Charisma und Volksgemeinschaft

Anmerkungen

Zu den in der Geschichtswissenschaft geläufigen Aussagen gehört, dass Hitler ein charismatischer Politiker gewesen sei - allerdings verbirgt sich dahinter, trotz des stets selbstverständlichen Bezugs auf Max Weber, häufig nicht mehr als eine Umschreibung des dämonischen Verführers, dem die Massen willenlos, als bloße Opfer, erlegen seien. Hans-Ulrich Wehler hingegen nimmt Webers Forderung ernst, Charisma nicht als göttliche Gnadengabe, sondern als soziale Beziehung zu untersuchen. Damit rücken weniger die Propaganda und Inszenierung des Charismatikers als vielmehr die Erwartungen und Hoffnungen derjenigen, die an Hitler geglaubt und das NS-Regime unterstützt haben, in den Mittelpunkt - anders als Wehlers Kritiker Ludolf Herbst annimmt, der Charisma unverdrossen für eine Propagandatechnik hält.1 Was bislang eher Ausgangsüberlegung denn durchgehaltene Reflexionsebene blieb, wird nun bei Wehler zum roten Faden der Darstellung.

Es geht mir im Folgenden nicht darum, eine Gesamtschau dieses vierten Bandes der „monumentalen deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (Hans Mommsen) zu wagen, der die Zeit vom Beginn der Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten 1949 umfasst. Ich möchte mich vielmehr auf den Nationalsozialismus und speziell auf zwei theoretische Aspekte beschränken, nämlich die Frage der „Volksgemeinschaft“ und das Modell charismatischer Herrschaft.

Die große Stärke von Wehlers ausgreifender Gesellschaftsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert besteht darin, dass sie die langen Entwicklungslinien der deutschen Gesellschaft und damit auch die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus kenntlich zu machen vermag. All diese Prozesse, gemeinhin unter dem Begriff Modernisierung zusammengefasst, haben die sozialen Strukturen grundlegend transformiert, die kulturellen Wertvorstellungen und politischen Ordnungen extrem herausgefordert und bis zum Zerreißen gespannt. Während die sozialmoralischen Milieus der bisherigen politischen Strömungen aus dem 19. Jahrhundert (Liberalismus, Konservatismus, Katholizismus und Sozialismus) brüchig wurden, konnte die NSDAP sich als junge, klassenübergreifende „Volkspartei“ präsentieren. Hitler zog das Charisma eines „Führers“ des gesamten Volkes auf sich, der imstande war, die Wünsche nach Einheit und Heil mit dem Versprechen einer künftigen „Volksgemeinschaft“ zu bündeln.

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Wehler legt überzeugend die sozialgeschichtliche Basis der „Volksgemeinschaft“ in zweierlei Hinsicht dar: Er erläutert sowohl die unabgegoltenen sozialen Spannungen, die in einer „Volksgemeinschaft“ aufzuheben die Hoffnung zahlreicher Menschen war, als auch die realen Veränderungen in der NS-Gesellschaft, die zwar die sozialen Ungleichheiten keineswegs nivellierten, aber die Erwartung wecken konnten, dass die alten verkrusteten Strukturen aufbrachen und eine aufstiegs- und konsumorientierte meritokratische „Leistungsgemeinschaft“ entstehen würde. Dass der Begriff der „Volksgemeinschaft“ zentrale Bedeutung für den rasanten Aufstieg der Nationalsozialisten vor 1933 besaß und eines der wichtigsten Loyalitätselemente der deutschen Bevölkerung für die Zeit der NS-Herrschaft bildete, haben zuvor auch David Schoenbaum, Martin Broszat, Norbert Frei, Hans-Ulrich Thamer und vor allem Detlev Peukert gezeigt. Aber Wehlers prägnante und den Forschungsstand souve-rän beherrschende Gesellschaftsgeschichte erreicht für die Historiografie des Nationalsozialismus ein qualitatives Niveau, das künftigen Studien das Maß vorgeben wird.

Allerdings akzentuiert Wehler in erster Linie die Inklusion, das Einvernehmliche, Harmonisierende der „Volksgemeinschaft“ und differenziert kaum die semantische Vieldeutigkeit und damit politisch-praktische Dimension des Begriffs. „Volksgemeinschaft“ hatte bereits in der Weimarer Republik politische Konjunktur - nicht nur die NSDAP, sondern nahezu alle Parteien, selbst auf der Linken, benutzten dieses Schlagwort. Während der Begriff zum Beispiel bei den Sozialdemokraten einen klassenversöhnlerischen Sinn besaß, war die „Volksgemeinschaft“ auf der Rechten, insbesondere bei den Nationalsozialisten, vor allem durch die Grenzen, durch die Exklusion bestimmt. Nicht so sehr die Frage, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehöre, beschäftigte die Rechte, als vielmehr, wer nicht zu ihr gehören dürfe - allen voran die Juden.

Deshalb besaß der Antisemitismus für die praktische „Volksgemeinschaftspolitik“ des NS-Regimes einen zentralen Stellenwert. Die deutsche Gesellschaft in eine rassistische, aggressive Raub- und Eroberungsgemeinschaft zu verwandeln konnte nicht per „Führererlass“ allein erfolgen. Die Herstellung der „Volksgemeinschaft“ war ein politisch-praktischer und terroristischer Prozess,2 der die deutsche Gesellschaft nicht nur in sozialer, sondern auch in politisch-kultureller Hinsicht verändern sollte. Die Verfolgung der deutschen Juden als „Volksfeinde“ und ihr Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“ stellte für die nationalsozialistische Politik zugleich zentrales Ziel wie wesentliches Instrument dar.

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Hinter dem Begriff der „Volksgemeinschaft“ steht demnach weniger ein Herrschaftssystem als vielmehr transformierende Politik. Bezeichnenderweise hob Weber die große revolutionäre Macht des Charismas in traditional gebundenen Epochen hervor und betonte, dass es sich um eine typische Anfangserscheinung religiöser oder politischer Herrschaften handle, die aber den Gewalten des Alltags weichen müsse, sobald die Herrschaft gesichert und, „vor allem, sobald sie Massencharakter angenommen“ habe (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 147). Webers intensive Überlegungen zur „Veralltäglichung des Charismas“ umkreisen ausschließlich das Problem, wie charismatische Herrschaft aus sich selbst heraus das Problem der Nachfolge, der Kontinuität, vor allem jedoch die notwendige Aufgabe rationalen Wirtschaftshandelns bewältigen könne. Wie nun aber, wenn eine charismatisch strukturierte politische Bewegung wie der Nationalsozialismus auf eine bereits existierende moderne, industrialisierte, verrechtlichte und säkularisierte Gesellschaft samt bürokratisiertem Staat trifft? Und vor allem: Wie gehen „Veralltäglichung“ charismatischer Herrschaft mit tatsächlicher Radikalisierung des mittlerweile unangefochtenen NS-Regimes zum Massenmord zusammen?

Wehler betont zu Recht die revolutionäre Umgestaltung der Jahre 1933/34. Die Zerschlagung der Opposition, Aussetzung der Verfassung, Auflösung der Parteien und Gewerkschaften brachten jedoch noch nicht sämtliche staatlichen bzw. administrativen Strukturen zum Verschwinden, erst recht nicht die Rationalität wirtschaftlichen Handelns. Während für Weber eines der zentralen Merkmale der Außer-Alltäglichkeit charismatischer Herrschaft darin bestand, dass sie nur mäzenatische Schenkungen oder gewaltsames Beutemachen als Einkommensquelle kenne, galt im NS-Regime weiterhin das bürgerliche Vertragsrecht. Zwar herrschte, wie Wehler unterstreicht, der Primat der Politik, aber ohne ökonomische Binnenrationalität hätte zum Beispiel die geplante Dimension der Rüstungsproduktion nicht erreicht werden können. Selbst die desaströse Finanzierung der Aufrüstungswirtschaft besaß ein rationales imperialistisches Kalkül, dem zufolge die später zu erobernden Ressourcen, Bodenschätze, Industrieanlagen die Schulden wieder ausgleichen und die unterworfenen Staaten ihrerseits gezwungen werden sollten, zur Kriegsfinanzierung beizutragen.

Nicht charismatische Herrschaft allein wäre demnach das Explanandum, sondern die wechselseitige Spannung zwischen moderner Gesellschaftsverfassung und charismatischer Politik. Im Unterschied zur reinen charismatischen Herrschaft, die, will sie sich auf Dauer stellen, notwendigerweise nach „Veralltäglichung“ strebt, ist charismatische Politik, eingebunden in den Kontext bürgerlicher Rechtsbeziehungen und bürokratischer wie ökonomischer Rationalität, dagegen unentwegt darum bemüht, diese Zwänge aufzubrechen, fest-gelegte Verwaltungswege zu umgehen oder aufzuheben, neue Institutionen zu bilden - „Sonderstäbe“, wie Wehler sie nennt - und dem personalen, dezisionistischen Element Vorrang zu verschaffen. Wehler kritisiert mit guten Argumenten die ‚strukturalistische’ Gleichsetzung einer solchen intendierten Erosion mit Chaos, polykratischem Durcheinander und Ämterwirrwarr, und er greift den anregenden Gedanken von M. Rainer Lepsius auf, Webers Konzept charismatischer Herrschaft mit Ernst Fraenkels Doppelstaatstheorem zu verbinden, ohne diesen Vorschlag jedoch auszuschöpfen.

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Denn statt die interessante Spur einer spezifischen „NS-Staatlichkeit“ weiter zu verfolgen, die in der „Volksgemeinschaft“ zu ihrem Begriff, aber noch nicht zu ihrer Analyse gelangt wäre, engt Wehler seinen ursprünglich öffnenden Gedankengang wieder ein und kehrt als Erklärung der Radikalisierung des Regimes, wie die meisten Rezensenten des Buches kritisieren, zu einer „ausgeprägten Hitler-zentristischen Interpretation“ zurück (Hans Mommsen). Las-sen sich die intermediären Instanzen oder „Sonderstäbe“ so direkt zum charismatischen Führer ‚durchschalten’? Und wie steht es mit den rationalisierten Bürokratien, die dem Mord an den europäischen Juden doch ebenfalls tatkräftig zugearbeitet haben? Wehler unterschätzt meines Erachtens die politisch-kulturellen Veränderungen, die durch die Erosion des Rechts, das Durchbrechen normativer Grenzen und einen von der Regimespitze geförderten erb- und rassenbiologischen Utilitarismus bewirkt werden. Etliche Funktionseliten, die ihren Tatendrang stets durch Gesetze, bürokratische Gängelei und moralische „Humanitätsduselei“ eingeengt glaubten, sahen sich nun in der Lage, ihre monströsen Pläne zu realisieren. Endlich wähnte sich der Philosoph an der Macht, der Architekt am Entwurf der Welthauptstadt, der Arzt in der Rolle des Gestalters menschlichen Lebens, der Demograph als Völkerordner oder der Theologe als Religionsstifter. Das Projekt, nicht nur Deutschland „rassisch“ neu erstehen zu lassen, sondern ganz Europa völkisch neu zu ordnen, jene Faszination, nicht nur andere, schönere Welten zu entwerfen, sondern auch schreckliche Wirklichkeit werden zu lassen, hat Intellektuelle, Akademiker, Wissenschaftler scharenweise zu willigen Stützen des NS-Regimes werden lassen.

Hitler war zweifelsohne die absolut notwendige Legitimationsinstanz, ohne dessen obsessiven Antisemitismus die Radikalisierung des Regimes bis zum Völkermord wohl kaum hätte geschehen können. Aber die alleinige treibende Kraft war er keineswegs. Wie Ulrich Herbert3 und Hans Mommsen in ihren Rezensionen zu Wehlers Buch hervorheben, entstanden die Mordinitiativen in etlichen Institutionen des NS-Regimes, in Berlin wie in den Regionen und besetzten Gebieten - als „Lösung“ selbst geschaffener Probleme durch die „Beseitigung überflüssiger Esser“ oder „arbeitsunfähiger Ballastexistenzen“. Der millionenfache Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen zum Beispiel wurde von der Wehrmacht ausgeführt, nicht weil sie, wie Wehler schreibt, mit der Versorgungslogistik überfordert war, sondern im Gegenteil: Dieses Problem klar vor Augen, wurde der Tod von „zig Millionen Menschen“, wie es im bekannten Protokoll der Staatssekretäre vom Mai 1941 heißt, mit kaltem Kalkül in Kauf genommen, um die Angriffsarmee aus den besetzten Gebieten zu ernähren.

Das Engagement vieler Akteure, nicht bloß den Willen eines charismatischen Führers zu erfüllen oder „dem Führer entgegen[zu]arbeiten“ (Ian Ker-shaw), sondern selbstständig und eigenverantwortlich mörderische Entscheidungen zu treffen, weist über das Modell der charismatischen Herrschaft hinaus. Die Zerstörung der Rechtsstaates als normative Ordnung, die totalitären Sozialphantasien moderner Eliten und die utilitaristische Entgrenzung von Handlungsoptionen („Recht ist, was dem Volke nutzt“) in Verbindung mit der Legitimität begründenden Instanz des charismatischen Führers setzte eine Destruktivität frei, die bis zum Massenmord radikalisiert und nur noch von außen besiegt werden konnte. Wehlers Perspektive müsste also gedreht werden: vom „Führer“ auf die Akteure, vom Radikalismus des Charismatikers auf die Radikalität der „Gefolgschaft“, für die Hitler ein „Erlöser“ im doppelten Wortsinn war - nicht nur als Befreier aus der Not, sondern vor allem im Hinblick auf die lang erhoffte, nun mögliche Freiheit zur „Endlösung“.

Anmerkungen:

1 Ludolf Herbst, Hans-Ulrich Wehler, der Nationalsozialismus und die Sozialgeschichte [23.10.2003], online unter URL: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-046>.

2 So auch Hans Mommsen in seiner Rezension: Radikalnationalismus und Charisma, in: Neue Zürcher Zeitung, 1.11.2003, S. 46.

3 Wer hat Angst vorm starken Mann?, in: Süddeutsche Zeitung, 6.10.2003, Literaturbeilage, S. 32f.


 

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