Tendenz zur teleologischen Betrachtung von Demokratie - politisch durchaus erwünscht, analytisch aber fragwürdig - ist nicht zu verkennen; und Europa wird (mit transatlantischem Austausch) zu sehr als das Westeuropa der Integration fokussiert, während der „Osten“ weitgehend fehlt.

Den wohl am meisten versprechenden Ansatz bildet die vergleichende europäische Geschichte, für die an den Berliner Universitäten ein eigenes Zentrum eingerichtet worden ist. Um Manfred Hildermeier, Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Holm Sundhaussen hat sich hier ein Kreis gebildet, der im 19. Jahrhundert ansetzt und um den Begriff der Zivilgesellschaft kreist. Damit wird ein „Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, ein Bereich der Vereine, Zirkel, Netzwerke und Non-Governmental Organization (NGOs)“ umrissen.52 Er ist nicht ausschließend gemeint, weist dynamische Komponenten auf und eignet sich gut zum europäischen Vergleich - insgesamt, aber gerade auch in Ost und West und zwischen beiden Regionen. „Der logische Status des Begriffs ‚Zivilgesellschaft’ oszilliert zwischen normativen und analytischen Dimensionen. Dies ist in Vergangenheit und Gegenwart unübersehbar und gewollt.“53

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Vergleich und Beziehungsgeschichte sind dabei die bevorzugten methodischen Ansätze, die sich nicht mehr primär auf den politischen Austausch beziehen, sondern den sehr viel weicheren und kulturell überformten Begriff des Transfers in den Vordergrund rücken. Es kann hier nicht darum gehen, die Ergebnisse dieses Projekts vorzustellen; das müsste eher von innen geschehen. Von außen gesehen mögen einige Bemerkungen genügen. Programmatisch wird Europa im Westen und Osten einbezogen. Manche Aufsätze der zahlreichen Sammelbände lösen das auch ein, weniger die übergreifenden oder komparativen Ansätze. Die meisten Beiträge sind nicht auf die europäische Zeitgeschichte bezogen, doch werden gerade zu der Geschichtsperiode seit 1945 zentrale Aufsätze vorgelegt. Große Monografien sind erst angekündigt;54 bisher sind zahlreiche Fallstudien in sektoralen Sammelbänden vorgelegt worden. Die beiden am stärksten durchgearbeiteten Kategorien stellen bislang einerseits die Frage nach Öffnung oder Abschließung nationaler Zugehörigkeit im Rahmen von Staatsbürgerschaft und andererseits Öffentlichkeiten im Sinne von grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen dar. Gerade die Frage nach einer europäischen Identität wird aber mit guten Gründen bestenfalls als Element heuristischen Erkenntnisgewinns gestellt. Nicht mehr allein das Europa der aus Not migrierenden „Menschen in Bewegung“ bietet eine neue Kategorie, sondern der selbstbestimmte Austausch von Bürgern (mit fester oder sehr lockerer Organisation) verspricht als Thema der Zeitgeschichte Erkenntnisgewinn. Gerade hier machen die Arbeiten des ZVGE in der Praxis weiterhin eher an den vormaligen Grenzen zum „Ostblock“ halt.

2.10. Europäische Erinnerungskultur? Besonders intensiv ist in den letzten Jahren die Frage von Erinnerung und Erinnerungskulturen als neuer Gegenstand und methodisches Paradigma in die Forschung eingebracht worden. Die von Pierre Nora in Frankreich ausgegangenen Ansätze zur Erfassung, Kategorisierung und damit auch Kanonisierung von „lieux de mémoire“ haben Nachahmungen und Umformulierungen für andere Staaten gefunden - was in sich schon einen bemerkenswerten Tatbestand von Europäisierung darstellt (die derzeit aber weitgehend auf den Westen beschränkt ist).55 Gewiss beziehen sich diese nationalen Großprojekte jeweils auf die gesamte nationale Geschichte seit mehr oder weniger mythischen Ursprüngen. Aber sie schaffen es doch, für die zeitgeschichtliche Gegenwart eine kulturelle Dimension der Rückbesinnung und Orientierung einzuführen, welche die Veränderungen von Erinnerungsformen über längere Zeiträume bis in die aktuelle Gegenwart hinein zum Thema macht.

Die Erfolgsgeschichte der „Erinnerungsorte“ hat geradezu die Frage nach europäischen Dimensionen der Erinnerungs- und Gedächtniskultur herausgefordert und erste Anregungen gebracht. Ein Symposium des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz fragte für zurückliegende Epochen ausdrücklich: „Europäische lieux de mémoire?“56 Günter Lottes widmete sich hierbei der jüngeren Zeit und speziell den gemeinsamen Erfahrungen, die gemeinsame Erinnerungen erst möglich machen. Aus seiner Sicht zerbröckeln zwar die älteren Erfahrungen, während die neueren nach den (kollektiv erlebten) Katastrophen des 20. Jahrhunderts eher als Frage im Raum stehen. Nicht viel weiter kam ein in Österreich entstandener transnationaler Band von Jacques Le Rider und anderen.57 Die dort versammelten disparaten (und in sich gelungenen) Einzelstudien vermögen insgesamt zu zeigen, dass nationale Erinnerungskulturen die Grenzen von Nationalstaaten überschritten und sich an Orten anlagerten, die nicht zum eigenen Staat gehörten oder auch Orte kultureller Begegnung über eine Nation hinweg darstellten. Das überrascht nicht sonderlich.

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Was die „Europäizität“ von Erinnerungsorten angeht, so mag man ja mit guten Gründen anführen, dass von Potsdam bis Auschwitz, von Karl dem Großen bis Adolf Hitler überall - wenn auch unterschiedliche - Erinnerung daran zu verzeichnen ist, dass die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts als Zeitalter außerordentlicher Gewalt in jeder Gesellschaft und Kultur und von jedem Staat gemacht wurden. Es ist aber sehr die Frage, ob hierdurch auch eine gemeinsame, eben europäische Erinnerung entstanden und zu (re)konstruieren ist. Um es zuzuspitzen: Nach meinem Eindruck fehlen die Voraussetzungen für eine Erinnerungskultur in Europa, die in gemeinsamer Form an Vorgänge oder Erfahrungen erinnerte, wenn sich diese nicht in der Beliebigkeit offizieller Zeremonien oder Deklarationen verflüchtigt. Der Erste Weltkrieg spielt in einigen Ländern immer noch (oder wieder) als nationales Bezugsereignis eine Rolle; an das Ende des Zweiten Weltkrieges wird in nationalen Gedenkveranstaltungen erinnert. Als die Alliierten etwa 1994 an den 50. Jahrestag der Landung in der Normandie erinnerten, traf sich eine Gemeinschaft der Sieger ohne die Deutschen, was die damalige Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl in nachfolgenden eigenen Geschichtsinszenierungen bestärkte, die im nationalen oder gar internationalen Rahmen nicht unbedingt als identitätsstiftend angesehen wurden.

Ein wenig anders verhält es sich mit den Jahrestagen der Erinnerungen an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 oder auch der Beendigung des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945. Hier hat es sich in vielen Staaten eingebürgert, Gedenken mit internationaler Beteiligung oder ausländischen Festrednern abzuhalten. Aber die Urheber und Adressaten sind dennoch vor allem national bestimmt. Gedenkkulturen in Europa bleiben bis heute weitgehend national, und in dieser zentralen Kategorie kann sich Europäisierung wohl nur über Generationen ausbilden.58 Das zeigte sich besonders an der Initiative zur Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, die seit 2000 von den deutschen Vertriebenenverbänden organisiert worden ist, 2003 aber einen eskalierenden transnationalen Streit der Erinnerungen ausgelöst hat. Gerade die nationale deutsche Initiative - und dann noch aus dieser Richtung - konnte den europäischen Anspruch trotz eines Kreises von Initiatoren, die darüber hinaus reichten und politisch pluralistisch zusammengesetzt waren, nicht einlösen. Im Gegenteil droht gerade dieses Ziel einer gemeineuropäischen Basis von Darstellung und wohl auch Erinnerung in neue Polarisierung umzuschlagen. Das hängt mit Bedenken über die Gestaltungs- und Deutungshoheit eines Gedenkens an Vertreibungen zusammen;59 denn die zentrale soziale und kulturelle Scheidelinie von Tätern und Opfern und besonders von deren öffentlicher nationaler Zuordnung und Wahrnehmung, die beide im Zeitalter der Gewalt im 20. Jahrhundert so wichtig waren, lässt sich - das ist der bisherige empirische Befund - selbst in der jüngsten Gegenwart nicht dialektisch in eine wie auch immer geartete Versöhnung aufheben. So bleibt als bessere Lösung der Gegenentwurf für ein solches europäisches Gedenken an Vertreibungen auf dem Territorium von eindeutig als Opfern zu benennenden Staaten. Dahinter stünde ein anderer moralischer Impuls - aber nicht unbedingt die Realität gemeinsamer Erinnerung. Dass Täter auch Opfer werden konnten (und umgekehrt), ist eine Banalität, zu deren Erkenntnis gerade die Zeitgeschichte sehr viel beigetragen hat. Erinnerungskulturen bedürfen jedoch anscheinend klarerer und moralisch zuordnender Trennungslinien.

Damit sind wir erneut bei den eingangs genannten Meistererzählungen angelangt, die zu den Fragen und Methoden der Geschichtswissenschaft in einem gelegentlich fruchtbaren Spannungsverhältnis stehen. Europäische Zeitgeschichte als wissenschaftliche Forschung kann stärker differenzieren und vor allem sektoral Gewalt- und Leidphänomene ohne eine unmittelbare moralische Bewertung thematisieren. Ein öffentlicher Umgang mit Geschichte mit starkem Identifikationsbedürfnis für die je eigene Sicht der Dinge vermag das sehr viel schwerer zu leisten.

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3. Bilanz und Ausblick
 

Die Zeitgeschichten des geteilten Deutschlands und des geteilten Europas mögen viele gemeinsame Merkmale haben, doch sind die Forschungslagen sehr unterschiedlich. „Die DDR-Geschichte wird in absehbarer Zeit zu den am besten erforschten Feldern der Zeitgeschichte gehören“, formulierte Christoph Kleßmann 1998 optimistisch.60 Relativ trifft das gerade im Vergleich zur osteuropäischen Geschichte fraglos zu. Auf diesem Gebiet sind noch die inhaltlich wie methodisch gravierendsten Leerstellen europäischer Zeitgeschichte zu sehen.

Europäische Zeitgeschichte steckt als Aufgabe, erst recht noch als erbrachte Leistung in den Anfängen. Sie ist stärker im Leben verwurzelt, hat mehr mit öffentlichem Umgang und politischer Instrumentalisierung zu tun, ist aber auch den kulturellen Prägungen durch vorangegangene Zeiten stärker unterworfen als andere Perioden der Geschichte. Das bildet zugleich Reiz und Herausforderung wie methodische Erschwernis und Last. Nationale Perspektiven machen den „Blick über den Tellerrand“ nach wie vor nicht leicht - erst recht nicht die Sicht auf den gesamten Vorrat an „Tellern“.

Das gilt zumal für die „Eurovisionen“ (Ute Frevert)61 oder für Ansätze zu europäischer politischer Bildung.62 Eine von Werten - wie etwa vom Streben nach Demokratie und Wohlstand - geleitete Sicht mag politisch sinnvoll und wichtig sein. Diese Sicht kann wiederum selbst historisch untersucht werden, hat jedoch in sich geringen historischen Erklärungswert. Wenn sich Historie mit der Ambivalenz zugleich analytischer und teleologischer Begriffe von Europa begnügt, läuft sie Gefahr, dass diese wenn schon nicht in der Anlage, so doch in der Rezeption - siehe Meistererzählungen - vermengt werden.

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Das gilt auch für den geografischen Europabegriff. Aus den eben genannten Gründen kann er nicht in reiner Erweiterung eines Kerneuropas auf immer neue Regionen abzielen. Die „Rückkehr nach Europa“ war eine berechtigte und wertgebundene Forderung gerade von Intellektuellen in Ost(mittel)europa seit den 1980er-Jahren; analytisch vermag sie aber die wechselseitigen Einflüsse zur Zeit des akuten Ost-West-Konflikts von 1945/49 bis 1989/91 ebenso wenig zu fassen wie die Entwicklungen seither, die dann nur als Anpassung an bereits vorgefundene Standards der Europäischen Union gesehen werden. Europäische Zeitgeschichte umfasst immer mehr als die Geschichte von Vorgängen in den sich erweiternden Gemeinschaften.

Besonders fruchtbar scheinen mir Ansätze zu sein, die mehrere Ebenen in Europa berücksichtigen. Das bezieht sich nicht nur auf das „Regieren“ der Europäischen Union, sondern auch auf die unterschiedlichen Ebenen der Identifikation, wonach sich Identitäten - so schwer sie im Einzelnen zu erfassen sind - auf mehreren Ebenen (oder in konzentrischen Kreisen) ausmachen lassen, die von Nahbereichen aufsteigend zumindest von der Region an auch Staat/Nation und dann Europa umfassen sollten. Gerade ein Vergleich, der die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen herausarbeitet, könnte sinnvoll sein.

Recht herkömmlich ist schon immer der Blick auf Europa untersucht worden,63 d.h. die Konstruktionen aus unterschiedlichem sozialem, politischem, zeitlichem oder vor allem regionalem Blickwinkel. „Europäische Identifikation als historisch geprägt, aber auch als gestaltbar begreifen zu können“ bildet - wie Ute Frevert anregt - einen bedenkenswerten und weiterführenden Ansatz.64 Bei konsequenter Fundierung in Kultur- und Mentalitätsgeschichte reicht das über die Ideengeschichte deutlich hinaus.

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Neu und zukunftsträchtig erscheinen zudem die Versuche, vergleichend an die europäische Zeitgeschichte heranzugehen, auch wenn der Zeitraum seit 1945 oft zu kurz und mit noch zu geringer Distanz behaftet ist. Die Vergleichsgegenstände und -ebenen sind überall zu finden und potenziell unendlich. Darüber hinaus erscheint es sehr lohnend, die Beziehungen innerhalb Europas gerade auf einer weit verstandenen kulturellen Ebene zu thematisieren. Transfergeschichten65 könnten die Formen dieser wechselseitigen Einflüsse besser fassen als herkömmliche Herangehensweisen.

Europäische Zeitgeschichte sollte ferner eingebunden sein in die Außenwahrnehmungen wie in die Außenbeziehungen. Dazu gehören die globalen Prägungen und Einflüsse, die für Europa (und darüber hinaus) in der jüngeren Zeit zu einer außerordentlichen Verdichtung der Kommunikation auf allen Ebenen geführt haben, verbunden mit einer Beschleunigung und zeitlichen Verkürzung bis hin zur elektronischen Verbindung in Echtzeit - und dies zu erschwinglichen Kosten.

Linear angelegte Meistererzählungen sollten nicht unbedingt das Ziel wissenschaftlich fundierter Gesamtdarstellungen sein. Analytisch ergiebig und dem Gegenstand angemessen wären Forschungsperspektiven, die gegenläufige Bewegungen, dialektische Widersprüche und vielfache Interaktionen erfassen, die ein Europa des Nebeneinanders und des Pluralismus, von freiwilligen oder erzwungenen Einheitsbestrebungen und ihren Gegenkräften in den Blick bringen.66

Anmerkungen:

1 Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993 (die Umkehrung im Titel und inhaltlich: Franz Fischer, „Im deutschen Interesse“. Die Ostpolitik der SPD von 1969-1989, Husum 2001).- Für anregende Kritik danke ich Simone Derix.

2 Europa. Erbe und Auftrag. Eine Festschrift für Bruno Kuske zum 29. Juni 1951, Köln 1951.

3 Martin Göhring (Hg.), Europa - Erbe und Auftrag. Internationaler Gelehrtenkongreß Mainz 1955, Wiesbaden 1956.- Monografische Besinnungen zu und auf Europa aus dieser Zeit: Alfred Mirgeler, Geschichte Europas, Freiburg i.Br. 1953; Geoffrey Barraclough, European Unity in Thought and Action, London 1963. Eher im vorwissenschaftlichen Raum angesiedelt ist die „Auftrags“-Vorstellung, mit christlichen Untertönen bis an die Gegenwart herangeführt: Günter Rinsche/Ingo Friedrich (Hg.), Europa als Auftrag. Die Politik der Christdemokraten im Europäischen Parlament 1957-1997, Köln 1997.

4 Justus Hashagen, Das Studium der Zeitgeschichte, Bonn 1915.

5 Zeitgeschichte wird hier in Fortschreibung der Rothfels-Definition von 1953 (Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 [1953], S. 1-8) in doppeltem Sinne verstanden: als Epoche der Mitlebenden und als historische Zäsur. Ersteres bringt spezifische methodische Vor- und Nachteile mit sich. In der Quellenerschließung gibt es positiv die Chance der Zeitzeugenbefragung, negativ die Schwierigkeit der Sperrfristen von Akten in Archiven. Der Epocheneinschnitt kann 50 Jahre nach Rothfels’ Ausführungen nicht mehr 1917 sein, sondern sollte eher 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges samt seines besonderen Charakters als Vernichtungskrieg bzw. 1989/90 mit dem Ende kommunistischer Herrschaft gelegt werden. Beides sind relative Konstruktionen, die allerdings zentrale Sektoren menschlichen Lebens bestimmten. Mit 1945 in der Zeitgeschichte einzusetzen dürfte derzeit pragmatisch sinnvoll sein, auch wenn sich um 1989/90 eine Zäsur abzeichnet, die den Beginn der „neuesten Zeitgeschichte“ markiert: Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 5-28.

6 Der englische Begriff des „master narrative“ scheint sich auch im Deutschen durchgesetzt zu haben: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002. Vgl. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991 (engl. 1973); daran sind meine Einteilungen der Narrative angelehnt.

7 Johannes R. Bechers Nationalhymne der DDR war natürlich für einen ganz anderen Kontext bestimmt, lässt sich aber sinnvoll auf den ganzen Kontinent beziehen.

8 Das für Becher Gesagte gilt auch für Ludwig Erhards (Wahl-)Kampfparole der 1950er-Jahre (sein Buchtitel: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957).

9 Sie wurde zuerst 1948/49 von Kurt Schumacher als normativer Anspruch entwickelt, dann von Konrad Adenauer gegenüber dem „Osten“ in Deutschland und Europa in ganz ähnlicher Funktion übernommen.

10 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (engl. 1994), Tb.-Ausg. Frankfurt a.M. 1998; vgl. die ähnliche Titeldiagnose der Neugeburt des Phönix von Walter Z. Laqueur, Europa aus der Asche. Geschichte seit 1945, München 1970 (die erweiterte Neuausgabe reichte bis in die damalige Gegenwart und dachte die Entwicklung bereits weit in die Zukunft hinein: Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945-1992, München 1992).

11 In Abwandlung des deutschen Titels eines Films von François Truffaut („Les quatre cent coups“, 1957/58): „Sie küssten und sie schlugen ihn“.

12 Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999; andere Autoren „kleinerer Länder“ betonen diesen peripheren Blick aus ganz unterschiedlichen Winkeln.

13 Nach dem Sachbuch von Dennis Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1974.

14 Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen [erscheint im Frühjahr 2004 als Sonderheft 20 von Geschichte und Gesellschaft], darin z.B.: Martin Sabrow, Herrscherlob als historiographische Herausforderung. Zeitgeschichte in der DDR; Detlev Mares, Too Many Nazis? Zeitgeschichte in Großbritannien.

15 Darauf scheint mir das Buch von Konrad H. Jarausch/Michael Geyer, Shattered Past. Reconstructing German Histories, Princeton 2003, hinauszulaufen. Meine folgenden Ausführungen stützen sich auf die Einleitung von Jarausch/Sabrow, Die historische Meistererzählung (Anm. 6), S. 9-32, Zitate S. 17, S. 18.

16 Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003; die europäische Ebene fordert darin am deutlichsten ein: Christoph Kleßmann, Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung, S. 240-263 (S. 256ff.: Europäische Zeitgeschichte als Problem).

17 Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, Bochum 2001 (dabei fügt er eher additiv von Supranationalität über Gender bis zur Globalisierung neue Ebenen hinzu).

18 Universität zu Köln, Philosophische Fakultät, Zentrum für Vergleichende Europäische Studien, Sprecher: Hans-Peter Ullmann/Margit Szöllösi-Janze (http://www.zeus.uni-koeln.de/index.html). Identitätsfiktion: Blick von außen, aber vor allem Konstruktion und Tradition von Gemeinsamkeiten und Ausgrenzung; Integration: u.a. Vergleich sektoraler Gemeinsamkeiten im inter- und transnationalen Austausch; Internationalisierung: u.a. Wahrnehmung und Strukturen der Gemeinsamkeiten im Vergleich zu anderen Weltregionen.

19 Dies geht wohl auf eine französische nationale Unterscheidung des 19. Jahrhunderts zurück und wird für Europa im gründlichen Problemaufriss von Hartmut Kaelble thematisiert: Europabewußtsein, Gesellschaft und Geschichte. Forschungsstand und Forschungschancen, in: Rainer Hudemann/Hartmut Kaelble/Klaus Schwabe (Hg.), Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert: Bewußtsein und Institutionen, München 1995, S. 1-29, hier S. 5ff., S. 13ff.

20 Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1998, 6. Aufl. 2003; ders./Nils Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003; Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

21 Z.B. mit einer Verknüpfung normativer Merkmale, historischer Längsschnitte und aktueller Politik: Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München 2003.

22 Maria Todorova, Imagining the Balkans, London u.a. 1997 (dt. mit charakteristischer Zuspitzung: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999).

23 Vgl. die Fragen nach diesen (Teil-)Identitäten bei Gerald Stourzh (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtswissenschaft, Wien 2002. Geir Lundestad, East, West, North, South. Major Developments in International Politics 1945-1990, Oslo 2001 (und öfter), benutzte diese Kategorien in einer der besten Darstellungen internationaler Politik.

24 Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001; vgl. ders., Die Komponenten der historischen Europäistik, in: Stourzh, Annäherungen (Anm. 23), S. 119-140.

25 Christoph Conrad (Hg.), Mental Maps, Heft 3 von Geschichte und Gesellschaft 28 (2002).

26 Hans Lemberg (Hg.), Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000; Herder-Institut (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg 2002.

27 Der Prozess einer Auflösung Jugoslawiens hatte weniger mit dem Ende des sowjetischen Imperiums zu tun als mit den Nachfolgeproblemen der Herrschaft Titos, der jedoch eine spezifische Form des Sozialismus als gesellschaftliche Integrationsklammer geschaffen hatte.

28 Zu einem geografischen Europa kann Israel - am Rande Asiens, nahe Afrika - nicht gut gehören. Aber es gibt einige Merkmale, die dafür sprechen, diesen Staat auch Europa zuzurechnen.

29 Jörg Baberowski, Das Ende Osteuropas und das Fach Osteuropäische Geschichte, in: Neue Zürcher Zeitung, 13./14.11.1999, S. 57, zit. n. Andreas Kappeler, Die Bedeutung der Geschichte Osteuropas für ein gesamteuropäisches Geschichtsverständnis, in: Stourzh, Annäherungen (Anm. 23), S. 43-55, hier S. 43.

30 Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 - Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt a.M. 2002.

31 Jost Dülffer, Europäische Integration zwischen integrativer und dialektischer Betrachtungsweise, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 521-543, hier S. 543.

32 Vgl. den Überblick: Jost Dülffer, Der Niedergang Europas im Zeitalter der Gewalt: Das 20. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.), „Europäische Geschichte“ als historiographisches Problem, Mainz 1997, S. 105-128 (wieder abgedruckt in: Jost Dülffer, Im Zeichen der Gewalt, Köln 2003); ich lehne mich hier und auch sonst an einige dort vertretene Positionen an.

33 <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-293> (Bericht von Martin Aust, 24.9.2003).

34 Exemplarisch: Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.

35 Jürgen Kocka, Der Blick über den Tellerrand fehlt. DDR-Forschung - weitgehend isoliert und zumeist um sich selbst kreisend, in: Frankfurter Rundschau, 22.8.2003, S. 7 (Rede zum 75. Geburtstag von Hermann Weber, auch in: Deutschland Archiv 36 [2003], S. 764-769).

36 Immerhin: Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW. Strukturen und handelspolitische Strategien 1963-1976, Köln 2000.

37 Erste Ansätze durch umfängliche Quellenpublikationen zum Politischen Komitee des Warschauer Paktes mit Einleitungen von Csaba Békés bzw. Vojtech Mastny im Parallel History Project: <http://www.php.isn.ethz.ch>. 

38 Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949-1961, Köln 2001; ders., Die Berlinkrise 1958 bis 1963: Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995; Douglas Selvage, The Warsaw Pact and Nuclear Nonproliferation 1963-1965, in: Cold War International History Papers No. 32 (April 2001), online unter URL: <https://www.wilsoncenter.org/publication/the-warsaw-pact-and-nuclear-nonproliferation-1963-1965>; Hope M. Harrison, Driving the Soviets up the Wall: Soviet-East German Relations 1953-1961, Princeton 2003.

39 Anne Deighton/Alan S. Milward (Hg.), Widening, Deepening and Acceleration. The European Economic Community 1957-1963, Baden-Baden 1999. (Der analytische Titel steht für eine ganze Forschungsrichtung, welche den genannten Prozess in den 1960er-Jahren, aber auch in der Gegenwart ausmacht.)

40 Wilfried Loth/Wolfgang Wessels (Hg.), Theorien europäischer Integration, Opladen 2001 (mit der Sicht mehrerer Disziplinen).

41 Andrew Moravcsik, The Choice for Europe: Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca 1998.

42 Guido Thiemeyer, Supranationalität als Novum in der Geschichte der internationalen Politik der fünfziger Jahre, in: Journal of European Integration History 4 (1998) H. 2, S. 5-21; Heinrich August Winkler/Hartmut Kaelble (Hg.), Nationalismus - Nationalitäten - Supranationalismus, Stuttgart 1993.

43 Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hg.), Europäische Integration, Opladen 1996; Wolfgang Wessels, Die Öffnung des Staates. Modelle und Wirklichkeit grenzüberschreitender Verwaltungspraxis, Opladen 2000.

44 Stephan Hobe, Europarecht. Ein Lehrbuch, Köln 2002; ders., Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung, in: Europarecht 38 (2003), S. 1-17. Der Begriff ist mehrfach und schulebildend in den 1990er-Jahren von Jan Weiler eingeführt worden; vgl. Markus Jachtenfuchs, Die Konstruktion Europas. Verfassungsideen und institutionelle Entwicklung, Baden-Baden 2002.

45 Walther Lipgens, Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945-1950. Erster Teil: 1945-1947, Stuttgart 1977 (weitere Bände nicht erschienen); Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992; jüngst national vertiefend und in einer offiziösen Reihe: ders., The Rise and Fall of a National Strategy 1945-1963, London 2002. Zur Synthese vgl. etwa Loth/Wessels, Theorien europäischer Integration (Anm. 40).

46 Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999 (bes. S. 79-92: Eine besondere Zielsetzung: der historische Zivilisationsvergleich); Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1996 (bes. die Einleitung der Herausgeber, S. 9-46).

47 Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 7, 1 und 2: Europa im Zeitalter der Weltmächte, Stuttgart 1979.

48 Wolfram Fischer (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987. Dem ist an die Seite zu stellen: Gerold Ambrosius/William H. Hubbard, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, München 1986.

49 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. überarb. u. erw. Ausg. München 1991; vgl. auch Franz-Xaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt a.M. 2003; frühe Ansätze: Ernest Zahn, Soziologie der Prosperität, Köln 1960.

50 Hudemann/Kaelble/Schwabe, Europa im Blick der Historiker (Anm. 19); Hartmut Kaelble, Auf dem Wege zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, München 1987; ders., Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991; ders., Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983; ders., Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992; Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrundert), Frankfurt a.M. 1997.

51 Hartmut Kaelble, Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart 2001.

52 Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt a.M. 2000, S. 13-40, hier S. 21.

53 Hartmut Kaelble/Christoph Conrad/Philipp Ther, Ein Zentrum für die Vergleichende Geschichte Europas, online unter <...> [Anm. der Red.: Link nicht mehr verfügbar]; vgl. den kritischen Beitrag von Dieter Rucht, Zivilgesellschaft als regulative Idee und Wirklichkeit, online unter URL: <https://www.wzb.eu/sites/default/files/zkd/zcm/rucht01_zivilgesesellschaft.pdf> (Vortrag vom 20.10.2001).

54 Acht Monografien sind in einer neuen Reihe „Synthesen“ bis 2008 geplant: <http://web.fu-berlin.de/bkvge/>.

55 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984-1992; Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001; Mario Isnenghi (Hg.), I luoghi della memoria, 3 Bde., Rom/Bari 1987/97; Moritz Csáky (Hg.), Orte des Gedächtnisses, Wien 2000; Pim den Boer/Willem Frijhoff (Hg.), Lieux de mémoire et identités nationales, Amsterdam 1993.

56 Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 3-100.

57 Jacques Le Rider/Moritz Csáky/Monika Sommer (Hg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck 2002.

58 Diesen letzten Satz habe ich zuerst formuliert in: Jost Dülffer, Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur - Kein Ende der Geschichte, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“, Hamburg 1996, S. 289-312, hier S. 310. Als komparative Studie vgl. aber Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation in Western Europe 1945-1965. Patriotic Memory and National Recovery, Cambridge 2000.

59 So heißt es in einem von Hans-Henning Hahn und Eva Hahn initiierten Aufruf vom 10.8.2003 gegen ein (deutsch geführtes) Zentrum (<http://www.vertreibungszentrum.de>): „Die große Gefahr, die dieses Ansinnen in sich birgt, besteht in einer staatlich sanktionierten Umdeutung der Vergangenheit, ja einer Revision der Geschichte und der Torpedierung eines auf europäischen Dialog angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurses.“

60 Christoph Kleßmann, Zeitgeschichte in Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Stuttgart 1998, S. 38.

61 Ute Frevert, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003 (Frevert gibt selbst keine teleologischen, sondern sehr differenzierte und abwägende Antworten).

62 Hans-Otto Mühleisen, Europa vermitteln heißt Werte vermitteln, in: Jutta Limbach (Hg.), „Wie und wozu lernen wir, europäisch zu denken?“, St. Ingbert 2001, S. 111-142.

63 Zuletzt in geradezu geschichtspolitischer und identitätsstiftender Inszenierung im Deutschen Historischen Museum in Berlin: „Idee Europa. Entwürfe zum ‚Ewigen Frieden‘. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union“ (25. Mai - 25. August 2003), Katalog: Berlin 2003, Website: <http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/idee-europa/>.

64 Frevert, Eurovisionen (Anm. 61), S. 26.

65 Philipp Ther, Beyond the Nation: The Relational Basis of a Comparative European History of Germany and Europe, in: Central European History 36 (2003), S. 45-73.

66 Vgl. den Überblick bei Attila Pók/Jörn Rüsen/Jutta Scherrer (Hg.), European History: Challenge for a Common Future, Hamburg 2001 (Literaturbericht Bodo von Borries mit z.T. scharfen Urteilen, S. 22-44); Stuart Woolf, Europe and its Historians, in: Contemporary European History 12 (2003), S. 323-337 (mit Kommentar und Gegenkommentar von Richard Vinen und Stuart Woolff, ebd., S. 338-344). In den letzten 30 Jahren wurde mindestens ein Dutzend auf Europa bezogene Fachzeitschriften gegründet; die jüngste ist das Journal of Modern European History (ab 2003 im Verlag C.H. Beck). Vgl. auch allgemein meinen Literaturbericht: Dülffer, Europäische Integration (Anm. 31).

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