3/2012: Antiliberales Europa

Aufsätze | Articles

Am Beispiel von Gustav Krukenberg (1888–1980), der zunächst in den 1920er-Jahren Sekretär des deutsch-französischen „Mayrisch-Komitees“ war, dann 1933 für kurze Zeit den Reichsrundfunk leitete und am Ende des Zweiten Weltkriegs zum „Inspekteur“ der französischen SS-Division „Charlemagne“ wurde, um schließlich in den 1960er-Jahren als führendes Mitglied des „Verbands der Heimkehrer“ für eine deutsch-französische Versöhnung im europäischen Rahmen einzutreten, werden drei verschiedene Typen von Verständigungs- und Europapolitik skizziert, die sich eher einer konservativ-autoritären als einer liberal-demokratischen Europa-Konzeption verdanken. Bei seiner regen Vortragstätigkeit vor allem während der 1960er-Jahre stützte sich Krukenberg auf ein christlich-abendländisches Geschichtsbild, das die Jahre 1933–1945 völlig ausblendete. Die Berufung auf „Europa“ konnte also in sehr unterschiedlichen politischen Konstellationen als verbindendes Stichwort dienen und ermöglichte ein erstaunliches Bewusstsein der Kontinuität.
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This article deals with the career of Gustav Krukenberg, who was first a secretary of the Franco-German ‘Mayrisch Committee’ in the 1920s, then headed German Radio in 1933, and became a supervisor of the French SS division ‘Charlemagne’ at the end of the war, before advocating Franco-German reconciliation as a leading member of the association of German Heimkehrer (repatriated former prisoners of war) in the 1960s. This article sketches three different types of European and rapprochement policy which owed more to a conservative and authoritarian conception of Europe than to a liberal and democratic one. Krukenberg held numerous lectures especially during the 1960s in which he drew on a Christian and occidental view of history which completely overlooked the period from 1933 to 1945. His appeal to ‘Europe’ functioned as a connecting element in very different political constellations and gave rise to an astonishing awareness of continuity.

Am Beispiel des Elsass verfolgt der Aufsatz das Spannungsverhältnis von Europa-Konzepten und regionaler Selbstverortung im 20. Jahrhundert. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den 1920er- und 1930er-Jahren als der entscheidenden strukturbildenden Periode regionaler Europa-Konzepte. Die damaligen Frontstellungen und Wahlverwandtschaften der Bezüge auf „Europa“, „Volkstum“ und die „deutsch-französische Verständigung“ blieben bis in die 1970er-Jahre prägend. Für die Zwischenkriegszeit ist die Unterscheidung zwischen „liberalen“ und „antiliberalen“ Konzepten zu problematisieren, da die regionalen Europa-Konzepte in den Zusammenhängen von Minderheitendiskussion und elsässischer Autonomiebewegung grundsätzlich ambivalent waren. Erst nach den Locarno-Verträgen (1925/26) zeichneten sich die antiliberalen Orientierungen eines „integralföderalistischen“ Europa-Konzepts deutlich ab. Der Aufsatz betont die Notwendigkeit, liberale und antiliberale Europa-Semantiken in gemeinsamen, längerfristigen Entwicklungsgeschichten zu untersuchen, um so auch die NS-Zeit stärker zu kontextualisieren.
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This article explores the tensions between conceptions of Europe and regional self-positioning in the twentieth century with reference to the example of Alsatia in the 1920s and 1930s, a decisive period in which regional conceptions of Europe emerged. The elective affinities and differences of opinion regarding references to ‘Europe’, ‘folklore’ and ‘Franco-German rapprochement’ continued well into the 1970s. In the interwar years, the distinction between ‘liberal’ and ‘antiliberal’ conceptions requires closer analysis because regional conceptions of Europe were fundamentally ambivalent in the context of debates about minorities and the Alsatian movement for autonomy. The antiliberal tendencies of an ‘integral federal’ notion of Europe became apparent only after the Locarno Treaties of 1925–26. This article shows that it is necessary to study the liberal and antiliberal semantics of Europe in combination and over the long term, and thus place National Socialism in its broader historical context.

Der polnische Antiliberalismus der 1920er- und 1930er-Jahre versteckte sich in den Formen des polnischen „Patriotismus“, des klassischen „Unabhängigkeitskämpfers“, in dem Wunsch, staatliche Souveränität durch Teilföderationen mit den Nachbarländern abzusichern. Politische Eliten im Polen der Zwischenkriegszeit haben keine Alternative dazu gesehen, mit Europa anders zu sprechen als aus der Position eines „starken“ Partners. Und diese Position glaubten sie nicht durch demokratische Reformen erreichen zu können, nicht durch einen liberalen Umgang mit den Minderheiten, nicht durch bilaterale oder transnationale Zusammenarbeit, sondern durch die Wiederbelebung der Idee der multinationalen Jagiellonischen Union. Sie war ihnen als „Vorstufe“ einer europäischen Integration genug. Näher erläutert werden zwei konkurrierende Varianten der antiliberalen Grundtendenz: Roman Dmowskis nationalistischer, pro-westlicher Entwurf einer mitteleuropäischen Föderation sowie Jozef Piłsudskis autoritärer Entwurf eines slawischen Großraums zwischen Deutschland und Russland.
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Polish antiliberalism of the 1920s and 1930s was latent in forms of political ‘patriotism’, in classical ‘independence fighters’, and in the desire to ensure state sovereignty by entering into partial federations with neighbouring countries. Political elites in Poland during the interwar years were convinced that there was no alternative than to enter into negotiations with Europe from the standpoint of a ‘strong’ partner. They were convinced that this standpoint could be achieved not by carrying out democratic reforms, not by adopting a liberal approach towards minorities, not by means of bilateral or transnational cooperation, but by reviving the idea of the multinational Jagiellonian Dynasty. For them, this sufficed as a ‘precursor’ of a European Union. The article explains in detail two competing varieties of antiliberalism, that is, Roman Dmowski’s nationalistic, pro-western model of a central European federation, and Jozef Piłsudski’s authoritarian model of a greater Slavic area stretching from Germany to Russia.

Debatte | Debate

  • Thomas Sandkühler

    Europa und der Nationalsozialismus

    Ideologie, Währungspolitik, Massengewalt

  • Robert Grunert

    Autoritärer Staatenbund oder nationalsozialistischer Großraum?

    „Europa“ in der Ideenwelt faschistischer Bewegungen

  • Iris Schröder

    Europa im Zeichen des Hakenkreuzes: Historiographische Perspektiven im Wandel

    Ein Kommentar

Quellen | Sources

  • Raimund Bauer

    „Anti-Europa“ oder „Gesetzmäßigkeiten des Finanzkapitals“?

    Zur Darstellung der NS-Europapläne in Quellensammlungen

  • Florian Greiner

    Der „Mitteleuropa“-Plan und das „Neue Europa“ der Nationalsozialisten in der englischen und amerikanischen Tagespresse

Besprechungen | Reviews

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